Alexander Dumas
Die Gräfin Charny
Alexander Dumas

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Siebenundfünfzigstes Kapitel

Am Abend dieses Schreckenstages befanden sich zwei Männer in einem Salon in der Straße St. Honoré. Die Schreie der Pikenmänner, die die öden und hellerleuchteten Straßen von Paris durchzogen und auf ihren hoch emporgehaltenen Waffen blutige Fetzen von Tüchern und Hemden trugen und in wilder Lust riefen: »Der Tyrann ist tot! hier ist sein Blut!« drangen bis zu ihnen herauf. Beide schwiegen. Der eine, schwarz gekleidet und den Kopf in beide Hände gestützt, saß an einem Tisch. Der andere, seiner Kleidung nach ein Landmann, ging mit starken Schritten auf und ab, sein Blick war düster, seine Stirn in Falten gezogen, seine Arme auf der Brust gekreuzt.

So oft der letztere an dem zweiten vorüberging, warf er ihm einen fragenden Blick zu.

Endlich schien der Mann, der in so düsterer Stimmung auf und ab wanderte, dieses Schweigens überdrüssig zu sein, er stand still, sah sein Gegenüber scharf an und sagte:

»Ich bin also ein Räuber, Citoyen Gilbert, weil ich für den Tod des Königs gestimmt habe?«

Der schwarzgekleidete Mann richtete sich auf, schüttelte den Kopf und reichte dem andern die Hand.

»Nein, Billot«, erwiderte er. »Sie sind ebensowenig ein Räuber wie ich ein Aristokrat bin; Sie haben nach Ihrem Gewissen gestimmt, und ich nach dem meinigen, nur mit dem Unterschiede, daß ich für das Leben, und Sie für den Tod gestimmt haben. Aber es ist doch entsetzlich, einem Menschen zu nehmen, was ihm keine Gewalt der Erde wiedergeben kann!«

»Also nach Ihrer Meinung,« entgegnete Billot, »ist der Despotismus unverletzlich, die Freiheit ein Aufruhr? Was bleibt damit dem Volke? Das Recht, zu dienen und zu gehorchen! . . . Und das sagen Sie, Herr Gilbert, der Zögling Jean Jacques Rousseaus, der Bürger der Vereinigten Staaten!«

»Nein, Billot, das sage ich nicht, denn das wäre ein Frevel an der Nation.«

»Herr Gilbert,« sagte der Landwirt, »ich will Ihnen sagen, was ich mit meinem plumpen gesunden Verstand denke, und erlaube Ihnen, mir mit allem Scharfsinn, mit aller Gelehrsamkeit darauf zu antworten. – Geben Sie zu, daß ein Volk, das von herrschsüchtigen Priestern und Despoten unterdrückt wird, das Recht hat, sich gegen solche Bedrückung aufzulehnen und für seine Freiheit zu kämpfen?«

»Allerdings.«

»Dann gestehen Sie ihm auch das Recht zu, die Resultate seines Sieges zu sichern?«

»Das versteht sich.«

»Nehmen Sie sich in acht, es wird uns weit führen . . .«

»Ich werde Ihnen folgen, wohin Sie mich führen, Billot, und Ihnen durch den einzigen Ausspruch antworten: Mensch, du hast nicht das Recht, deinem Nächsten das Leben zu nehmen!«

»Aber der König ist nicht mein Nächster,« erwiderte Billot, sich ereifernd, »er ist mein Feind . . . Ich erinnere mich an eine Stelle der Bibel, aus der mir meine arme Frau vorzulesen pflegte: Samuel sagte zu den Israeliten, die einen König verlangten . . .«

»Ich weiß wohl, Billot; aber Samuel rettete Saul, er nahm ihm nicht das Leben.«

»Oh! ich weiß wohl, daß ich verloren bin, wenn ich mich mit Ihnen in die Gelehrsamkeit vertiefe. Ich frage Sie daher ganz einfach: hatten wir das Recht, die Bastille zu nehmen?«

»Ja.«

»Hatten wir das Recht, die uns verweigerte freie Beratung zu fordern?«

»Ja.«

»Hatten wir das Recht, den König von Versailles nach Paris zu führen, als er die konstituierende Versammlung durch das Fest der Leibgarde und Zusammenziehung von Truppen einschüchtern wollte?«

»Ja.«

»Hatten wir das Recht, den König in Varennes anzuhalten, als er fliehen und zum Feinde übergehen wollte?«

»Ja.«

»Hatten wir das Recht, uns am 20. Juni zu erheben, als der König, nachdem er die Verfassung von 1791 beschworen, mit dem Auslande unterhandelte?«

»Ja.«

»Hatten wir das Recht, am 10. August die Tuilerien zu nehmen und den Thron für erledigt zu erklären, als er die Sanktion der verfassungsmäßig gegebenen Gesetze verweigerte? Hatten wir das Recht, ihn vor den Nationalkonvent zu stellen, als er trotz seiner Gefangenschaft im Temple nicht aufhörte, gegen die Freiheit der Nation zu konspirieren?«

»Ja, das leugne ich nicht.«

»Dann hatte der Konvent auch das Recht, ihn zu verurteilen! . . .«

»Ja, zur Verbannung, zur Landesverweisung, zu lebenslänglicher Haft . . . zu allem, nur nicht zum Tode.«

»Warum nicht zum Tode?«

»Weil er nicht in sträflicher Absicht gehandelt hatte. Sie beurteilen seine Handlungsweise vom Gesichtspunkte des Volkes, lieber Billot; er hat die Verhältnisse vom Gesichtspunkte des Königtums beurteilt und demgemäß gehandelt. Er war kein Tyrann, kein Bedrücker des Volkes, kein Mitschuldiger der Aristokraten, kein Feind der Freiheit.«

»Sie beurteilen ihn also vom Gesichtspunkte des Königtums?«

»Nein, denn vom Gesichtspunkte des Königtums würde ich ihn freisprechen.«

»Aber Sie haben ja für das Leben gestimmt . . .«

»Allerdings, aber mit Verbannung oder lebenslänglicher Haft . . . Glauben Sie mir, Billot, ich habe ihn noch parteiischer beurteilt, als ich eigentlich wollte; ich bin ein Sohn des Volkes, und die Wage, die ich in der Hand hielt, neigte sich dem Volke zu. Sie haben ihn nur aus der Ferne gesehen, Sie haben ihn nicht kennengelernt wie ich. Die Königliche Gewalt, die ihm nach der Verfassung zukam, befriedigte ihn nicht, er schwankte zwischen der Nationalversammlung, die ihn noch zu mächtig fand, und einer ehrgeizigen Königin, zwischen dem gedemütigten, erbitterten Adel und dem unversöhnlichen Klerus . . . Nein, Billot, je mehr Kämpfe, desto mehr Siege. Sie sagen, der König sei Ihr Feind gewesen; der Feind war besiegt, und einen Feind mit kaltem Blute morden, heißt keineswegs ihn verurteilen; es ist eine Sache, die den ehrwürdigen Namen der Justiz keineswegs verdient, und zugleich eine Unklugheit, denn das Königtum, das ihr zu vernichten wähnt, wird durch diesen Akt der Rache mit der Glorie des Märtyrertums umgeben . . . Nehmt euch in acht! Ihr habt zu viel, und doch nicht genug getan! Karl I. wurde hingerichtet, und Karl II. wurde König; Jakob II. wurde verbannt, und seine Söhne sind im Exil gestorben. Die menschliche Natur ist voll Mitgefühl, und wir haben uns den bei weitem größten Teil der Menschen, der die Revolutionen mit dem Herzen beurteilt, für fünfzig, vielleicht für hundert Jahre entfremdet. Glauben Sie mir, Freund, gerade die Republikaner haben am meisten Ursache, den Tod Ludwigs XVI. zu beklagen, denn sein Blut wird über sie kommen und die Republik ertränken.

»Es liegt etwas Wahres in deinen Worten, Gilbert«, antwortete eine Stimme in der Tür.

Die beiden Männer stutzten und sahen sich um.

»Cagliostro!« riefen sie zugleich.

»Mein Gott! ja,« antwortete der Eintretende; »aber es ist auch an Billots Worten etwas Wahres.«

»Das ist eben das Unglück«, erwiderte Gilbert; »die Sache, die wir vertreten, hat zwei Seiten, und jeder, der sie von seiner Seite betrachtet, kann sagen: ich habe recht. Sagen Sie uns Ihre Meinung, Meister.«

»Ihr habt soeben euer Urteil über die fragliche Angelegenheit abgegeben«, sagte Cagliostro; »ich will über euer Urteil ein Urteil fällen. Habt ihr den König verurteilt, so hattet ihr recht; habt ihr dagegen den Menschen verurteilt, so hattet ihr unrecht.«

»Ich verstehe nicht«, sagte Billot.

»Hören Sie nur zu, ich errate, was er meint«, sagte Gilbert.

»Wollte man ihm durchaus das Leben nehmen,« fuhr Cagliostro fort, »so hätte es geschehen müssen, als er in Versailles oder in den Tuilerien, von seinen Höflingen und Schweizern umgeben, als er dem Volke noch unbekannt war; es hätte am 5. Oktober oder am 10. August geschehen müssen. Aber nachdem er fünf Monate im Temple zugebracht hatte, nachdem sein Privatleben allgemein bekannt geworden war, nachdem er vor Leuten aus dem Volke gegessen, getrunken, geschlafen hatte und gleichsam der Kamerad des Arbeiters geworden war, hätte man ihn als Menschen behandeln, das heißt, ihn verbannen oder einsperren sollen.«

»Ich verstand Sie nicht,« sagte Billot zu dem Doktor Gilbert, »aber jetzt verstehe ich den Citoyen Cagliostro.«

»Es ist ganz klar. Man weiß jetzt, wie ehrenwert, wie sanft und gutmütig er in seinem Privatleben war, man wird jetzt erzählen, wie zärtlich er als Vater, wie vortrefflich er als Gatte, wie gütig er als Gebieter war, man wird ihn bemitleiden und als ein schuldloses Opfer des Parteihasses hinstellen . . . Oh, die Dummköpfe! ich hätte ihnen mehr Einsicht und Klugheit zugetraut . . . So weit geht die Unklugheit der jetzigen Machthaber! Ist es doch so weit gekommen, daß ihn seine Gemahlin liebt! . . . Lieber Gilbert,« setzte Cagliostro lachend hinzu, »wer hätte am 14. Juli, am 5. und 6. Oktober, am 10. August gedacht, daß die Königin den König jemals lieben werde?«

»Oh! wenn ich das hätte ahnen können . . .« sagte Billot mit tiefem Schmerz.

»Was würden Sie dann getan haben?« fragte Eilbert.

»Was ich getan haben würde? Ich würde ihn entweder am 15. Juli oder am 6. Oktober oder 10. August getötet haben; es wäre mir sehr leicht gewesen.«

Gilbert verzieh ihm diese Worte, Cagliostro bewunderte sie.

»Aber Sie haben es nicht getan«, sagte der letztere nach einer kurzen Pause, »Sie, Billot, haben für den Tod, und Sie, Gilbert, für das Leben gestimmt?«

»Ja«, antworteten beide.

»Jetzt will ich Ihnen einen Rat geben . . . Sie, Gilbert, haben sich zum Mitglied des Konvents ernennen lassen, um eine Pflicht zu erfüllen; Sie, Billot, sind in den Konvent getreten, um Rache zu üben. Die Pflicht ist nun erfüllt, die Rache befriedigt, Sie haben hier nichts mehr zu tun; gehen Sie.«

Beide sahen Cagliostro an.

»Gehen Sie«, erwiderte er. »Sie sind keine Parteimänner, sondern selbständige Patrioten. Jetzt, da der König tot ist, werden sich die Parteien mit verdoppelter Erbitterung bekämpfen und vernichten. Welche Partei zuerst unterliegen wird, weiß ich nicht, aber ich weiß, daß eine nach der andern zugrunde gehen wird. Morgen, Gilbert, wird man Ihnen die Nachsicht und Milde, und übermorgen Ihre Strenge, Billot, zum Verbrechen anrechnen. Glauben Sie mir, in dem bevorstehenden Kampfe zwischen Haß, Furcht, Rache und Fanatismus werden sehr wenige rein bleiben; einige werden sich mit Kot, andere mit Blut besudeln . . . Folgt daher meiner Warnung, Freunde, und zieht euch zurück.«

»Aber was wird aus Frankreich werden?« entgegnete Gilbert.

»Jawohl,« setzte Billot hinzu, »das Vaterland hat Ansprüche an uns.«

»Frankreich ist materiell gerettet,« sagte Cagliostro; »der äußere Feind ist geschlagen, der innere Feind ist tot. Das Blutgerüst vom 21. Januar hat für die Gegenwart eine ungeheure Bedeutung und Gewalt, denn die Revolution muß nun unvermeidlich ihren Fortgang nehmen. Der Tod Ludwigs XVI. wird den Zorn der auswärtigen Mächte entflammen und der Republik die verzweifelte, übermenschliche Kraft der zum Tode verurteilten Nationen geben. Zieht euch in aller Stille zurück; denn bevor sie das Beil niederlegt, wird die Aristokratie enthauptet sein, bevor sie die dreifarbige Fahne niederlegt, wird Europa besiegt sein . . . Säumet nicht, Freunde und geht.«

»Gott ist mein Zeuge,« sagte Gilbert, »daß ich Frankreich gern verlassen werde, wenn uns die von Ihnen prophezeite Zukunft bevorsteht . . . Aber wohin sollen mir uns wenden?«

»Undankbarer!« eiferte Cagliostro, »denkst du denn nicht an Amerika, dein zweites Vaterland? Hast du sie vergessen, die herrlichen Landseen, die Urwälder, die unermeßlichen Prärien? Fühlst du nach den furchtbaren Stürmen und Ungewittern, die jetzt die Gesellschaft erschüttern, nicht das Bedürfnis der Ruhe in der Natur?«

»Werden Sie mir folgen, Billot?« fragte Gilbert aufstehend.

»Werden Sie mir verzeihen?« fragte Billot, auf den Doktor zutretend.

Die beiden Männer sanken einander in die Arme.

»Gut,« sagte Gilbert, »wir reisen ab.«

»Wann?« fragte Cagliostro.

»In acht Tagen, denke ich.«

Cagliostro schüttelte den Kopf.

»Nein,« sagte er, »Sie müssen heute abend abreisen.«

»Warum?«

»Weil ich morgen abreise.«

»So, wohin denn?«

»Ihr werdet es einst erfahren, Freunde.«

»Aber wie sollen wir fortkommen?«

»Der ›Franklin‹ segelt in sechsunddreißig Stunden nach Amerika ab.«

»Aber wir haben keine Pässe?«

»Hier sind Pässe.«

»Und mein Sohn . . .«

Cagliostro wandte sich ab und öffnete die Tür.

»Kommen Sie herein, Sebastian,« sagte er, »Ihr Vater ruft Sie.«

Sebastian kam und warf sich in die Arme seines Vaters.

Billot konnte einen tiefen Seufzer nicht unterdrücken.

»Es fehlt uns nichts mehr als eine Postchaise«, sagte Gilbert.

»Mein Wagen hält vor der Tür.«

Gilbert ging an einen Sekretär, in dem sich die gemeinsame Kasse, etwa tausend Louisdor enthaltend, befand und winkte Billot, seinen Anteil davon zu nehmen.

»Haben wir genug?« fragte Billot.

»Wir haben mehr, als wir brauchen, um eine Provinz zu kaufen.«

Billot sah sich verlegen im Zimmer um.

»Was suchen Sie, Freund?« fragte Gilbert.

»Ich suche etwas, das mir ganz unnütz sein würde, wenn ich es fände, da ich nicht schreiben kann.«

Gilbert lächelte und nahm eine Feder.

»Diktieren Sie«, sagte er.

»Ich möchte von Pitou Abschied nehmen«, sagte Billot.

»Ich will es in Ihrem Namen tun.«

Er setzte sich nieder und schrieb. Als er fertig war, fragte ihn Billot:

»Was haben Sie geschrieben?«

Gilbert las:

»Lieber Pitou!

»Wir verlassen Frankreich, Billot, Sebastian und ich, und wir alle drei sagen Ihnen ein herzliches Lebewohl.

»Da Sie Billots Meierhof verwalten, werden Sie wohl alles haben, was Sie brauchen. – Wahrscheinlich werden wir Ihnen bald schreiben und Sie einladen, uns zu folgen.

Ihr Freund Gilbert.«

»Ist das alles?« fragte Billot.

»Es ist noch eine Nachschrift.«

»Wie lautet sie?«

Gilbert sah den Landwirt scharf an und sagte:

»Billot empfiehlt Ihnen Katharina.«

Billot dankte ihm und schloß ihn voll Freude in seine Arme.

Zehn Minuten nachher war die Postchaise, in der Gilbert, Sebastian und Billot ihre Reise antraten, auf dem Wege nach Le Havre.

 


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