Alexander Dumas
Die Gräfin Charny
Alexander Dumas

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Neunzehntes Kapitel

Auf dem Meierhof Billots schien alles ruhig und heiter. In der Frühe gegen fünf Uhr wurde das Hoftor regelmäßig geöffnet; der Säemann begab sich zu Fuß, der Ackerknecht zu Pferde auf das Feld; der Kuhhirt trieb die Herde auf die Weide, und zuletzt kam Billot, die Seele dieser Welt im kleinen, auf seinem kräftigen Pferd.

Aber Billot war nicht so ruhig, wie er schien. Er spähte in der Dunkelheit umher, ob kein ungebetener Gast in der Nähe des Meierhofs umherstreifte, er lauschte, ob nicht zwischen Katharinas Kammer und dem Weidengebüsch am Wege geheimnisvolle Signale gewechselt wurden. Er beobachtete den Erdboden genau, um leichte, kleine, aristokratische Fußstapfen zu suchen.

Billot war gegen seine Tochter wohl etwas freundlicher geworden, aber seine argwöhnischen Blicke entgingen ihr keineswegs; sie durchwachte manche lange Winternacht, und sie wußte in der Tat nicht, ob sie Isidors Rückkehr wünschen sollte.

Pitou war nach wie vor Katharinas Briefbote. Der letzte Brief war mit dem Poststempel »Paris« versehen. Da der Vicomte einmal in Paris war, so ließ sich vermuten, daß er bald nach Boursonne kommen werde.

Zu einer Stunde, wo Billot im Felde zu sein pflegte, ging Pitou zu Katharina.

Sie lächelte ihm schon von ferne zu.

»Du bist's, lieber Pitou?« sagte sie; »wie kommst du denn hierher?«

Pitou zeigte auf die um seine Hand gewundenen Schlingen.

»Ich kam heute auf den Gedanken, Jungfer Katharina, Euch ein paar recht zarte, fette Kaninchen zu bringen; ich bin recht früh fortgegangen, um Euch im Vorbeigehen zu besuchen, und mich zugleich nach Euerem Befinden zu erkundigen.«

»Nach meinem Befinden? Du bist sehr gütig, lieber Pitou.«

»Ihr habt mir etwas zu sagen, Jungfer Katharina?« fragte nach einer Pause Pitou, dem eine gewisse Unruhe in Katharinas Wesen auffiel.

»Ich? . . . Nein, nichts; du irrst dich, lieber Pitou«, antwortete sie mit unsicherer Stimme.

Pitou bezwang sich.

»Ich meine, Jungfer Katharina,« erwiderte er, »wenn Ihr etwas von mir wünscht, so dürft Ihr's nur sagen.«

»Lieber Pitou,« sagte sie, »du hast mir bewiesen, daß ich mich auf dich verlassen kann, und ich bin dir sehr dankbar dafür; aber für jetzt brauche ich deine Dienste nicht.«

Dann setzte sie leise hinzu:

»Es ist nicht einmal nötig, daß du in dieser Woche auf die Post gehst; in den nächsten Tagen werde ich keinen Brief bekommen.«

Pitou wollte eben antworten, daß er sich's wohl gedacht habe; aber er besann sich, er wollte vielleicht sehen, wie weit Katharinas Vertrauen gegen ihn gehen würde. Als sie aber hartnäckig schwieg, sagte er:

»Jungfer Katharina, habt Ihr wohl die Veränderung bemerkt, die mit Herrn Billot vorgegangen ist?«

Katharina erschrak, aber sie faßte sich schnell.

»So«, antwortete sie mit einer anderen Frage. »Du hast also etwas bemerkt?«

»Hört, Jungfer Katharina,« erwiderte Pitou kopfschüttelnd, »es wird gewiß ein Augenblick kommen, – wann? das weiß ich nicht, wo der, dem diese Veränderung zuzuschreiben ist, in eine sehr fatale Lage kommen wird . . . Ich sage es Euch, und Ihr könnt mir's glauben.«

Katharina erblaßte.

»Still!« sagte sie, »wir wollen von anderen Dingen oder gar nichts reden . . . Dort kommt mein Vater!«

Als Billot einen Mann unter Katharinas Fenster erblickte, hielt er an; aber er schien Pitou sogleich zu erkennen und setzte sein Pferd wieder in Trab.

Pitou ging ihm einige Schritte entgegen und begrüßte ihn mit dem Hut in der Hand.

»Aha! Du bist's, Pitou?« sagte Billot. »Willst du dich bei uns zu Gaste bitten?«

»Wenn Ihr mich einladet, so nehme ich's an.«

»Nun, so lade ich dich ein«, sagte der Pächter.

Pitou trat wieder ans Fenster.

»Habe ich recht geraten, Jungfer Katharina?« fragte er.

»Ja . . . Er sieht heute noch finsterer aus als sonst.«

Dann setzte sie leise hinzu:

»O mein Gott, sollte er wissen? . . .«

Katharina hatte sich nicht getäuscht; ihr Vater sah finsterer aus als je zuvor. Seine Tochter bot ihm, wie gewöhnlich, ihre blasse Wange zum Kuß, aber er berührte ihre Stirn nur leicht mit den Lippen und wandte sich dann schweigend von ihr ab.

»Ist das Essen fertig?« fragte er die Hausfrau.

»Ja, Vater Billot«, antwortete diese.

»Dann zu Tisch!« sagte er; »ich habe heute noch viel zu tun.« Und zu Pitou gewandt:

»Darf man wissen, was dich heute nach Pisseleux führt?«

»Ich wollte der Jungfer Katharina einen guten Bissen bringen; ich dachte, sie ist krank gewesen, und das zarte Kaninchenfleisch wird ihr wohl munden.«

»Ja, du hast recht,« sagte Billot, ihn unterbrechend, »denn du siehst, daß sie noch keinen Appetit hat.«

»Ich habe keinen Appetit, Vater,« sagte Katharina errötend, »weil ich erst eine große Schale Milch mit Brot gegessen hatte, als Pitou an meinem Fenster vorüberging und ich ihn rief.«

»Ich will gar nicht untersuchen, warum du keinen Appetit hast«, erwiderte Billot; »ich sage nur, was ich sehe . . .«

Sein Blick fiel in diesem Augenblick, wie zufällig, auf das Fenster, durch welches man den Hof übersehen konnte.

»Aha!« sagte er aufstehend, »da kommt jemand, der mich sprechen will.«

»Sieh, der Vater Clouis!« sagte Pitou, der gar nichts Erschreckliches in diesem Besuche sah; »er bringt Eure Doppelflinte wieder, Herr Billot.«

»Ja«, sagte Billot.

»Ich wünsche eine gesegnete Mahlzeit«, sagte Clouis.

»Guten Tag, Vater Clouis«, antwortete Billot; »Ihr seid ein Mann von Wort . . . ich danke Euch, jetzt setzt Euch und eßt mit uns.« Damit bot er dem Gast einen Stuhl.

Sein Platz war Katharina gegenüber, die ihn mit Angst und Schrecken ansah. »Ein delikates Glas Wein, Herr Billot«, sagte er; er glaubte sich als Gast verpflichtet, für die Unterhaltung zu sorgen, und fuhr fort:

»Ich habe gedacht: Ich will dem Vater Lajeunesse ins Gehege kommen und drüben einen Hasen schießen . . . Ich kann dann gleichzeitig sehen, wie ein mit Silber beschlagenes Gewehr die Kugel trägt . . . Gesagt, getan: ich gieße dreizehn Kugeln statt zwölf . . . und ich muß sagen, Eure Doppelflinte trägt die Kugel gut.«

»Ja, ich weiß es wohl,« antwortete Billot, »es ist ein gutes Gewehr.«

»Was, zwölf Kugeln?« fragte Pitou verwundert. »Es ist wohl irgendwo ein Scheibenschießen?«

»Nein«, antwortete Billot.

»Oh, jetzt kenne ich die Flinte«, fuhr Pitou fort.

»Aber, mein Gott!« rief Pitou erschrocken, »was fehlt Euch denn, Jungfer Katharina?«

»Mir? . . . Nichts!« sagte Katharina, die ihre halbgeschlossenen Augen aufschlug und sich aus ihrer fast liegenden Stellung mit einiger Mühe wieder aufrichtete.

»Katharina? . . . Was soll ihr denn fehlen?« sagte Billot, die Achseln zuckend.

»Dabei fällt mir etwas ein,« fuhr der alte Clouis fort, »wollt Ihr auf laufendes oder auf stillstehendes Wild schießen?«

»Das weiß ich noch nicht«, antwortete Billot; »ich kann nur sagen, daß ich auf den Anstand gehen will.«

»Ja, ja, ich verstehe«, sagte der alte Nimrod; »die wilden Schweine des Herzogs von Orleans gelüstet nach Euren Kartoffeln, und Ihr habt gedacht: wenn sie im Pökelfaß liegen, so fressen sie nicht mehr!«

»Für die wilden Schweine sind die Kugeln nicht bestimmt, ich will einen Wolf schießen«, erwiderte Billot.

Wenn Pitou einen Blick auf Katharina geworfen hätte, so würde er bemerkt haben, daß sie einer Ohnmacht nahe war.

»Einen Wolf wollt Ihr schießen?« sagte Pitou. »Es ist ja noch kein Schnee gefallen . . . das ist wirklich sonderbar!«

»Ja, ganz gewiß,« antwortete der Pächter, indem er zugleich Pitou und Katharina ansah, »der Schäfer hat heute morgen einen gesehen.«

»Wo denn?« fragte Pitou ganz arglos.

»Auf der Straße von Paris nach Boursonne, nahe am Walde von Yvors.«

»So!« sagte Pitou, der nun seinerseits Billot und Katharina ansah.

»Ja«, fuhr Billot mit derselben Ruhe fort; »man hatte ihn schon voriges Jahr bemerkt, und ich wußte es wohl . . . Eine Zeitlang glaubte man, er sei fortgegangen, um nicht wiederzukommen; aber er scheint wieder da zu sein, und ich glaube, daß er hier in der Nähe umherstreift . . . deshalb sagte ich dem Papa Clouis, er möge mir mein Gewehr putzen und ein Dutzend Kugeln gießen.«

Mehr vermochte Katharina nicht zu ertragen; sie stand auf und wankte der Tür zu.

Pitou, dem etwas bange wurde, stand ebenfalls auf und eilte der schönen Pächterstochter nach, um sie zu halten.

Billot warf den beiden einen zürnenden Blick zu; aber Pitous ehrliches Gesicht drückte ein zu aufrichtiges Erstaunen aus, um den Verdacht der Mitschuld zu erregen.

Billot kümmerte sich daher nicht länger um die beiden jungen Leute und fuhr fort:

»Ihr meint also, Papa Clouis, daß man sicher trifft, wenn man die Kugel in ein Stück Leder wickelt?«

Die Antwort auf diese Frage hörte Pitou nicht mehr; denn als er in die Küche trat, wo er Katharina einholte, sank sie ihm halb bewußtlos in die Arme.

»Mein Gott, was fehlt Euch denn?« fragte er ganz bestürzt.

»Oh, hast du denn nicht verstanden?« erwiderte Katharina. »Er weiß, daß Isidor in Boursonne angekommen ist, und er will ihn totschießen, wenn er sich hier in der Nähe sehen läßt!«

In diesem Augenblick ging die Tür auf, und Billot erschien auf der Schwelle.

»Lieber Pitou,« sagte er so ernst, daß an keine Entgegnung zu denken war, »wenn du wirklich gekommen bist, um dem alten Lajeunesse die Kaninchen wegzufangen, so ist es Zeit, daß du gehst und deine Schlingen stellst . . .«

»Ja, Herr Billot«, sagte Pitou bescheiden, indem er Katharina und Billot ansah; »ich war aus keinem anderen Grunde gekommen, das schwöre ich Euch.«

»Nun, dann? . . .«

»Dann gehe ich, Herr Billot.«

Er entfernte sich durch das Hoftor, während die trostlose Katharina in ihre Kammer ging und die Tür hinter sich verriegelte.

»Ja, ja, schließ dich nur ein!« zürnte Billot, der in der Küche stehenblieb, »daran liegt mir nichts, denn hier werde ich ihm nicht auflauern.«

Pitou, der zuweilen die gewaltige Kraft des Löwen besaß, hatte fast immer die Klugheit einer Schlange.

Anfangs faßte er den Entschluß, nach Boursonne zu eilen und den Vicomte von Charny vor der ihm drohenden Gefahr zu warnen. Aber nach reifer Überlegung gab er diesen Plan wieder auf. Denn Katharina hatte ihn ja nicht beauftragt, nach Boursonne zu gehen, und er würde es im Grunde gar nicht ungern gesehen haben, wenn dem »Junker« etwas Menschliches begegnet wäre.

Inzwischen beobachtete er vom Waldrand aus den Meierhof mit scharfen Augen.

Nach einer kleinen Weile wurde ein Fenster hell; es war das Fenster von Billots Stube. In seinem Versteck konnte Pitou sehr gut sehen, was in der Stube vorging. Er sah, wie Billot mit einem Lichte eintrat und sein Gewehr lud. Dann löschte er das Licht aus, er schien am Fenster lauschen und die Umgebung beobachten zu wollen. Wenn Katharina etwa auf den Gedanken kam, aus dem Fenster zu steigen und sich in den Wald zu schleichen, so konnte Pitou sie sehen.

Pitou hatte sich nicht geirrt; sein scharfes Auge, das in der Dunkelheit so gut sah, bemerkte nach einer Weile, daß Katharina ihr Fenster öffnete, langsam herausstieg, den Fensterladen wieder andrückte und sich an der Mauer hinschlich.

Katharina war nicht in Gefahr, gesehen zu werden, solange sie in dieser Richtung fortging. Nach Villers-Cotterêts hätte sie ganz unbemerkt gelangen können; wollte sie hingegen nach Boursonne gehen, so mußte sie in den Gesichtskreis treten, den der Blick von dem Fenster ihres Vaters aus umfaßte.

Am Ende der Mauer angelangt, blieb sie einige Sekunden unschlüssig, wohin sie sich wenden sollte, stehen; aber auf einmal faßte sie einen Entschluß, sie bückte sich, um sich den spähenden Blicken soviel wie möglich zu entziehen, ging quer über den Weg und betrat einen schmalen Fußpfad, der zum Walde führte.

Sobald Katharina den Fußpfad betreten hatte, konnte ihre Absicht keinem Zweifel mehr unterliegen. Pitou ließ sie daher unbeachtet, um seine ganze Aufmerksamkeit den halbgeschlossenen Fensterläden Billots zu widmen.

Pitou sah, wie sich die Fensterläden auftaten und Billots Kopf zum Vorschein kam. Der Pächter stand eine Weile regungslos, als ob er seinen Augen nicht getraut hätte.

Nach einigen Sekunden ging das Hoftor auf, und als Katharina den Saum des Waldes erreichte, erschien Billot mit dem Gewehr auf der Schulter und ging schnell auf den Wald zu; aber er schlug den Fahrweg ein, mit welchem sich der Fußpfad, den Katharina gewählt hatte, eine Viertelstunde von dem Meierhofe entfernt vereinigte.

Es war kein Augenblick zu verlieren.

Pitou sprang auf und lief wie ein aufgescheuchtes Reh in schräger Richtung durch den Wald. Als er den Fußpfad erreicht hatte, stand er still und lauschte. Es war Zeit, er hörte bereits die schnellen Fußtritte und den keuchenden Atem des Mädchens.

Pitou trat hinter einen Baum. Eine halbe Minute später kam Katharina. Er trat ihr schnell in den Weg und nannte zugleich seinen Namen.

Die Überraschung entlockte ihr nur einen leisen Schrei, und sie zitterte weniger vor Schrecken, als vor Angst und Besorgnis um ihren geliebten Isidor.

»Keinen Schritt weiter, um des Himmels willen!« sagte Pitou, die Hände faltend.

»Warum nicht?«

»Weil Herr Billot weiß, daß Ihr fortgegangen seid, weil er mit dem Gewehr in der Richtung nach Boursonne gegangen ist, weil er Euch am Kreuzwege von Bourg-Fontaine erwartet!«

»Aber er . . . er!« sagte Katharina außer sich, – »soll er denn nicht gewarnt werden?«

»Kommt, Jungfer Katharina, und geht wieder in Eure Kammer, ich will mich in der Nähe Eures Fensters verstecken, und wenn ich den Junker Isidor sehe, will ich ihn warnen.«

»Das willst du tun, lieber Pitou?«

»Für Euch will ich ja alles tun, Jungfer Katharina . . . Ach, ich habe Euch ja so lieb!«

Katharina drückte ihm die Hände.

Zehn Minuten nachher war Katharina wieder in ihrem Kämmerlein, und bevor sie das Fenster schloß, zeigte ihr Pitou das Weidengebüsch, in welchem er warten und lauschen wollte.

Die Weidenbäume, die etwa zwanzig bis fünfundzwanzig Schritt von Katharinas Fenster entfernt standen, neigten sich über einen tiefen Graben, in welchem ein kleiner Bach floß.

In den letzten dieser zum Teil hohlen Weidenbäume hatte Pitou jeden Morgen die für Katharina angekommenen Briefe gelegt, und dort hatte sie die schöne Pächterstochter geholt, sobald ihr Vater ausgeritten war.

Pitou und Katharina waren übrigens mit so großer Vorsicht zu Werke gegangen, daß Billot nie den mindesten Verdacht gehegt hatte. Unglücklicherweise aber hatte der Schäfer des Meierhofes am frühen Morgen den von Paris kommenden Vicomte von Charny gesehen. Der Schäfer hatte die Ankunft Isidors als eine ganz unwichtige Neuigkeit erzählt; aber dieses unerwartete Erscheinen des »Junkers« vor Tagesanbruch war dem Pächter verdächtig vorgekommen. Seit seiner Rückkehr von Paris, seit der Krankheit Katharinas und zumal seit dem strengen Gebot des Doktor Raynal, während der Fieberphantasien Katharinas das Krankenzimmer nicht zu betreten, war er überzeugt, daß der Vicomte von Charny der Geliebte seiner Tochter sei. Daß der Vicomte sich mit einer Bäuerin vermählen werde, war keineswegs zu erwarten, und der erzürnte Vater faßte daher den Entschluß, die Schmach dieses Liebesverhältnisses in Blut abzuwaschen.

Eine Folge dieses Entschlusses waren die oben erzählten Vorgänge, welche für Katharina eine so furchtbare Bedeutung erlangt hatten.

Pitou stand also regungslos an einem Weidenbaum und lauschte mit seinen an die Nacht gewöhnten Sinnen, um einen Schatten zu erblicken oder einen Laut zu vernehmen.

Plötzlich glaubte er hinter sich die schleppenden, unsicheren Fußtritte eines auf dem gepflügten Acker gehenden Mannes zu hören. Der junge, leichtfüßige Vicomte konnte es nicht sein; Pitou drehte sich daher langsam und vorsichtig um den Weidenbaum und bemerkte Billot, der vom Walde herkam und auf den Meierhof zuging.

Billot hatte, wie Pitou vorhergesehen, an dem Kreuzwege von Bourg-Fontaine gewartet; da aber niemand auf dem Fußpfad erschienen war, so glaubte er sich geirrt zu haben und ging, wie er sich ausgedrückt hatte, »auf den Anstand!« denn er meinte, der Vicomte von Charny werde einen Versuch machen, in Katharinas Fenster zu steigen.

Unglücklicherweise wollte der Zufall, daß Billot dieselbe Gruppe von Weidenbäumen, wo sich Pitou versteckt hielt, zu seinem Versteck wählte.

Pitou erriet die Absicht des Pächters. Er konnte ihm den Platz nicht streitig machen, lange besinnen durfte er sich auch nicht. Er glitt die Böschung hinab und verschwand in dem sieben bis acht Fuß tiefen Graben; hier versteckte er sich unter den Wurzeln des Weidenbaumes, an den sich Billot lehnte.

Eine Viertelstunde verfloß, ohne daß die Stille der Nacht unterbrochen wurde.

Aber plötzlich glaubte Pitou den Galopp eines Pferdes zu hören. Dieses Pferd lief in einer Entfernung von etwa sechzig Schritten über den Weg; man hörte Hufschläge und konnte Funken aufsprühen sehen.

Pitou sah, wie sich der Pächter nach vorn neigte, um in der Dunkelheit besser sehen zu können. Aber die Nacht war so finster, daß selbst Pitous Auge nur eine formlose Masse sah, die vorüberjagte und hinter der Hofmauer verschwand.

Pitou zweifelte nun nicht mehr, daß es Isidor sei; aber er hoffte, der Vicomte werde nicht durchs Fenster, sondern auf einem andern Wege ins Haus zu gelangen suchen.

Billot fürchtete es, denn er murmelte einige Worte, die wie ein Fluch klangen.

Dann folgte eine zehn Minuten lange furchtbare Stille. Endlich bemerkte Pitou am äußersten Ende der Mauer eine menschliche Gestalt. Die Nacht war so finster, daß Pitou hoffte, Billot werde die Gestalt gar nicht sehen. Er irrte sich: Billot sah sie, denn Pitou hörte, daß er den Hahn spannte.

Der Mann, der sich an der Mauer hinschlich, schien dieses Geräusch, welches das Ohr eines Jägers so leicht erkennt, ebenfalls zu hören, denn er blieb stehen.

Während jener stillstand und lauschte, sah Pitou den Gewehrlauf plötzlich in horizontaler Richtung über seinem Kopfe schweben; aber Billot mochte die Entfernung wohl für zu groß halten, denn der Gewehrlauf, der sich rasch gehoben hatte, senkte sich langsam.

Die Gestalt schlich weiter und ging immer an der Mauer entlang auf Katharinens Fenster zu.

Pitou konnte hören, wie dem Pächter das Herz schlug.

Der Gewehrlauf hob sich zum zweiten Male, aber nach wenigen Augenblicken senkte er sich wieder.

Inzwischen war der junge Mann an das Fenster gekommen. Er klopfte dreimal leise an.

Der Gewehrlauf hob sich zum dritten Male, während Katharina, die das gewohnte Zeichen erkannte, ihr Fenster leise öffnete.

In atemloser Spannung erwartete Pitou den Schuß; er hörte, wie der Stein gegen den Pfannendeckel schlug . . . ein Blitz flammte auf, aber kein Knall erfolgte. Nur das Pulver in der Pfanne hatte sich entzündet.

Der Vicomte sah die Gefahr, an der er vorübergegangen war, und machte eine Bewegung, um gerade auf das Feuer loszugehen, aber Katharina streckte die Arme aus und zog ihn an sich.

»Unglücklicher!« sagte sie leise, »es ist mein Vater! . . . Er weiß alles . . . Komm!«

Sie bot alle ihre Kraft auf und zog ihn durchs Fenster. Als er in der Kammer war, zog sie den Fensterladen zu.

Fünf Minuten lang herrschte tiefe Stille; Pitou und Billot schienen nicht zu atmen, ihr Herzschlag schien auszusetzen.

Plötzlich begannen die Kettenhunde auf dem Meierhofe laut zu bellen.

Billot stampfte mit dem Fuße auf, lauschte noch einen Augenblick und sagte mit Ingrimm:

»Ha! sie läßt ihn durch den Baumgarten entwischen!«

Er sprang über Pitous Kopf hinweg auf die andere Seite des Grabens, lief auf den Meierhof zu und war in wenigen Augenblicken hinter der Mauerecke verschwunden.

Pitou erriet seine Absicht. Sein Entschluß war schnell gefaßt: er sprang aus dem Graben, lief gerade auf Katharinens Fenster zu, riß den Laden auf und schwang sich durch das Fenster. Das Zimmer war leer, in der Küche brannte eine Lampe. Pitou, der jeden Winkel des Hauses kannte, eilte hinaus . . . in den Baumgarten. Sein scharfes Auge, das die tiefste Finsternis durchdrang, sah zwei Gestalten: die eine war eben im Begriff, über die Mauer zu steigen, die andere stand unten und streckte die Arme aus.

Aber bevor der junge Mann hinübersprang, sah er sich noch einmal um.

»Auf Wiedersehen, Katharina!« sagte er. »Vergiß nicht, daß du mein bist!«

»Ja, ja, ja!« antwortete die schöne Pächterstochter; »aber um Gottes willen fort . . . fort!«

»Ja, fort, Junker Isidor!« rief Pitou. »Es ist kein Augenblick zu verlieren!«

Man hörte den dumpfen Fall außerhalb der Gartenmauer, dann das Wiehern des Pferdes, das seinen Herrn erkannte, die raschen Hufschläge des Tieres, das vermutlich die Sporen des Reiters fühlte, dann einen Schuß . . . und gleich darauf noch einen.

Als der erste Schuß fiel, schrie Katharina laut auf und machte eine Bewegung, als ob sie dem Vicomte zu Hilfe eilen wollte; der zweite Schuß entlockte ihr einen leisen Klagelaut, ihre Kräfte schwanden und sie sank in Pitous Arme.

Dieser lauschte, ob das Pferd noch ebenso schnell liefe wie vorher. Der Galopp ließ nicht nach und verlor sich bald in der Ferne.

»Das ist ein gutes Zeichen«, sagte Pitou.

Er hob Katharina auf und wollte sie forttragen. Aber sie nahm mit fast übermenschlicher Anstrengung ihre Kräfte zusammen und machte sich aus Pitous Armen los.

»Pitou,« sagte sie, »weißt du einen Ort, wo ich mich verbergen kann?«

»Oh ja, Jungfer Katharina,« antwortete er, »ich werde schon einen finden.«

»Dann führe mich weg von hier«, sagte Katharina.

»Aber Herr Billot?«

»Ich habe für immer gebrochen mit dem Manne, der nach meinem Geliebten geschossen hat!«

»Nun, so folge mir!«

Niemand sah sie fortgehen, und Gott allein wußte, wo Katharina die von Pitou versprochene Zufluchtsstätte fand.

Die ganze Nacht tobte ein furchtbarer Kampf in dem Herzen des Mannes, der seinen Racheplan entworfen und zur Ausführung gebracht hatte. Als er aber die Flucht seiner Tochter merkte, als er anfangs zürnend, dann bittend, endlich verzweifelnd ihren Namen rief und keine Antwort erhielt, da mochte seine riesenstarke Natur wohl heftig erschüttert werden.

»Weißt du nicht, wo Katharina ist?« fragte ihn am Morgen seine Frau.

»Katharina kann die Luft hier nicht vertragen,« antwortete Billot mit barschem Ton, um seine innere Bewegung nicht zu verraten; »sie ist zu ihrer Tante gegangen.«

»So!« erwiderte die Hausfrau verwundert. »Wird sie denn lange bleiben?«

»Solange es ihr nicht besser geht«, antwortete der Pächter in demselben Tone. – – –

Noch einer hatte in dieser Nacht schlecht geschlafen – nämlich Doktor Raynal.

Um ein Uhr war er durch den Bedienten des Vicomte von Charny geweckt worden. Er sollte dem jungen Herrn, dem ein Unfall zugestoßen sei, augenblicklich Hilfe leisten.

Es handelte sich um eine Schußwunde in der linken Seite und um einen Streifschuß an der rechten Schulter. Die beiden Kugeln schienen von gleichem Kaliber zu sein.

Aber wie sich der Unfall zugetragen, darüber wollte der Vicomte keine Auskunft geben.

Die Wunde in der Seite war bedeutend, aber keineswegs gefährlich; die Kugel war nur in das Fleisch gedrungen, ohne ein wichtiges Organ zu verletzen. Die Streifwunde war unbedeutend.

Am vierten Tage war Isidor von Charny so weit wiederhergestellt, daß er ausgehen konnte.

 


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