Alexander Dumas
Die Gräfin Charny
Alexander Dumas

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Dreiunddreißigstes Kapitel

Der königliche Wagen setzte, bewacht von jenen beiden finsteren Männern, welche ihn zur Umkehr gezwungen hatten, langsam seinen Weg nach Paris fort, als Charny zwischen Epernay und Dormans einen anderen mit vier Postpferden bespannten Wagen von Paris kommen sah.

Ihm entstiegen drei Männer, von denen zwei den erlauchten Gefangenen ganz unbekannt waren. Der dritte war kaum ausgestiegen, so flüsterte Marie Antoinette dem König ins Ohr:

»Herr de Latour-Maubourg! die rechte Hand Lafayettes . . . Das bedeutet nichts Gutes!«

Der älteste der drei Männer öffnete die Wagentür und sagte zu Ludwig XVI.:

»Ich bin Pétion, und dies sind die Herren Barnave und Latour-Maubourg; wir sind von der Nationalversammlung abgeschickt, um Sie zu eskortieren und darauf zu sehen, daß der Zorn des Volkes nicht eigenmächtig Justiz übe . . . Rücken Sie doch etwas zusammen und machen Sie uns Platz!«

Die Königin warf dem Deputierten einen verachtenden Blick zu. Diesen Blick vermochte Latour-Maubourg nicht zu ertragen.

»Ihre Majestäten sitzen schon sehr gedrängt«, sagte er; »ich werde mich in den anderen Wagen setzen.«

»Machen Sie, wie Sie wollen«, erwiderte Pétion; »mein Platz ist in dem Wagen des Königs und der Königin, und ich steige ein.«

»Entschuldigen Sie, Madame,« sagte er zu der Prinzessin, »als Abgeordneter der Nationalversammlung gehört mir der Ehrenplatz . . . Haben Sie daher die Güte aufzustehen.«

»Das ist zu arg!« sagte die Königin.

»Mein Herr!« sagte Ludwig XVI. mit ernst verweisendem Tone.

»Es ist einmal nicht anders . . . Stehen Sie auf, Madame, und überlassen Sie mir Ihren Platz.«

Madame Elisabeth stand auf.

Unterdessen hatte sich Latour-Maubourg zu den Damen in den zweiten Wagen gesetzt.

»Nun, kommen Sie nicht, Barnave?« sagte Pétion.

»Wohin soll ich mich setzen?« fragte Barnave etwas verlegen.

»Wollen Sie meinen Platz?« fragte die Königin höhnisch.

»Ich danke Ihnen, Madame«, sagte Barnave beleidigt; »ein Platz auf dem Vordersitz genügt mir.«

Madame Elisabeth zog die kleine Prinzessin an sich, und die Königin nahm den Dauphin auf den Schoß. So wurde auf dem Vordersitz ein Platz leer, und Barnave setzte sich der Königin gegenüber.

»Fort!« sagte Pétion, ohne den König zu fragen.

Jérôme Pétion war ein Mann von zweiunddreißig Jahren, korpulent, blond, von blühender Gesichtsfarbe. Sein Verdienst bestand in der Klarheit und überzeugungsvollen Begeisterung seiner politischen Grundsätze. Er und Camille Desmoulins waren schon Republikaner, als es noch niemand in Frankreich war.

Pierre Joseph Marie Barnave war kaum dreißig Jahre alt. Als Mitglied der Nationalversammlung hatte er sich durch seinen Wetteifer mit Mirabeau, zu einer Zeit, als dessen Beliebtheit schon im Abnehmen war, einen Namen gemacht. – Er gehörte der konstitutionell-royalistischen Partei an. In dem Augenblick, als er der Königin gegenüber Platz nahm, sagte Ludwig XVI.:

»Meine Herren, vor allem erkläre ich Ihnen, daß ich nie die Absicht gehabt habe, Frankreich zu verlassen.«

»Ist das wirklich wahr, Sire?« fragte Barnave; »dieser Ausspruch wird Frankreich retten.«

Barnave wußte, daß einer der drei Männer der Graf von Charny war, und das Gerücht bezeichnete den Grafen als den Geliebten der Königin. – Barnave war eifersüchtig. Die Königin erriet seine Gedanken; sie kannte die verwundbare Stelle ihres Gegners, es handelte sich nur darum, diese Stelle zu treffen.

»Sire,« sagte sie zu dem Könige, »haben Sie gehört, was der Mann sagte, der die Eskorte führt?«

»Bei welchem Anlasse?« fragte der König.

»Als der Graf von Charny an den Wagen kam.«

Barnave war betroffen. Der Königin entging dies nicht.

»Hat er nicht erklärt,« sagte der König, »daß er für das Leben des Grafen bürge?«

»Jawohl, Sire, und er setzte hinzu, daß er der Gräfin dafür bürge . . . Die Gräfin von Charny ist seit vielen Jahren meine Freundin, ich habe sie schon als Fräulein von Favernay gekannt. Glauben Sie nicht, daß es gut sei, den Grafen bei unserer Ankunft in Paris zu beurlauben? Es wäre grausam gegen die Gräfin, Charnys Dienste länger in Anspruch zu nehmen.«

Barnave, der in der größten Spannung zugehört hatte, machte große Augen.

»Sie haben recht, Madame«, antwortete der König; »aber ich zweifle, daß der Graf den Urlaub annehmen wird.«

Die Königin merkte, daß Barnave ruhiger wurde; er schämte sich, daß er ihr in Gedanken Unrecht getan.

Oh, wie konnte er diesen unwürdigen Verdacht wieder gutmachen? Da erschien plötzlich ein armer Priester am Wagen, hob seine mit Tränen gefüllten Augen und seine bittenden Hände zum Himmel und sagte:

»Sire, Gott behüte Eure Majestät!«

Das Volk hatte lange keinen Vorwand gehabt, in Zorn zu geraten; endlich wurde ihm eine Gelegenheit geboten; den frommen Wunsch des Greises beantwortete die wütende Rotte mit lautem Geschrei. Sie fiel über den Priester her; – in einem Augenblicke war der Priester zur Erde geworfen.

»Mein Herr,« rief die Königin dem Deputierten zu, »sehen Sie nicht, was vorgeht?«

Barnave schaute zum Wagen hinaus.

»Ihr Elenden!« rief er, mit solcher Heftigkeit auffahrend, daß die Wagentür aufging, »ihr Unmenschen, seid ihr Franzosen, oder ist Frankreich ein Volk von Meuchlern geworden?«

Das Volk wich zurück, der alte Priester war gerettet. Er stand auf und sagte zu dem Deputierten:

»Sie haben wohlgetan, mich zu retten . . . ein Greis wird für Sie beten.«

Als der alte Mann fort war, nahm der junge Deputierte seinen Platz wieder ein, als ob er gar nicht wüßte, daß er ein Menschenleben gerettet habe.

»Ich danke Ihnen«, sagte die Königin.

Diese Worte durchzuckten Barnave wie ein elektrischer Schlag.

Er betrachtete die wahrhaft königliche Anmut und Schönheit der Königin und fühlte sich in seiner Begeisterung versucht, dieser sterbenden Majestät zu Füßen zu fallen, als der Dauphin vor Schmerz aufschrie.

Der Knabe hatte dem tugendhaften Pétion irgendeinen mutwilligen Streich gespielt, wofür ihm dieser zur Strafe das Ohr lang zog.

Barnave nahm den Dauphin auf den Schoß; Marie Antoinette wollte ihn selbst nehmen, aber der Dauphin sagte: »Ich sitze hier gut.«

Marie Antoinette ließ den kleinen Prinzen, wo er war. Barnave war stolz und glücklich.

Der Knabe spielte mit den Rockknöpfen des Deputierten, die eine Inschrift trugen.

Der Dauphin fing an zu buchstabieren und brachte mit einiger Mühe die vier Worte heraus: »Frei leben oder sterben.«

»Was heißt das?« fragte er.

»Ich will dir's sagen, Kleiner«, versetzte Pétion; »die Franzosen haben geschworen, keinen Herrn mehr zu haben . . . Verstehst du das?«

»Pétion!« sagte Barnave verweisend.

»Erkläre die Devise anders, wenn du kannst«, antwortete Pétion mit dem natürlichsten Tone der Welt.

Barnave schwieg, er faßte die Hand des Dauphin und zog sie ehrerbietig an seine Lippen.

Die Königin wischte verstohlen eine Träne ab.

Der Wagen rollte in die Ortschaft Dormans ein, wo keine Vorbereitungen zum Empfange getroffen waren. Vor einem Gasthofe machte der Wagen halt.

Beim Aussteigen wollte sich Charny, seiner Gewohnheit gemäß, dem Könige und der Königin nähern, um ihre Befehle zu empfangen, aber Marie Antoinette gab ihm einen Wink, sich entfernt zu halten. – Der Graf gehorchte, ohne die Ursache dieses Winkes zu erraten.

Pétion war inzwischen in den Gasthof getreten und hatte das Amt des Quartiermeisters übernommen. Er gab sich nicht einmal die Mühe, wieder herunterzukommen; ein Kellner meldete, daß die Zimmer der königlichen Familie bereit seien.

Der König stieg zuerst aus, dann die Königin; sie wollte sich den Dauphin reichen lassen, aber der Knabe sagte:

»Nein, ich will bei meinem Freunde Barnave bleiben.«

Marie Antoinette nickte zustimmend und lächelte.

Auf den Arm ihres Gemahls gestützt, stieg sie die schmutzige Wendeltreppe hinauf. Im ersten Stock blieb sie stehen; aber der Kellner rief ihr zu:

»Nur weiter hinauf! Hier ist der Speisesaal und die Wohnung der Herren von der Nationalversammlung.«

Barnave war außer sich. – Pétion hatte diese Zimmer für sich genommen, und die königliche Familie in die Dachstuben gewiesen.

Man speiste im Kreise der Familie zu nacht.

Die beiden Leibgardisten warteten wie gewöhnlich bei Tische auf. – Charny erschien nicht; als der König eben vom Tische aufstehen wollte, erschien der Kellner und bat Ihre Majestäten im Namen Barnaves, die Wohnung im ersten Stock huldreichst annehmen zu wollen.

Ludwig XVI. und Marie Antoinette sahen einander an. Der Dauphin lief in den Salon, dessen Tür der Kellner geöffnet hatte, und fragte:

»Wo ist mein Freund Barnave?«

Die Königin folgte dem Dauphin, und der König folgte der Königin. Barnave war nicht im Salon.

Graf von Charny hatte sich auf den Wink der Königin zurückgezogen und war nicht wieder erschienen. Er freute sich, daß ihm der Befehl der Königin eine kurze Ruhe und Zeit zu ungestörtem Nachdenken gab.

Seit zwei Tagen, seit dem Tode des geliebten Bruders, seit der Stunde, wo ihm der Herzog von Choiseul die bei Isidor gefundenen Papiere übergeben hatte, war ihm kaum ein Augenblick geblieben, sich seinem Schmerz zu überlassen. So war es ihm lieb, eine Dachstube für sich zu finden.

Er setzte sich an einen Tisch und zog die mit Blut befleckten Papiere aus der Tasche, nahm einen Brief und öffnete ihn.

Der Brief war von der armen Katharina. – Charny hatte dieses Liebesverhältnis längst geahnt. Aus diesem Briefe ersah er nun, daß Katharina Mutter war, und aus den einfach rührenden Worten, mit denen sie ihre Liebe ausdrückte, sprach das zarteste, innigste Gefühl; jede Zeile war eine Sühne für den Fehltritt des vertrauenden, liebenden Mädchens.

Dann fand Charny einen Brief, dessen Schriftzüge ihn überraschten. – Es war Andreas Handschrift; der Brief war an ihn adressiert.

An diesem Briefe hing ein mit Isidors Siegel befestigtes Billett, es enthielt folgende Zeilen:

»Dieser Brief ist an den Grafen Olivier von Charny adressiert; er ist von der Gräfin von Charny geschrieben. Wenn mir ein Unglück begegnen sollte, so wird der Finder dieses Papieres ersucht, es dem Grafen Olivier von Charny zuzustellen oder der Gräfin zurückzuschicken.

Diese hat mir den Brief mit folgender Weisung übergeben: Wenn der Graf sein Unternehmen glücklich ausführt, soll dieser Brief der Gräfin zurückgegeben werden. Wenn er schwer verwundet wird, soll er gebeten werden, daß er seiner Gemahlin erlaube, zu ihm zu kommen. Wenn er tödlich verwundet wird, soll ihm dieser Brief übergeben werden, und wenn er ihn nicht selbst lesen kann, soll man ihm denselben vorlesen, damit er vor seinem Ende das darin enthaltene Geheimnis kennenlerne.

Gleichzeitig bitte ich meinen Bruder, für die arme Katharina Billot zu sorgen, die mit meinem Kinde in dem Dorfe Ville-d'Avray wohnt.

Isidor von Charny.«

»Ich habe nicht das Recht, diesen Brief zu öffnen«, sagte der Graf nach einer langen Pause; »aber ich werde sie selbst bitten, daß sie mir erlaubt, ihn zu lesen . . .«

Am nächsten Morgen wurde die Reise fortgesetzt. Die Hitze war drückend. Der König bemerkte wiederholt, daß Madame Elisabeth sehr ermüdet war und sich auf dem Vordersitze kaum zu halten vermochte; er bot der Prinzessin seinen Platz an, den sie erst auf seinen ausdrücklichen Befehl annahm.

Pétion saß dabei, ohne seinen Platz anzubieten. Barnave errötete, er verbarg beschämt sein Gesicht.

Um vier Uhr nachmittags kamen die Reisenden nach Meaux. Der Wagen hielt vor dem bischöflichen Palaste.

Die Königin warf einen Blick auf das düstere Gebäude und sah sich nach einem Arme um, auf den sie sich stützen könnte, um in den Palast zu gehen.

Barnave war da. – Die Königin lächelte ihm zu, und Barnave beeilte sich, ihr mit großem Anstande den Arm zu bieten.

Die Königin zog Barnave durch die Gemächer des bischöflichen Palastes mit fort. Es schien fast, als ob sie vor etwas fliehen wolle.

In einem Zimmer blieb sie endlich fast atemlos stehen. Wie durch Zufall befand sie sich einem weiblichen Porträt gegenüber.

Sie warf zerstreut einen Blick auf das Bild, und las auf dem Rahmen die Worte: Madame Henriette.

»Ja, Madame Henriette«, sagte Barnave; »aber Henriette von England . . . nicht die Witwe des unglücklichen Karl I., sondern die Gemahlin des herzlosen Philipp von Orleans. Es wäre mir lieber,« setzte er nach einigem Zögern hinzu, »wenn es das Porträt der anderen wäre!«

»Warum denn?« fragte Marie Antoinette.

»Weil nur wenige Menschen einen guten Rat zu geben wissen, den besten geben noch jene, deren Mund der Tod geschlossen hat.«

»Können Sie mir sagen, was mir die Witwe Karls I. raten würde?« fragte die Königin.

»Wenn Eure Majestät befehlen, so will ich's versuchen«, erwiderte Barnave.

»›Oh! Schwester‹, würde Ihnen jener Mund sagen, ›bemerken Sie nicht die Ähnlichkeit, die zwischen unserem beiderseitigen Geschick besteht? Ich war aus Frankreich gekommen, so wie Sie aus Österreich gekommen sind; ich war für die Engländer eine Fremde, so wie Sie für die Franzosen eine Fremde sind; ich hätte meinem irregeleiteten Gatten guten Rat geben können; ich schwieg, oder gab ihm schlechten Rat; anstatt das Band zwischen ihm und seinem Volke fester zu knüpfen, reizte ich ihn zum Kriege auf; ich gab ihm den Rat, gegen London anzurücken; ich führte nicht nur einen Briefwechsel mit dem Feinde Englands, sondern begab mich sogar zweimal nach Frankreich, um fremde Soldaten nach England zu führen; endlich . . .‹«

Barnave hielt inne.

»Fahren Sie fort«, erwiderte die Königin mit finsterer Stirn und zusammengepreßten Lippen.

»Warum sollte ich fortfahren, Madame; das Ende dieses blutigen Dramas ist Ihnen so gut bekannt wie mir . . .«

»Ja, ich will also fortfahren, und Ihnen sagen, was das Porträt der Madame Henriette mir sagen würde. ›Endlich wurde der König von den Schotten verraten und ausgeliefert; er wurde gefangengenommen, als er eben nach Frankreich flüchten wollte . . . Ein Schneider nahm ihn fest, ein Fleischer führte ihn ins Gefängnis; ein Bierverkäufer führte den Vorsitz in dem Gerichtshofe, der das unerhörte Urteil sprach, und um das Maß der Schande voll zu machen, schlug ein maskierter Henker dem Karl Stuart den Kopf ab!‹ Nicht wahr, das würde mir das Porträt der Madame Henriette sagen? Das weiß ich sehr gut; ich weiß es um so besser, als der Vergleich in vielen Punkten stimmt: Wir haben auch unseren Bierverkäufer aus der Vorstadt, er heißt Santerre; wir haben unseren Fleischer Legendre, glaube ich; das würde Madame Henriette zu mir sagen.«

»Ich würde ihr antworten: ›Liebe Prinzessin, Sie geben mir da keinen Rat, sondern Sie halten eine historische Vorlesung. Die Vorlesung ist zu Ende, jetzt erwarte ich den Rat.‹«

»Oh! Madame,« sagte Barnave. »Eurer Majestät kann man nur einen Rat geben: sich bei dem Volke beliebt zu machen.«

»Still,« sagte die Königin, »es kommt jemand . . . wir werden ein andermal davon reden, Herr Barnave; ich bin bereit, Ihren Rat zu befolgen.«

»Eure Majestät werden im Speisesaal erwartet«, sagte der Diener, dessen Fußtritte man gehört hatte.

Marie Antoinette begab sich in den Speisesaal; der König kam aus einer anderen Tür; er hatte mit Pétion gesprochen und schien sehr aufgeregt. Zu seinen Offizieren sagte er:

»Meine Herren, nach dem Essen muß ich mit Ihnen reden; ich ersuche Sie daher, mir in mein Zimmer zu folgen.«

Der König aß viel wie immer, der Dauphin hatte schon tags zuvor Erdbeeren verlangt; die Königin war sehr traurig gewesen, ihm diesen Wunsch nicht erfüllen zu können, und als der Knabe alle Speisen unberührt ließ und wieder Erdbeeren verlangte, kamen ihr die Tränen in die Augen. Sie sah sich um, an wen sie sich wohl wenden könne, und bemerkte Charny.

Aber in diesem Augenblicke ging die Tür auf, und Barnave erschien, eine Schüssel mit Erdbeeren in der Hand.

»Eure Majestät,« sagte er, »werden huldreichst verzeihen, daß ich ungerufen eintrete; aber der durchlauchtigste Dauphin hat heute zu wiederholten Malen Erdbeeren verlangt.«

Unterdessen hatte sich Charny der Königin genähert, aber sie ließ ihm nicht einmal Zeit zu fragen.

»Ich danke Ihnen, Herr Graf,« sagte sie, »Herr Barnave hat erraten, was ich wünschte, ich brauche nichts mehr.«

Charny verneigte sich und ging, ohne zu antworten, auf seinen Platz zurück.

»Ich danke dir, Freund Barnave«, sagte der kleine Dauphin.

»Herr Barnave,« sagte der König, »unser Diner ist nicht gut; aber es wird uns Vergnügen machen, wenn Sie daran teilnehmen wollen.«

»Sire,« erwiderte Barnave, »eine Einladung des Königs ist ein Befehl. Geruhen Eure Majestät, mir einen Platz anzuweisen.«

»Setzen Sie sich zwischen die Königin und den Dauphin«, sagte Ludwig XVI.

Barnave setzte sich freudetrunken.

Charny sah diese ganze Szene ohne die mindeste Regung von Eifersucht mit an; er betrachtete sogar mit einem gewissen Mitleid den armen Schmetterling, der ebenfalls das königliche Licht umflatterte, um sich die Flügel daran zu verbrennen.

Nach der Tafel begaben sich die drei Offiziere in das Zimmer des Königs.

Madame Royale, der Dauphin und Frau von Tourzel waren in ihre Zimmer gegangen. Der König, die Königin und Madame Elisabeth warteten.

Als die drei jungen Kavaliere erschienen, sagte der König:

»Heute machte mir Herr Pétion einen Vorschlag. ›Sire‹, sagte er, ›die drei Offiziere, die Sie begleiten, sind in Paris nicht sicher; weder ich noch meine Begleiter vermögen sie zu retten, selbst nicht mit Gefahr unseres Lebens.‹«

Charny sah seine beiden Kameraden an. Ein Lächeln der Verachtung umzog seinen Mund.

»Und was weiter, Sire?« fragte er.

»Herr Pétion,« fuhr der König fort, »erbietet sich, Ihnen drei Nationalgardeuniformen zu verschaffen, Ihnen diese Nacht die Türen des bischöflichen Palastes zu öffnen und jedem von Ihnen unbeschränkte Freiheit zur Flucht zu lassen.«

Charny sah seine beiden Kameraden fragend an, aber man antwortete ihm mit dem gleichen Lächeln.

»Sire,« erwiderte er, »unser Leben ist Euren Majestäten geweiht; es wird uns leichter sein, für Sie zu sterben, als uns von Ihnen zu trennen. Von Ihrem ganzen Hofe bleiben Ihnen drei Getreue; nehmen Sie ihnen nicht den einzigen Ruhm, treu bis ans Ende zu sein.«

»Es ist gut, meine Herren,« sagte die Königin, »wir nehmen es an . . . aber Sie sehen wohl ein, daß von diesem Augenblick an alles unter uns gemeinsam sein muß: Sie sind fortan unsere Freunde, unsere Brüder . . . nennen Sie mir die Namen Ihrer Eltern und Geschwister; wir könnten das Unglück haben, einander zu verlieren; dann würde es uns zukommen, diesen geliebten Wesen ihr Unglück anzuzeigen und dasselbe nach Kräften zu mildern . . .«

Malden empfahl seine Mutter, eine alte, kränkliche Dame, Valory seine Schwester, eine junge Waise.

Dann wandte sich die Königin an Charny.

»Ach, Herr Graf,« sagte sie, »ich weiß, daß Sie mir niemand zu empfehlen haben . . . Ihre Eltern sind tot, und Ihre beiden Brüder . . .«

»Meine beiden Brüder hatten das Glück, für Eure Majestät das Leben zu lassen«, erwiderte Charny. »Aber der zuletzt Gefallene hat eine unglückliche Liebe hinterlassen. Madame, haben Sie die Gnade, den Namen eines unglücklichen Landmädchens zu notieren; und wenn ich, wie meine beiden Brüder, das Glück hätte, für meinen erhabenen Herrn zu sterben, so geruhen Sie für Katharina Billot und ihr Kind zu sorgen; man wird sie in dem Dorfe Ville-d'Avray finden.«

Das Bild des sterbenden Charny mochte für die Phantasie der Königin wohl zu schrecklich sein; sie wankte auf einen Armsessel zu, doch faßte sie sich wieder und schrieb als letztes den Namen und die Adresse von Katharina Billot auf.

»Meine Herren,« sagte sie, »ich hoffe, Sie werden mich nicht verlassen, ohne mir die Hand zu küssen.«

Charny näherte sich zuletzt; die Hand der Königin zitterte, als sie diesen Kuß erwartete; aber kaum berührten die Lippen des Grafen diese schöne Hand, seufzte Marie Antoinette auf. Dieser Klageton bewies, daß sie jetzt den Abgrund erkannte, der sich mit jedem Tag zwischen ihr und dem Grafen erweiterte.

Die erlauchten Gefangenen waren nun fünf Tage von Paris abwesend; heute sollten sie wieder in der Hauptstadt eintreffen. Welch ein bodenloser Abgrund hatte sich in diesen fünf Tagen aufgetan!

Die ganze Bevölkerung der Umgegend von Paris strömte herbei. Bald war das Gedränge so stark, daß die Pferde kaum im Schritt gehen konnten. Es war außerordentlich heiß. – Die unverschämte Neugier des Volkes verfolgte den König und die Königin bis in die beiden Ecken des Wagens, in die sie sich zurückgelehnt hatten. Einige Leute stellten sich auf den Tritt und schauten in die Kutsche hinein; andere kletterten auf den Reisewagen oder hingen sich an die Pferde.

Es war ein Wunder, daß Charny und seine beiden Kameraden nicht ums Leben kamen. Eine Vorhut von mehr als zweitausend Personen zog vor dem Wagen her; mehr als viertausend folgten. Zu beiden Seiten wälzte sich eine unaufhörlich zunehmende Menschenmasse langsam fort.

In der Nähe von Paris vermochte man kaum noch zu atmen; der Wagen ächzte inmitten einer dichten Staubwolke; ein paarmal sank die Königin, dem Ersticken nahe, halb bewußtlos zurück. In Bourget verlangte der König ein Glas Wein. – Es fehlte wenig, so hätte man ihm einen mit Galle und Essig getränkten Schwamm gereicht.

Der Zug kam nach la Villette. Es dauerte länger als eine Stunde, bis die Menschenmenge sich zwischen beiden Häuserreihen hindurchwand, deren weiße Wände die Sonnenstrahlen zurückwarfen und die Hitze verdoppelten.

Man beschloß, den Umweg über die äußeren Boulevards und die Champs-Elysées zu machen. – Dadurch wurde die Qual um drei Stunden verlängert. An der Barriere hatte übrigens eine starke Grenadierabteilung den Wagen in die Mitte genommen.

Die ganze Bevölkerung von Paris war in die Champs-Elysées geströmt. Der König und die Königin blickten auf ein unabsehbares Menschenmeer. Tiefe, düstere Stille herrschte in dem ganzen weiten Umkreise; die Männer mit den Hüten auf dem Kopfe zeigten eine drohende Haltung.

Aber den traurigsten Eindruck machte eine doppelte Reihe Nationalgarde, die sich mit umgekehrtem Gewehr – zum Zeichen der Trauer – von der Barriere bis zu den Boulevards aufgestellt hatte.

Es war in der Tat ein Tag tiefer Trauer – der Trauer um eine siebenhundertjährige Monarchie. Die sich langsam fortbewegende Kutsche war ihr Leichenwagen, der das Königtum zur Gruft führte.

Als die den Wagen begleitenden Soldaten die lange Reihe Nationalgarde erblickten, schwenkten sie ihre Waffen und riefen: »Es lebe die Nation!«

Dieser Ruf wiederholte sich in der ganzen Reihe, von der Barriere bis zu den Tuilerien, und die ganze unabsehbare Volksmenge, die sich unter den Bäumen bis in die Straßen der Vorstadt und auf der andern Seite bis an den Fluß ausbreitete, rief einstimmig: »Es lebe die Nation!«

Man brauchte eine Stunde von der Barriere bis zum Platze Louis XV.

Hier bemerkte der König, daß man dem Standbild seines Ahnherrn die Augen verbunden hatte.

»Was soll das bedeuten?« fragte der König.

»Ich weiß es«, sagte Pétion; »man will die Verblendung der Monarchie dadurch andeuten.«

Trotz der Eskorte durchbrach die Volksmasse zwei- oder dreimal die Reihe der Grenadiere. Die Königin sah jedesmal entsetzliche, widrige, drohende Männergesichter am Kutschenschlage erscheinen.

Am Pont-Tournant standen zwanzig Abgeordnete, die die Nationalversammlung abgeschickt hatte, um den König und die königliche Familie zu beschützen. – Auch Lafayette mit seinem Generalstabe war da.

Lafayette näherte sich dem Wagen.

»Oh, Herr de Lafayette,« rief die Königin, sobald sie ihn bemerkte, »retten Sie die Leibgardisten!«

Dieser Ruf war nicht überflüssig, denn die Gefahr war groß.

Endlich hielt der Wagen vor den Tuilerien. »Ach! meine Herren,« sagte die Königin zu Pétion und Barnave, »retten Sie die Leibgardisten!«

»Haben Sie mir unter diesen Herren niemand besonders zu empfehlen?« fragte Barnave.

Die Königin sah ihn mit ihren klaren Augen scharf an.

»Niemand«, sagte sie.

Die nun folgenden zehn Minuten – selbst den Gang zum Blutgerüst nicht ausgenommen– waren gewiß die peinlichsten ihres Lebens. Den Tod scheute sie nicht, aber sie war überzeugt, daß sie wie ein Spielzeug dem Volke überliefert oder in irgendein Gefängnis geschleppt werden würde.

Als sie, geschützt durch die Gewehre der Nationalgarde, aus dem Wagen stieg, wurde sie von einem Schwindel befallen und wäre beinahe zu Boden gesunken . . . aber als sie eben die Augen schließen wollte, glaubte sie mit dem letzten Blick jenen furchtbaren Mann zu sehen, der ihr einst in so geheimnisvoller Weise den Schleier der Zukunft gelüftet hatte, denselben Mann, der nur erschien, um die großen Katastrophen zu prophezeien, oder zu der Stunde, wo diese in Erfüllung gingen.

Als sie die Augen wieder aufschlug, sah sie, wie ihre Leibgardisten vom Wagen heruntergerissen wurden.

Charny, der, bleich und schön wie immer, allein gegen zehn Menschen kämpfte, blickte mit dem leuchtenden Blick des Märtyrers und dem Lächeln der Verachtung auf die Menge. – Von Charny schweiften ihre Blicke zu dem Mann hinüber, der sie mitten in dem ungeheuren Tumult davontrug; sie erkannte mit Schrecken den rätselhaften Mann von Faverney und Sèvres!

»Sie! Sie!« rief sie, indem sie ihn abzuwehren suchte.

»Ja, ich!« raunte er ihr ins Ohr. »Ich bedarf deiner noch, um die Monarchie in den Abgrund zu stoßen . . . und dich rette ich!«

Das war mehr, als sie ertragen konnte. Mit einem lauten Schrei sank sie in Ohnmacht.

Unterdessen versuchte die Menge, den Grafen von Charny nebst seinen beiden Kameraden Malden und Valory in Stücke zu zerreißen; Drouet und Billot wurden im Triumph davongetragen.

 


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