Alexander Dumas
Die Gräfin Charny
Alexander Dumas

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Fünfzehntes Kapitel

Dieser Besuch des Königs in der Nationalversammlung hatte am 4. Februar 1790 stattgefunden.

Zwölf Tage nachher, in der Nacht vom 17. zum 18. desselben Monats erschien ein Mann am Tor des Châteletgefängnisses mit einem vom Polizeileutnant unterzeichneten Befehl, der den Überbringer ermächtigte, den Marquis von Favras ohne Zeugen zu sprechen.

Der Pförtner öffnete eine Tür und ließ den Fremden durch.

Der Unbekannte stand still und sagte, sich umwendend:

»Ihr seid der Schließer Louis?«

»Ja«, antwortete der Pförtner.

»Ihr seid vor acht Tagen von einer geheimnisvollen Hand hierhergebracht worden, um ein unbekanntes Werk zu vollbringen? Seid Ihr bereit?«

»Ich bin bereit.«

»Ihr habt von einem Manne Befehle zu empfangen?«

»Ja, von dem Meister.«

»Woran habt Ihr diesen Mann zu erkennen?«

»An drei Buchstaben, die auf einen Brustharnisch gestickt sind.«

»Ich bin der Mann . . . hier sind die drei Buchstaben.«

Der Fremde öffnete seinen mit Spitzen besetzten Busenstreif und zeigte auf der Brust die drei Buchstaben L.P.D.

»Meister,« sagte der Schließer, sich verneigend, »ich stehe zu Eurem Befehl.«

»Gut. Öffnet mir den Kerker des Marquis von Favras und haltet Euch bereit, zu gehorchen.«

Zur größeren Sicherheit hatte man den Gefangenen in einen zwanzig Fuß unter der Erde befindlichen Kerker gesetzt; aber man hatte seinem Stande doch einige Rücksicht gezollt. Er hatte ein gutes Bett und weiße Wäsche; der Marquis schlief fest; der Unbekannte betrachtete ihn und legte ihm dann die Hand auf die Schulter.

Der Gefangene fuhr hastig auf.

»Beruhigen Sie sich, Herr Marquis,« sagte der Unbekannte, »es ist ein Freund . . .«

Der Marquis sah den nächtlichen Besucher einen Augenblick zweifelnd an; er schien sich sehr zu wundern, daß ihn ein Freund zwanzig Fuß unter der Erde besuchte.

»Aha!« sagte er, sich plötzlich besinnend, »der Herr Baron Zannone!«

»Jawohl, lieber Marquis.«

»Sie wissen, Marquis, daß morgen das Urteil über Sie gesprochen wird? Sie wissen, daß Sie vor denselben Richtern erscheinen werden, die Augeard und Bezenval freigesprochen haben?«

»Ja.«

»Sie wissen, daß beide ihre Freisprechung nur der allmächtigen Fürsprache des Hofes zu danken haben. Sie hoffen vermutlich, daß der Hof dasselbe für Sie tun wird, was er für Ihre Vorgänger getan hat?«

»Die Personen, mit denen ich wegen des bewußten Unternehmens in Verbindung zu stehen die Ehre hatte, wissen, was sie in bezug auf mich zu tun haben, Herr Baron . . . und was sie tun, ist gut.«

»Monsieur, der Bruder des Königs, hat erklärt, er kenne Sie kaum; der König denkt nicht mehr an Flucht; er hat sich sogar am 4. dieses Monats mit der Nationalversammlung zusammengetan und die Konstitution beschworen. Sie sehen also, Marquis, daß weder auf Monsieur noch auf den König zu zählen ist.«

»Zur Sache, Herr Baron.«

»Morgen werden Sie vor Ihren Richtern erscheinen. Man wird Sie verurteilen . . . Und zwar zum Tode.«

Favras verneigte sich wie einer, der bereit ist, jeden Streich, von welcher Art er auch sei, zu empfangen.

»Aber, lieber Marquis,« sagte der Baron, »wissen Sie, zu welchem Tode?«

»Soviel mir bekannt, gibt es nur einen Tod, lieber Baron.«

»Ja, und zwar den Galgen.«

»Den Galgen?«

»Ja, neuerdings werden die Edelleute und das gemeine Volk durch ein und dieselbe Tür aus der Welt expediert; sie werden alle ohne Unterschied gehängt, Marquis.«

»Herr Baron,« erwiderte Favras, »wollten Sie mir bloß diese angenehmen Nachrichten überbringen, oder haben Sie mir noch etwas Besseres zu sagen?«

»Ich wollte Ihnen anzeigen, daß alles zu Ihrer Flucht bereit ist . . . wenn Sie wollen, können Sie in zehn Minuten frei und in vierundzwanzig Stunden jenseits der Grenze sein.«

»Kommt das Anerbieten vom Könige oder von Seiner Königlichen Hoheit?«

»Nein, Herr Marquis, es kommt von mir.«

»Wie ist das möglich, Herr Baron?« erwiderte Favras. »Sie haben mich ja kaum zweimal gesehen.«

»Lieber Marquis, man braucht einen Mann nicht oft zu sehen, um ihn kennenzulernen.«

»Ich danke Ihnen von ganzem Herzen«, antwortete er; »aber ich will nicht fliehen.«

Der Baron sah den Gefangenen an, als ob er an seinem Verstande gezweifelt hätte.

»Sie wundern sich,« sagte Favras sehr heiter, »woher mir der sonderbare Entschluß kommt, den Tod, wenn es sein muß, in jeder Gestalt zu erleiden. – – Nun, ich will es Ihnen sagen. Ich bin Royalist; meine Anschauung beruht auf einer tief innerlichen Überzeugung, es ist ein Glaube, eine Religion, und die Könige sind für mich die sichtbaren Repräsentanten der Religion. Wenn ich fliehe, so wird man glauben, der König oder Monsieur sei mir zur Flucht behilflich gewesen.«

»Aber bedenken Sie doch, Marquis, welche Todesart Ihnen bevorsteht!«

»Je schmachvoller der Tod, desto verdienstlicher das Opfer, Herr Baron. Der Erlöser ist am Kreuze zwischen zwei Missetätern gestorben.«

»Ich ergebe mich noch nicht, Marquis«, sagte der Baron.

»Gute Nacht, Baron!« sagte Favras und drehte sich nach der Wand um.

Der Baron nahm ein Stück Papier und schrieb folgende Zeilen:

»Wenn das Urteil gesprochen ist, wenn der Marquis von Favras von seinen Richtern, vom Könige, von Monsieur nichts mehr zu erhoffen hat, so braucht er nur, im Falle er sich eines anderen besinnt, den Pförtner Louis zu rufen und zu ihm sagen: Ich habe mich zur Flucht entschlossen, und man wird Mittel finden, ihn zu befreien.

Wenn der Marquis auf dem verhängnisvollen Karren sitzt, wenn er vor Notre-Dame Buße tut, wenn er barfuß und mit gebundenen Händen den kurzen Weg vom Stadthause zum Grèveplatz macht, so darf er nur laut sagen: Ich will gerettet werden! Und man wird ihn retten.

Cagliostro.«

Seit neun Uhr morgens war der Gerichtssaal mit Neugierigen überfüllt; jeder wollte den Angeklagten, an dessen Verurteilung niemand zweifelte, sehen.

Vierzig Richter saßen im Kreise am oberen Ende des Saales; der Präsident unter einem Thronhimmel.

Um drei Uhr gaben die Richter Befehl, den Gefangenen zu holen.

Tiefe, grauenvolle Stille herrschte im Saal, als er eintrat.

Das Gesicht des Gefangenen war ruhig und heiter, auf seine Kleidung war größte Sorgfalt verwendet. Er trug einen hellgrauen, gestickten, seidenen Frack, eine weiße Atlasweste, kurze Beinkleider, seidene Strümpfe, Schuhe mit Schnallen und das Ludwigskreuz im Knopfloch.

Während der Marquis von Favras auf die Anklagebank zuging, lauschten alle Anwesenden mit angehaltenem Atem.

Mitten unter den erbitterten Zuhörern erkannte der Angeklagte das leidenschaftslose Gesicht und den teilnehmenden Blick seines nächtlichen Besuchers.

Das Verhör begann, dann wurden die Belastungszeugen vernommen.

Favras, der sein Leben nicht durch die Flucht retten mochte, wollte es durch Beweisgründe verteidigen; er hatte vierzehn Entlastungszeugen vorladen lassen.

Als die Belastungszeugen vernommen waren, erwartete er die seinigen zu sehen; aber der Präsident sagte:

»Meine Herren, die Verhandlung ist geschlossen.«

»Entschuldigen Sie, Herr Präsident,« entgegnete Favras, »Sie vergessen die auf mein Ansuchen vorgeladenen vierzehn Zeugen zu verhören.«

»Der Gerichtshof«, erwiderte der Präsident, »hat beschlossen, die Zeugen nicht zu vernehmen.«

Eine leichte Wolke zog über die Stirn des Angeklagten, dann schoß ein Blitz aus seinen Augen.

»Ich glaubte vom Châtelet der Hauptstadt Frankreichs gerichtet zu werden«, sagte er; »ich habe mich geirrt; ich werde, wie es scheint, von der spanischen Inquisition gerichtet!«

»Führt den Angeklagten ab!« gebot der Präsident.

»Keine Gnade! Keine Gnade!« riefen fünfhundert Stimmen, als er den Saal verließ.

Gegen ein Uhr nachts kam der Gefangenwärter Louis in seine Zelle und weckte ihn.

»Herr Marquis,« sagte er, »die Richter sprechen in diesem Augenblick Ihr Urteil.«

»Mein Freund,« erwiderte Favras, »wenn du mir sonst nichts zu sagen hast, so hättest du mich schlafen lassen sollen.«

»Nein, Herr Marquis, ich habe Sie geweckt, um Sie zu fragen, ob Sie der Person, die in der vorigen Nacht bei Ihnen war, nichts zu sagen haben.«

»Nein, ich habe nichts zu sagen.«

»Besinnen Sie sich, Herr Marquis. Wenn das Urteil gesprochen ist, bekommen Sie eine Wache in Ihre Zelle, und jene Person, wie mächtig sie auch sei, vermag dann nichts mehr.«

»Ich danke Ihnen, mein Freund,« erwiderte Favras, »ich habe ihr weder jetzt noch später etwas zu sagen.«

»Dann tut es mir leid, daß ich Sie im Schlafe gestört habe«, sagte der Schließer; »aber in einer Stunde würde man Sie ohnehin geweckt haben.«

»Du meinst also,« fragte Favras lächelnd, »es sei nicht mehr der Mühe wert, daß ich wieder einschlafe, nicht wahr?«

»Hören Sie und urteilen Sie selbst«, sagte der Gefangenwärter.

In den oberen Gängen entstand wirklich ein großer Lärm.

»Aha, der Lärm gilt mir?« fragte Favras.

»Ja, Herr Marquis, man kommt, um Ihnen das Urteil vorzulesen.«

Der Marquis war zum Tode verurteilt; er sollte vor Notre-Dame Buße tun und sodann auf dem Grèveplatz gehängt werden.

Favras hörte das Urteil mit der größten Ruhe an, und selbst bei dem Worte »gehängt« zuckte er nicht mit der Wimper.

»Herr Marquis,« sagte der Gerichtsschreiber, »Sie wissen, daß Ihnen kein anderer Trost mehr bleibt als die Religion.«

Der Priester kam, und man ließ den Marquis mit ihm allein.

Was in dieser letzten Unterredung zwischen dem Verurteilten und dem Diener der Kirche vorging, weiß niemand. Ob Favras sein Herz, das vor den Richtern verschlossen geblieben war, im Angesichte Gottes auftat? Dies blieb ein Rätsel selbst für jene, die gegen drei Uhr nachmittags in seinen Kerker kamen und ihn ganz gelassen, sogar heiter fanden.

Man zeigte ihm an, daß die Todesstunde geschlagen habe.

Da man ihm Rock und Weste schon abgenommen und ihm die Hände gebunden hatte, so hatte man ihm nur noch Schuhe und Strümpfe auszuziehen und über seine übrigen Kleider ein Hemd zu ziehen. Dann befestigte man ihm auf seiner Brust eine Tafel, auf der die Worte standen: Verschwörer gegen den Staat.

Der Priester kam, und man ließ den Marquis mit ihm allein.

Vor dem Châtelet erwartete ihn ein Karren mit einer brennenden Wachskerze darauf.

Favras bestieg festen Schrittes den Karren; der Pfarrer folgte ihm und setzte sich zu seiner Linken. Der Nachrichter stieg zuletzt auf und nahm hinter ihm Platz.

Ehe der Henker sich setzte, legte er dem Marquis den Strick, mit dem er gehängt werden sollte, um den Hals.

In dem Augenblick, als sich der Karren in Bewegung setzte, entstand eine Bewegung unter der Menge. Favras erkannte dicht bei dem Karren seinen nächtlichen Besucher in der Kleidung eines Fischhändlers. Er nickte ihm zu, aber dieses Kopfnicken bedeutete nur Dank und nichts anderes.

Der Karren hielt vor der Notre-Dame-Kirche an.

»Sie müssen absteigen und Buße tun«, sagte der Nachrichter. Favras gehorchte, ohne zu antworten.

Er ging bis an das Kirchentor und kniete nieder. In der ersten Reihe der Umstehenden erkannte er den Fischhändler. Ein Gerichtsschreiber vom Châtelet drückte ihm das Urteil in die Hand.

»Lesen Sie«, sagte er laut zu ihm. Dann setzte er leise hinzu:

»Herr Marquis, Sie wissen, daß Sie nur ein Wort zu sagen haben, wenn Sie gerettet werden wollen.«

Der Verurteilte gab keine Antwort, er begann das Urteil abzulesen.

Er las laut und ohne die mindeste Erregung zu verraten.

Gleich darauf setzte sich der Zug in der Richtung nach dem Grèveplatz wieder in Bewegung. Hier angelangt, sagte Favras: »Meine Herren, kann ich mich nicht einige Augenblicke in das Stadthaus begeben? Ich habe meinen letzten Willen zu diktieren.«

Der Karren fuhr auf das Stadthaus zu, das Volk unten schrie und tobte.

»Er will noch Enthüllungen machen!« schrie das Volk.

Ein Mann in der Kleidung eines Abbé stand etwas abseits von der Menge; als er das laut und schnell sich verbreitende Gerücht vernahm, erblaßte er. »Oh, fürchten Sie nichts, Herr Graf Louis,« sagte eine spöttische Stimme neben ihm, »der Verurteilte wird über die Vorgänge an der Place Royale kein Wort sagen.«

Der junge Mann sah sich hastig um. Die Worte, die er soeben gehört, hatte ein Fischhändler gesprochen.

Favras ging festen Schrittes in das Stadthaus; als der Verurteilte wieder erschien, wurde er von den fünfzigtausend Menschen, die den Platz füllten, mit einem lauten Triumphgeschrei begrüßt.

Favras sah sich um und sagte halblaut vor sich hin:

»Nicht eine Kutsche! . . . Der Adel hat ein kurzes Gedächtnis: gegen den Grafen von Horn war er höflicher als gegen mich.«

»Der Graf von Horn war auch ein Mörder, und du bist ein Märtyrer«, antwortete eine Stimme.

Favras sah sich um; er erkannte den Fischhändler, dem er schon zweimal auf seinem Todeswege begegnet war.

In dem Augenblicke, als er den Fuß auf die erste Leitersprosse setzte, sprach Favras die Worte:

»Mitbürger . . . Betet für mich!«

Auf der vierten Stufe stand er wieder still und sagte mit ebenso lauter, fester Stimme:

»Mitbürger . . . Ich sterbe unschuldig!«

»Sie wollen also nicht gerettet werden«, sagte einer der beiden Henkersknechte, der mit ihm die Leiter hinaufstieg.

»Ich danke, mein Freund«, erwiderte Favras; »Gott lohne Euch Euern guten Willen!«

Kaum hatte er diese Worte gesprochen, stieß ihn der Henker von der Leiter . . .

Der Mann in der Kleidung des Abbé bahnte sich in dem allgemeinen Tumult einen Weg durch die Menge, stieg schnell in einen gewöhnlichen Wagen ohne Wappen und Livree und rief dem Kutscher zu:

»Zum Luxemburg! . . .«

Drei Personen erwarteten ihn mit großer Ungeduld: Monsieur und zwei seiner Vertrauten.

Ihre Ungeduld war sehr erklärlich: sie hätten schon um zwei Uhr speisen sollen, und in ihrer Unruhe hatten sie noch keinen Bissen berührt.

Als der Wagen in den Hof fuhr, eilte Monsieur ans Fenster . . . Gleich darauf trat der Mann in der schwarzen Tracht ein.

»Gnädigster Herr,« sagte er, »der Marquis von Favras ist gestorben, ohne ein Wort zu verraten.«

»Nun, dann können wir uns ruhig an den Tisch setzen, lieber Louis. Wir wollen auch beim Dessert ein Glas auf das Wohl dieses braven Edelmannes trinken.«

 


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