Alexander Dumas
Die Gräfin Charny
Alexander Dumas

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Neuntes Kapitel

Die Nationalversammlung hatte die Parlamente aufgehoben. Auf Mirabeaus Antrag wurde die letzte richterliche Entscheidung dem Châtelet als dem höchsten Gerichtshof wieder überlassen.

Es war dies ein großer Sieg für das Königtum, denn das Châtelet war bis zum Ausbruch der Revolution der oberste Gerichtshof in Frankreich gewesen.

Der erste Prozeß, den das Châtelet durchzuführen hatte, war der gegen die Mörder des unglücklichen François. Sie wurden auf dem Grèveplatz gehenkt.

Der Gerichtshof hatte noch zwei Prozesse zu erledigen: den Prozeß des Generalpächters Augeard und den des Generalinspektors der Schweizergarde, Pierre Viktor von Bezenval.

Beide Männer waren dem Hofe ergeben, man hatte sich daher beeilt, ihren Prozeß beim Châtelet anhängig zu machen. Sie wurden freigesprochen.

Nach Beendigung der Verhandlung sagte einer von den Anwesenden, die im Gedränge den Gerichtssaal verließen, zu seinem Nachbar:

»Nun, Herr Doktor Gilbert, was sagen Sie zu diesen beiden Lossprechungen?«

Gilbert stutzte, sah den andern an und erkannte Cagliostro.

»Diese Frage könnt Ihr besser beantworten als ich, Meister . . . aber ich muß mich verabschieden.«

»Warum denn verabschieden?«

»Weil ich zu tun habe«, antwortete Gilbert lächelnd.

»Ein Stelldichein?«

»Ja.«

»Mit wem? . . . Mit Mirabeau, mit Lafayette oder mit der Königin?«

Gilbert blieb stehen und sah Cagliostro forschend und unruhig an.

»Wissen Sie wohl, daß Sie mir zuweilen Angst machen?« sagte er zu ihm.

»Im Gegenteil, ich sollte Sie beruhigen«, erwiderte Cagliostro.

»Wieso?«

»Bin ich nicht Ihr Freund?«

»Sagen Sie, Doktor, wie steht es denn mit unserer Ministerkombination?«

»Wieso?«

»Ja, oder wenn Sie lieber wollen, mit unserem Ministerium Mirabeau-Lafayette?«

»Es gibt nur leere Gerüchte, die Ihnen so gut bekannt sind wie anderen, und Sie wollen jetzt von mir erfahren, was daran ist.«

»Doktor, Sie sind ein eingefleischter Zweifler, und das Schlimmste dabei ist, daß Sie nicht nur nicht glauben, sondern nicht glauben wollen! . . . Ich muß Ihnen also zuerst sagen, was Sie so gut wissen wie ich, und dann werde ich Ihnen sagen, was ich besser weiß.«

»Ich höre, Graf.«

»Vor vierzehn Tagen bezeichneten Sie Herrn von Mirabeau als den einzigen Mann, der die Monarchie retten könne. Erinnern Sie sich noch? Sie verließen das Zimmer des Königs in dem Augenblicke, als der Marquis von Favras eintrat.«

»Ein Beweis, daß er damals noch nicht gehenkt war«, sagte Gilbert lachend.

»Oh! Sie sind sehr voreilig, Doktor! Lassen Sie dem armen Teufel doch einige Tage Frist . . . es ist doch billig, daß Sie seiner Seele zur Räumung des Leibes ebensoviel Zeit lassen, wie ein Mietsmann zur Räumung seiner Wohnung erhält, nämlich ein Vierteljahr . . . aber ich muß Ihnen bemerken, Doktor, daß Sie mich von der rechten Bahn ablenken.«

»Betreten Sie sie nur wieder, Graf, ich werde Ihnen mit Vergnügen folgen.«

»Sie haben also dem Könige erklärt, nur Herr von Mirabeau könne die Monarchie retten.«

»Das ist meine Meinung, Graf, und deshalb habe ich dem Könige diese Ministerkombination vorgelegt.«

»Es ist auch meine Meinung, Doktor, und deshalb wird die von Ihnen vorgelegte Kombination nicht zustande kommen.«

»Nicht zustande kommen?«

»Nein, gewiß nicht . . . Sie wissen wohl, daß ich die Rettung der Monarchie nicht will. Der König war durch Ihre Vorstellungen ziemlich überzeugt und sprach mit der Königin von Ihrer Ministerkombination. Zum größten Erstaunen der oberflächlichen Menschen war die Königin Ihrem Plane noch weniger abgeneigt als der König! Ist das die Wahrheit, Doktor?« sagte Cagliostro mit einem forschenden Blicke.

»Ich muß gestehen, Graf, daß Sie bis jetzt keinen Augenblick von dem geraden Wege abgewichen sind.«

»Darauf entfernten Sie sich frohlockend und in der festen Überzeugung, daß diese königliche Sinnesänderung eine Folge Ihrer unwiderleglichen Beweisgründe sei. Aber die Königin hat aus zwei Gründen nachgegeben. Erstens, weil sie tags zuvor einen großen Kummer gehabt hatte und daher in einer Intrige eine Zerstreuung sah; zweitens, weil die Königin eine Tochter Evas ist; man hat ihr Herrn von Mirabeau als einen Löwen, einen Tiger geschildert, und eine Tochter Evas kann nie dem für die Eigenliebe so schmeichelhaften Wunsche widerstehen, einen Tiger oder Löwen zu zähmen.«

»Sie gehen von Mutmaßungen aus, Graf, und Sie hatten versprochen, mich durch Tatsachen zu überzeugen.«

»Sie weisen mein Teleskop zurück? Nun, wenden wir uns also wieder zu materiellen Dingen, etwa zu den Schulden Mirabeaus.«

»Hier haben Sie die schönste Gelegenheit, Graf, Ihren Großmut zu zeigen.«

»Sie meinen, ich soll Mirabeaus Schulden bezahlen? Aber Sie wissen, daß er für den Augenblick keineswegs auf mich zählt; er zählt auf den künftigen Generalissimus Lafayette, der ihn mit lumpigen fünfzigtausend Frank anlockt, am Ende zahlt er keinen Groschen für ihn . . . Armer Mirabeau! Alle jene Gimpel und Gecken, mit denen du zu tun hast, verkennen dein Genie, und zerren nur an deinen Jugendtorheiten herum! ›Mirabeau ist ein ungeheurer Schwätzer!‹ sagt Rivarol; ›Mirabeau ist ein Lump!‹ sagt Mably; ›Mirabeau ist ein ruchloser Mensch!‹ sagt Guillermy; ›Mirabeau ist ein Meuchler!‹ sagt der Abbé Maury; ›Mirabeau ist so gut wie tot!‹ sagt Target; ›Mirabeau ist längst begraben!‹ sagt Dupout; ›Mirabeau hat die Blattern an der Seele!‹ sagt Champceuets; ›Mirabeau gehört auf die Galeeren!‹ sagt Lampesc; ›Mirabeau muß an den Galgen!‹ sagt Marat. Und wenn Mirabeau morgen stirbt, so wird ihn das Volk vergöttern, und alle diese Zwerge, die er so weit überragt, werden seinem Sarge folgen und jammern: ›Wehe, Frankreich, das seinen Tribun verloren!‹ ›Wehe dem Königtum, dem seine Stütze entrissen ist.‹«

»Sie werden mir doch nicht den Tod Mirabeaus prophezeien wollen?« sagte Gilbert fast erschrocken.

»Sagen Sie aufrichtig, Doktor, glauben Sie, daß er noch lange leben wird mit seinem immerfort gärenden Blut, seinem überwallenden Herzen, seinem alles durchdringenden Genie? Gilbert, Sie werden sich mit wenigen anderen intelligenten Männern vergebens abmühen, Mirabeau zum Minister zu machen, ich sage Ihnen, daß Mirabeau, der geniale Staatsmann, sein Leben vertun und an den Rand des Grabes kommen wird, ohne Minister zu werden.«

»Der König widersetzt sich also?« fragte Gilbert.

»Oh! Er hütet sich wohl, er würde es mit der Königin zu tun bekommen, der er beinahe sein Wort gegeben hat. Sie wissen, die Politik des Königs liegt in dem Worte beinahe; er ist beinahe konstitutionell, beinahe Philosoph, beinahe populär und sogar beinahe Politiker, wenn er Monsieur zum Ratgeber hat. Gehen Sie morgen in die Nationalversammlung, lieber Doktor, und Sie werden sehen, was darin vorgeht.«

»Können Sie mir's nicht im Voraus sagen?«

»Ich würde Ihnen das Vergnügen der Überraschung nehmen, aber ich will Ihnen etwas anderes vorschlagen:

»In einer Stunde wird der Jakobinerklub eröffnet. Es ist eine sehr gewählte Gesellschaft, welche Sie gewiß gern besuchen werden. Auch bekommen Sie so vielleicht Zeit, den Schlag zu parieren, da Sie zwölf Stunden vorher gewarnt werden.«

Zwei Stunden später betraten der Graf und Gilbert das Haus des Jakobinerklubs. Von der Galerie aus warf Gilbert einen langen Blick auf diese glänzende Versammlung. Er erkannte jeden einzelnen und erwog im Geiste die Bedeutung aller dieser verschiedenen Talente. Seine Besorgnis wurde durch die Anwesenheit einer ganzen Anzahl Königstreuer etwas beschwichtigt.

»Sagen Sie aufrichtig,« flüsterte er Cagliostro zu, »wen sehen Sie unter dieser Gesellschaft, der wirklich ein Feind des Königtums ist?«

»Es sind ihrer zwei in der Versammlung.«

»Oh, das ist nicht viel unter vierhundert Menschen!«

»Es ist genug, wenn einer der beiden Männer der Mörder Ludwigs XVI., und der andere sein Nachfolger sein wird.«

Gilbert erschrak.

»Oh! Oh! sagte er, »haben wir denn hier einen zukünftigen Brutus und Cäsar?«

»Allerdings, lieber Doktor.«

»Sie werden mir die beiden großen Männer doch zeigen?« sagte Gilbert mit dem Lächeln des Zweiflers auf den Lippen.

»Bei wem willst du den Anfang machen, ungläubiger Apostel?«

»Lassen Sie zuerst den Brutus sehen.«

»Nun, so sieh,« sagte Cagliostro, »da ist er!«

Er deutete mit der Hand auf einen gegen die Kanzel gelehnten Mann, dessen Kopf in diesem Augenblicke beleuchtet war, während der übrige Körper in Dunkel gehüllt war.

Gilbert schauderte unwillkürlich.

»Kennen Sie ihn nicht?« fragte Cagliostro.

»Nicht wahr, er ist ein unbedeutender Advokat von Arras, namens Maximilian von Robespierre, Mitglied der Nationalversammlung?«

»Jawohl.«

»Aber wer ist denn dieser Robespierre?« fragte Gilbert.

»Wer dieser Robespierre ist? Außer mir weiß es vielleicht niemand in Frankreich . . . Die Robespierre sind Irländer; vielleicht gehörten ihre Vorfahren zu den irischen Kolonien, die im sechzehnten Jahrhundert die Seminare und Klöster an unserer Nordküste so reichlich beschickten.«

»Aber was hat er denn bis jetzt geleistet?« fragte Gilbert.

»Erinnern Sie sich des Tages, wo die Vertreter des dritten Standes,Nämlich die ganze Bevölkerung, mit Ausschluß des Adels und des Klerus. Anmerkung des Bearbeiters. die sich durch das königliche Veto zur Untätigkeit verurteilt sahen, von dem heuchlerischen Klerus gebeten wurden, ihre Arbeiten zu beginnen?«

»Ja.«

»Nun, lesen Sie die Rede, die der verachtete Advokat von Arras an jenem Tage hielt, noch einmal aufmerksam durch, und Sie werden sehen, ob in dieser Erbitterung, in dieser Heftigkeit, die ihn fast zum Redner machte, nicht eine ganze Zukunft liegt.«

»Hören Sie wohl, was ich Ihnen sage: dieser Mann, der einst der Schrecken der Nationalversammlung sein wird, ist jetzt die Zielscheibe des Spottes; die aristokratischen Jakobiner sind einfach der Meinung, daß Robespierre zur Unterhaltung der Versammlung da sei, und daß jedermann das Recht habe, Kurzweil mit ihm zu treiben. Ein einziger seiner Kollegen erkennt und versteht ihn: Mirabeau! – ›Er wird es zu etwas bringen‹ , sagte er vorgestern zu mir, ›denn er glaubt an das, was er sagt!‹«

»Aber ich habe die Reden dieses Mannes gelesen,« entgegnete Gilbert, »und ich finde sie mittelmäßig und seicht.«

»Mein Gott, ich sage ja nicht, daß er ein Demosthenes oder Cicero, ein Mirabeau oder Barnave sei! Aber, außer Gott weiß vielleicht nur ich, welcher Haß in seiner schmalen Brust gärt, welche Gewitter sich in seinem engen Gehirn zusammenziehen.«

»Aber warum kommt er denn hierher?«

»Weil er hier mehr Gehör findet, als in der Nationalversammlung. Der Jakobinerklub, lieber Doktor, ist der kleine Minotaur; er saugt an einer Kuh; später wird er ein Volk verschlingen. Robespierre ist das Vorbild der Jakobiner: die Gesellschaft wiederholt sich in ihm, und er ist der Ausdruck der Gesellschaft, nicht mehr und nicht weniger. Er hält gleichen Schritt mit ihr, ohne ihr zu folgen, ohne ihr vorauszueilen. Mich dünkt, ich habe Ihnen versprochen, Sie mit einem kleinen Instrument bekanntzumachen, welches eben jetzt angefertigt wird und den Zweck hat, jede Minute einen Kopf, auch wohl zwei Köpfe abzuschlagen; glauben Sie nur, daß keiner der hier Anwesenden diesem Todeswerkzeug so viel Arbeit geben wird als der Advokat Robespierre.«

»In der Tat, Graf, Sie sind entsetzlich«, sagte Gilbert. »Aber sagen Sie, wo ist Ihr Cäsar?«

»Dort spricht er mit einem Manne, den er noch nicht kennt, und der später einen großen Einfluß auf sein Geschick haben wird. Dieser Mann heißt Barras; – behalten Sie den Namen und erinnern Sie sich seiner gelegentlich.«

»Sie scheinen den Spaß mit dem kleinen Unterleutnant für bare Münze geben zu wollen?«

»Gilbert,« sagte Cagliostro, indem er die Hand gegen Robespierre ausstreckte, »so wahr wie dieser das Blutgerüst Karls I. wieder aufrichten wird, ebenso gewiß wird jener«, er deutete auf den Korsen mit den glattgestrichenen Haaren, »den Thron Karls des Großen wieder aufrichten!«

»Und wie heißt der Mann?« fragte Gilbert.

»Jetzt heißt er noch Bonaparte, schlechtweg,« antwortete der Prophet, »aber einst wird er den Namen Napoleon führen.«

Gilbert drückte die Hand auf die Stirn und versank in so tiefes Nachdenken, daß er gar nicht bemerkte, wie die Sitzung eröffnet wurde und ein Redner die Tribüne bestieg.

Eine Stunde war verflossen, ohne daß ihn der Lärm der sehr stürmischen Sitzung seinen tiefen Gedanken entriß. Endlich fühlte er eine kräftige Hand auf seiner Schulter.

Er sah sich um. – Cagliostro war verschwunden, aber an seiner Stelle fand er Mirabeau.

Jeder Gesichtszug Mirabeaus drückte den heftigsten Zorn aus; seine Augen sprühten Flammen.

Gilbert sah ihn fragend an. »Was gibt's?« fragte er.

»Wir sind betrogen, hinters Licht geführt, verraten; der Hof will von mir nichts wissen, er hat Sie zum Narren gehabt . . .«

»Ich verstehe Sie nicht, Graf.«

»Sie haben geschlafen?«

»Nein,« sagte Gilbert, »ich habe wachend geträumt.«

»So hören Sie. Als Antwort auf meinen heutigen Antrag, die Minister zur Teilnahme an den Beratungen einzuladen, werden morgen drei Freunde des Königs verlangen, daß kein Mitglied der Nationalversammlung während der Sessionsdauer Minister sein dürfe. Dieser so mühsam, so gewissenhaft gemachte Entwurf stürzt zusammen wie ein Kartenhaus, weil Seine Majestät Ludwig XVI. die Laune anwandelt, darein zu blasen! Aber,« setzte Mirabeau hinzu, indem er wie Ajax die geballte Faust zum Himmel erhob, »so wahr ich Mirabeau heiße, die Höflinge sollen sehen, daß ich noch stärker blasen, daß ich mit meinem Atem nicht nur ein Ministerium über den Haufen werfen, sondern auch einen Thron erschüttern kann!«

»Aber Sie werden doch in die Nationalversammlung gehen?« sagte Gilbert. »Sie werden doch Ihre Ansicht bis aufs äußerste verteidigen?«

»Ja, ich werde in die Nationalversammlung gehen, ich werde meine Ansicht bis aufs äußerste verteidigen. Ich gehöre zu denen, die sich nur unter den Trümmern begraben lassen.«

Am folgenden Tage nahm die Nationalversammlung trotz Mirabeaus beredten, erschütternden Worten mit großer Stimmenmehrheit den Antrag Lanjuinais' an, daß kein Mitglied der Nationalversammlung während der Session Minister sein dürfe.

»Und ich,« rief Mirabeau, als der Beschluß gefaßt war, »ich schlage folgendes vor, das an Ihrem Beschluß nichts ändern wird: ›Alle Mitglieder der gegenwärtigen Versammlung können Minister sein, mit Ausnahme des Grafen von Mirabeau.‹«

Alle sahen einander betroffen an, und während der tiefen Stille, die im Saale herrschte, verließ Mirabeau die Rednertribüne mit jenem kühnen, entschlossenen Schritt, mit welchem er einst Herrn von Dreux-Brézé entgegentrat, als er zu ihm sagte: »Wir sind hier durch den Willen des Volkes, wir werden nur mit dem Bajonett im Leibe diesen Ort verlassen.«

Er entfernte sich aus dem Saale.

 


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