Alexander Dumas
Die Gräfin Charny
Alexander Dumas

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Siebenundvierzigstes Kapitel

Das Volk war in die Tuilerien gedrungen wie in die Höhle eines wilden Tieres. Geschrei und Drohungen erfüllten das Schloß.

In Abwesenheit derer, die unter lautem Rufen und Schreien in den Schränken, hinter den Tapeten, unter den Betten gesucht wurden, ließen die Sieger an andern Personen und an leblosen Dingen ihre Wut aus. Sie mordeten die Schloßdiener, zertrümmerten die Möbel und schlugen die Wände ein.

Gleichwohl übte es mitten in diesem Gemetzel zuweilen Gnade wie ein gesättigter Löwe. Die Herzogin von Tarent, die Gräfin von Laroche-Aymon, Mademoiselle Pauline de Tourzel und noch eine andere Hofdame waren in den Tuilerien zurückgeblieben. Sie befanden sich im Schlafgemach der Königin.

Die Sieger traten, die noch rauchenden Gewehre in der Hand, in das Zimmer, hoch in der Luft schwenkten sie ihre blutigen Säbel.

Die Damen fielen auf die Knie nieder. Die Mörder hatten schon das Messer gezückt, als ein von Pétion geschickter Mann in der Tür rief: »Schonet die Weiber! Entehrt nicht die Nation!« Und man ließ ihnen das Leben.

Madame Campan und zwei andere Kammerfrauen entflohen über eine Seitentreppe. Ein Teil der Mörder eilte ihnen nach und holte sie bald ein.

Die beiden Kammerfrauen fielen auf die Knie, faßten die blutigen Säbelklingen und flehten die Mörder um Gnade.

Während Madame Campan fortlief, fühlte sie sich von hinten bei den Kleidern ergriffen und sah, gleich einem zuckenden Blitz, eine Säbelklinge über ihrem Haupte funkeln – als plötzlich unten auf der Treppe eine gebieterische Stimme rief: »Was macht Ihr da oben?«

»Was gibt's?« antwortete der Mörder.

»An Frauen vergreift man sich nicht! Hört Ihr wohl?« setzte die Stimme hinzu.

»Steh auf, du Metze!« sagte der Unhold, »die Nation schenkt dir das Leben.«

Inzwischen bekam Ludwig XVI. Hunger und verlangte sein Diner. Man brachte ihm Brot, Wein, ein gebratenes Huhn, kalte Küche und Obst.

Der König zerbrach sein Brot und zerlegte sein Huhn wie auf einer Jagdpartie, ohne sich im mindesten um die auf ihn gerichteten Blicke zu kümmern.

Unter den Augen, die ihn ansahen, waren zwei, die glühten, weil sie nicht weinen konnten: die Augen der Königin.

Sie hatte alles von sich gewiesen, Verzweiflung war das einzige Gefühl, dessen sie noch fähig war.

Die Versammlung, in der Ludwig XVI. Schutz suchte, hätte selbst des Schutzes bedurft, und sie täuschte sich keineswegs über ihre Schwäche. Sie war von einer wütenden Volksmenge bedroht, die mit lautem Geschrei die Abdankung des Königs verlangte.

Eine Kommission trat zusammen.

Vergniaud entwarf die Urkunde, die das provisorische Aufhören der königlichen Gewalt verkündete. Düster und niedergeschlagen erschien er wieder in der Nationalversammlung.

»Meine Herren,« sagte er, »ich beantrage im Namen der außerordentlichen Kommission eine sehr strenge Maßregel, deren Annahme jedoch durch das Wohl des Vaterlandes dringend geboten wird. Sie werden, wie tief auch Ihr Schmerz sei, zur Ausführung derselben die Hand bieten.«

Die Nationalversammlung beschließt:

»Das französische Volk wird aufgefordert, einen Nationalkonvent zu bilden;

das Oberhaupt der vollziehenden Gewalt wird provisorisch seiner Amtsverrichtung enthoben, und es wird noch im Laufe des Tages ein königlicher Prinz zum Gouverneur ernannt;

die Zahlung der Zivilliste wird eingestellt;

der König und die königliche Familie bleiben unter dem Schutze der gesetzgebenden Versammlung, bis die Ruhe in Paris wieder hergestellt sein wird;

das Departement wird den Luxemburgpalast zur Residenz des Königs und der königlichen Familie unter dem Schutze der Staatsbürger einrichten lassen.«

Ludwig XVI. hörte diesen Beschluß mit seiner gewohnten Gleichgültigkeit an; dann neigte er sich gegen Vergniaud und sagte zu ihm:

»Wissen Sie wohl, daß diese Maßregel nicht ganz verfassungsmäßig ist?«

»Das ist wahr, Sire«, antwortete Vergniaud; »aber sie bietet das einzige Mittel, Ihr Leben zu retten; wenn wir das zeitweilige Aufhören der königlichen Gewalt nicht bewilligen, so nehmen die Aufständischen Ihren Kopf!«

Der König machte mit Mund und Schultern eine Bewegung, die bedeutete: Das ist möglich! und nahm seinen Platz wieder ein.

In diesem Augenblick schlug die über ihm befindliche Wanduhr. Ludwig XVI. zählte die Glockenschläge.

»Neun Uhr!« sagte er, als der letzte Schlag verhallt war.

Jetzt erschienen die Saalinspektoren, um den König und die Königin in die Wohnung zu führen, die zu ihrem vorläufigen Aufenthalt bestimmt worden war.

Der König winkte mit der Hand, er wünschte noch eine kleine Weile zu bleiben. Die Versammlung beschäftigte sich eben mit einer Angelegenheit, die nicht ohne Interesse für ihn war: – man ernannte ein Ministerium.

Die Minister des Krieges, des Innern und der Finanzen waren bereits ernannt; es waren die vom König entlassenen Minister Roland, Clavière und Servan. Danton wurde Justizminister, Monge Marineminister, Lebrun Minister des Auswärtigen.

Als sämtliche Minister ernannt waren, stand der König auf und verließ die Loge. Marie Antoinette folgte ihm; seit sie die Tuilerien verlassen, hatte sie weder Speise noch Trank, nicht einmal ein Glas Wasser zu sich genommen.

Die mit Blut bedeckten, rauchenden, verödeten Tuilerien boten einen grauenvollen Anblick. Alle Bewohner des Schlosses waren fort, nur die Toten waren geblieben und drei bis vier Wachtposten, die das Königshaus gegen Raub und Plünderung schützten.

Der Posten im Uhrpavillon, wo sich die große Treppe befindet, stand unter dem Befehl eines jungen Kapitäns der Nationalgarde, der die Greuel der Verwüstung mit tiefem Mitleid betrachtete und sich schaudernd abwandte, wenn ein mit Toten beladener Wagen vorüberfuhr.

An eine Säule der Vorhalle gelehnt, sah er den langen stillen Zug der trauernden Mütter, Gattinnen und Schwestern vorüberziehen. In dem trüben Lichte der hier und da aufgesteckten Fackeln hätte man die ausgehungerten, zerlumpten Gestalten für Gespenster halten können, wenn man nicht von Zeit zu Zeit herzzerreißende Klagetöne und laute Verwünschungen gehört hätte.

Plötzlich schrak der junge Kapitän beim Anblick einer halbverschleierten weiblichen Gestalt auf.

»Die Gräfin von Charny!« flüsterte er.

Die Gestalt ging weiter, ohne ihren Namen zu hören. Der junge Kapitän gab seinem Leutnant einen Wink.

»Désiré,« sagte der Kapitän, »die arme Dame dort ist eine Bekannte des Herrn Gilbert; sie sucht wahrscheinlich ihren Mann unter den Toten. Ich muß ihr folgen, denn sie könnte eines Beistandes bedürfen. Ich lasse dir den Befehl des Postens; sei wachsam und tue deine Pflicht!«

Ange Pitou hatte sich nicht geirrt: die arme Andrea suchte wirklich ihren Gemahl; aber sie suchte ihn nicht mit der qualvollen Ungewißheit des Zweifels, sondern mit der düstern Überzeugung der Verzweiflung.

Als der Graf von Charny durch die Kunde von den jüngsten Ereignissen aus seinen schönen Träumen geweckt worden war, hatte er zu seiner Gemahlin gesagt:

»Liebe Andrea, der König von Frankreich ist in Lebensgefahr und bedarf des Schutzes aller Getreuen; was soll ich tun?«

Ohne Zögern hatte Andrea geantwortet:

»Mein Olivier, deine Pflicht ruft dich nach Paris, um den König zu verteidigen und wenn es sein muß, für ihn zu sterben.«

»Aber du?« hatte Charny gefragt.

»Oh, um mich kümmere dich nicht. Ich habe nur für dich gelebt, und Gott wird mir gewiß erlauben, mit dir zu sterben!«

In den Tuilerien machte es Andrea wie die andern Suchenden, sie nahm eine Fackel und betrachtete einen Toten nach dem andern.

Pitou ging auf sie zu.

»Ach!« sagte er, »ich vermute wohl, was Sie suchen, Frau Gräfin.«

»Herr Pitou!« sagte Andrea. Sie trat vor ihn hin und faßte seine Hände.

»Wissen Sie, was aus dem Grafen von Charny geworden ist?« fragte sie.

»Nein, Madame«, antwortete Pitou; »aber ich kann Ihnen suchen helfen.«

»Es gibt eine Person,« erwiderte Andrea, »die uns sagen könnte, ob er tot ist oder lebt, die Königin.«

»Wissen Sie, wo die Königin ist?«

»In der Nationalversammlung . . . und ich habe noch die Hoffnung, daß der Graf bei ihr ist.«

»O ja, ja«, erwiderte Pitou, der die Hoffnung keineswegs teilte, aber die unglückliche Witwe nicht enttäuschen mochte; »wollen Sie mit mir in die Nationalversammlung kommen?«

Andrea hatte lange in den Tuilerien gewohnt und kannte daher das Innere des Schlosses genau. Sie ging auf einer kleinen Seitentreppe in den Zwischenstock und von da in die große Vorhalle hinunter, so daß Pitou zu seinem Posten zurückkam.

Die Gräfin war fest überzeugt, daß sie nur in der Nationalversammlung das Schicksal ihres Gatten erfahren könne; die königliche Familie hatte aber schon vor einer Stunde die Nationalversammlung verlassen und sich in ihre Wohnung begeben; man mußte also zum Luxemburgpalast.

Aus Achtung vor ihrem tiefen Schmerz hatte man Marie Antoinette in den ersten Augenblicken allein gelassen. Endlich hörte sie die Tür aufgehen und sich wieder schließen, aber sie sah sich nicht um. Sie hörte Fußtritte auf ihr Bett zukommen, aber ihr in Tränen gebadetes Gesicht erhob sich nicht von dem Kopfkissen.

Aber plötzlich fuhr sie auf, als wäre sie von einer Schlange gebissen worden: eine wohlbekannte Stimme hatte ein einziges Wort gesprochen:

»Madame! . . .«

»Andrea!« rief Marie Antoinette, sich aufrichtend und auf den Ellbogen stützend. »Was wollen Sie von mir?«

»Ich will von Ihnen, Madame, was Gott von Kain wollte, als er ihn fragte: ›Kain, was hast du mit deinem Bruder gemacht?‹«

»Mit dem Unterschiede,« erwiderte die Königin, »daß Kain seinen Bruder getötet hatte . . . ich hingegen . . . würde zehn Leben geopfert haben, um das seinige zu retten!«

Die Gräfin von Charny wankte.

»Er ist also tot?« fragte sie.

Marie Antoinette sah die Gräfin an und erwiderte, ihre mit Blut bedeckten Füße zeigend:

»Glauben Sie, ich würde mir nicht die Füße gewaschen haben, wenn dies mein Blut wäre?«

Andrea wurde leichenblaß. »Sie wissen also, wo seine Leiche ist?« stammelte sie.

»Ich will Sie hinführen, wenn man mich hinausläßt«, sagte Marie Antoinette.

»Ich will Eure Majestät auf der Treppe erwarten«, sagte die Gräfin und entfernte sich.

Pitou wartete vor der Tür.

»Herr Pitou,« sagte die Gräfin von Charny, »eine Freundin von mir will mich zu der Leiche des Grafen führen; es ist eine Kammerfrau der Königin . . . darf sie mich begleiten?«

»Nur unter der Bedingung, daß ich sie wieder hierher zurückbegleite.«

»Gut, Sie können sie zurückbegleiten«, erwiderte die Gräfin.

Die Tür des Vorzimmers ging auf, und die Königin erschien tief verschleiert. Marie Antoinette ging voran, die Gräfin folgte ihr, zuletzt kam Pitou.

Marie Antoinette ging mit der brennenden Fackel voran. Vor der Haupttür der Nationalversammlung stand sie still:

»An dieser Tür ist er gefallen.«

Im Korridor senkte Marie Antoinette die Fackel gegen den Fußboden.

»Dies ist sein Blut«, sagte sie.

Die Gräfin blieb stumm.

Die Königin öffnete eine Tür und leuchtete mit der Fackel hinein.

»Hier liegt er«, sagte sie.

Andrea ging auf die Tribüne, setzte sich auf den Fußboden und legte mit großer Anstrengung das bleiche Haupt Oliviers auf ihren Schoß.

»Ich danke Ihnen, Madame,« sagte sie leise; »Sie haben meine Bitte erfüllt.«

»Aber ich,« erwiderte die Königin, »ich habe Sie noch um etwas zu bitten . . . Verzeihen Sie mir?«

Eine kurze Pause folgte, als ob die Gräfin unschlüssig gewesen wäre.

»Ja,« erwiderte sie endlich; »denn morgen werde ich bei ihm sein.«

Die Königin reichte der Gräfin eine Schere und sagte mit fast bittendem Tone: »Nun, so beweisen Sie, daß Sie mir verzeihen.«

Andrea schnitt dem Toten eine Haarlocke ab und gab sie der Königin.

Marie Antoinette faßte die Hand der Gräfin und küßte sie. Andrea zog ihre Hand mit einem leisen Schrei zurück, als ob die Lippen der Königin ein glühendes Eisen gewesen wären.

»Ach!« seufzte Marie Antoinette, sich entfernend, »wer kann sagen, welche von uns beiden ihn am meisten geliebt hat!«

Die Königin begab sich in ihr Zimmer zurück. Andrea blieb bei ihrem Toten, auf den sich ein blasser Mondesstrahl wie der Blick eines teilnehmenden Freundes herabsenkte.

Pitou begleitete die Königin bis an die Tür des Vorzimmers zurück. Dann sorgte er dafür, daß Charnys Leiche in die Rue Coq-Héron gebracht wurde. –

Am andern Morgen um acht Uhr klopfte Gilbert an die Tür des kleinen Hauses in der Rue Coq-Héron. Andrea hatte ihn rufen lassen. Bevor er sich vom Hause entfernte, rief er Pitou und ersuchte ihn, Sebastian aus der Lehranstalt des Abbé Bernardier abzuholen und in die Rue Coq-Héron zu führen. Dort sollte er Gilbert vor der Tür erwarten.

Andrea wartete schon, sie war ganz schwarz gekleidet. Man sah, daß sie seit gestern weder geschlafen noch geweint hatte; ihr Gesicht war blaß, ihre Augen trocken.

Gilbert verneigte sich und erwartete die Anrede der Gräfin.

»Herr Gilbert,« sagte Andrea, »ich wollte Sie und keinen andern kommen lassen, weil Sie nicht das Recht haben, den Dienst, um welchen ich Sie ersuchen will, zu verweigern.«

»Sie haben recht, Madame; Sie können alles von mir verlangen, selbst mein Leben.«

»Herr Gilbert,« begann Andrea, »Sie wissen, was ich gelitten habe – – bis Olivier mir ein großes Glück schenkte. Heute Nacht fand ich ihn als Leiche wieder. Er liegt in diesem Zimmer . . .

Glauben Sie, daß der Wunsch, nach einem solchen Leben mit ihm in einem Grabe zu ruhen, zu vermessen sei? . . . . Herr Gilbert, Sie sind ein geschickter Arzt, ein gelehrter Chemiker, Sie haben mir großes Unrecht getan, Sie haben viel abzubüßen . . . Geben Sie mir ein schnell und sicher wirkendes Gift; dann will ich Ihnen nicht nur verzeihen, sondern mit dem innigsten Dank aus dem Leben scheiden.«

»Madame, ist dies wirklich Ihr Ernst?«

»Ich bitte Sie dringend darum, lieber Freund.«

»In zehn Minuten«, sagte Gilbert, »soll Ihr Wunsch erfüllt werden.«

Er verneigte sich und ging einen Schritt zurück.

Die Gräfin reichte ihm die Hand. »Oh, wie danke ich Ihnen, Gilbert!« sagte sie; »in einem Augenblick erweisen Sie mir mehr Gutes, als Sie mir in Ihrem ganzen Leben Schmerz verursacht haben!«

Gilbert entfernte sich. – Vor der Tür fand er Sebastian und Pitou, die ihn in einem Fiaker erwarteten.

»Sebastian,« sagte er, indem er ein kleines Fläschchen unter der Weste hervorzog, »gib der Gräfin von Charny dieses Fläschchen . . . ich schicke es ihr.«

»Wie lange darf ich bei ihr bleiben, Vater?« fragte Sebastian.

»So lange wie du willst.«

Eine Viertelstunde nachher kam Sebastian zurück. – Gilbert sah ihn forschend an; er brachte das Fläschchen in demselben Zustande zurück, wie er es erhalten hatte.

»Was hat sie gesagt?« fragte Gilbert.

»Sie sagte: ›Oh, nicht aus deiner Hand, mein Kind!‹ Dabei weinte sie.«

»Dann ist sie gerettet«, sagte Gilbert. »Komm, lieber Sebastian.«

Er küßte seinen Sohn zärtlich – vielleicht zärtlicher als je zuvor.

Gilbert hatte seine Rechnung ohne Marat gemacht.

Acht Tage später erfuhr er, daß die Gräfin von Charny verhaftet und in das Gefängnis der Abbaye gebracht worden sei.

 


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