Alexander Dumas
Die Gräfin Charny
Alexander Dumas

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Siebenunddreißigstes Kapitel

Der Mutter Billot war die Abreise der Tochter Katharina sehr nahe gegangen; als nun auch ihr Mann nach Paris zurückkehrte, verfiel sie in dumpfes Brüten und verlor jedes Interesse an der Welt. In diesem Zustand schwanden ihre wenigen körperlichen Kräfte auch dahin, und das Ende schien nahe.

Doktor Raynal bat nun Ange Pitou, Herrn Billot zu benachrichtigen und auch Katharina zu suchen: Es sei Zeit nach Hause zu kommen; wenn sie die Frau und Mutter noch einmal sehen wollten.

Pitou kam an dem Tage nach Paris, an dem das Blutbad auf dem Marsfelde sich ereignet hatte. Billot hatte eine sehr ernste Kopfverletzung davongetragen, und nur einem Zufall verdankte es Pitou, daß er ihn in einem Lazarett fand; zugleich eilte Pitou zu Doktor Gilbert, der sich seines einstigen Freundes auch bereitwillig annahm. Erst als Billot soweit hergestellt war, daß man ihn den Krankenwärtern überlassen konnte, gingen Gilbert und Pitou zur Wohnung der Gräfin Charny, wo sie den Aufenthalt Katharinas zu erfahren hofften. Sie erfuhren durch den Hausdiener, daß Katharina in Ville d'Avray wohne und daß Graf und Gräfin Charny sich auf ihren Landsitz nach Boursonne zurückgezogen hätten.

Am nächsten Morgen früh um sieben klopfte Pitou an die Tür Katharinas.

Er hatte mit dem Doktor Gilbert verabredet, um acht Uhr mit ihm am Schmerzenslager Billots zusammenzutreffen.

Katharina öffnete und schrie laut auf, als sie Pitou erblickte.

»Ach!« sagte sie, »meine Mutter ist tot!«

»Nein«, erwiderte Pitou; »aber Sie müssen sich beeilen, Mamsell Katharina, wenn Sie sie vor ihrem Ende noch sehen wollen. – – Und dann«, fuhr Pitou fort, »ist noch ein anderes Unglück geschehen.«

»Was für ein Unglück?«

»Herr Billot ist gestern auf dem Marsfelde gefährlich verwundet worden. Jetzt hören Sie, Mamsell Katharina,« fuhr Pitou fort, »was ich Ihnen rate und was auch der Herr Doktor Gilbert für das beste hält . . . Sie fahren mit mir nach Paris, besuchen Herrn Billot, der im Hospital Gros-Caillou liegt, und reisen dann im Postwagen nach Villers-Cotterêts.«

»Und Sie, Herr Pitou?« fragte Katharina.

»Ich,« sagte Pitou, »ich habe gedacht, daß ich wohl in Paris bleiben muß . . . Sie reisen nach Hause zu Ihrer Mutter und ich stehe indessen Ihrem Vater bei . . . Er hat niemand, der sich seiner annimmt.

Katharina reichte ihm die Hand.

»Sie sind ein braver Mensch, lieber Pitou«, sagte Katharina. »Kommen Sie, und küssen Sie meinen armen kleinen Isidor.«

Katharina, die in ihren Trauerkleidern schöner denn je aussah, führte ihn in ein kleines Zimmer, in dem ein Bett und eine Wiege stand.

Das Kind schlief.

Katharina zog einen Gazevorhang zurück und trat auf die Seite, um Pitou Platz zu machen.

»Ah, der schöne kleine Engel!« sagte Pitou, die Hände faltend.

Er kniete nieder und zog die Hand des Kindes an seine Lippen.

Pitou wurde sogleich dafür belohnt: er fühlte Katharinens Lockenhaar auf seinem Gesicht und ihren Mund auf seiner Stirn. Die Mutter gab den Kuß zurück, den ihr Söhnlein erhalten hatte.

Zehn Minuten später fuhren Katharina, Pitou und der kleine Isidor in dem Wagen des Doktors Gilbert nach Paris zum Hospital Gros-Caillou.

Katharina nahm ihr Söhnlein auf dem Arm und folgte Pitou. An der Tür der Kammer, in der Billot lag, blieb sie stehen.

»Sie haben mir gesagt, daß wir den Doktor Gilbert bei meinem Vater finden werden . . .«

Pitou öffnete leise die Tür.

»Er ist da,« sagte er, »geben Sie mir Ihr Kind, Katharina.«

Sie reichte ihm das Kind, trat festen Schrittes in das Krankenzimmer und ging gerade auf das Bett ihres Vaters zu.

In Billots Zustand hatte sich wenig geändert. Ungeachtet des beginnenden Wundfiebers war das Gesicht des Verwundeten infolge des großen Blutverlustes leichenblaß, und die Geschwulst hatte sich über das linke Auge und einen Teil der linken Wange verbreitet.

Katharina sank vor dem Bette auf die Knie und streckte die Hände empor.

»Oh, mein Gott!« sagte sie, »du bist mein Zeuge, daß ich dich mit aufrichtigem Herzen bitte, meinem Vater das Leben zu erhalten.«

Mehr konnte Katharina nicht tun für den Vater, der ihrem Geliebten nach dem Leben getrachtet hatte.

Ihre Stimme machte offenbar einen tiefen Eindruck auf den Kranken. Sein ganzer Körper schien erschüttert zu werden, der Atem ging schneller, er schlug die Augen auf und sein Blick fiel auf Katharina.

Katharinas Blicke begegneten denen des Vaters, und Gilbert sah nicht ohne lebhafte Besorgnis das Aufeinandertreffen zweier Flammen, die man eher für zwei Blitze des Hasses als für zwei Lichtstrahlen der Liebe halten konnte.

Katharina stand auf und verließ festen Schrittes, wie sie gekommen war, das Zimmer.

Acht Stunden später war Katharina in Villers-Cotterêts.

Anfangs erkannte man sie nicht; sie war so blaß und hatte sich so verändert, daß sie eine ganz andere zu sein schien.

Die Tante Angelika stand mit einigen Gevatterinnen auf der Straße und klatschte.

»Ei, sieh da!« rief sie auf einmal, mitten in ihrem Wortschwall innehaltend, »Herr Jesus! da steigt ja die Billotte mit ihrem Kinde aus dem Eilwagen! So wahr ich lebe, es ist die Billotte!«

Als die Tante Angelika die Ankunft der »Billotte« ausposaunte, liefen die Kinder der Ankommenden nach.

»Ja wahrhaftig,« sagten sie, »es ist Mademoiselle!«

»Ja, Kinder, ich bin's«, antwortete Katharina sehr freundlich.

»Guten Abend, Mademoiselle Katharina«, sagten die Kinder.

»Guten Abend, ihr lieben Kleinen«, antwortete Katharina. »Meine Mutter ist noch nicht tot, nicht wahr, Kinder?«

»O nein, noch nicht. Herr Raynal sagt, sie könne wohl noch acht oder zehn Tage leben.«

»Ich danke euch, Kinder«, sagte Katharina, schenkte den Kleinen einige Geldstücke und setzte ihren Weg fort.

»Nun, ist sie es wirklich?« fragten die neugierigen Tanten.

»Ja«, antworteten die Kinder. »Sie hat nach ihrer Mutter gefragt . . . und sehen Sie nur, was sie uns geschenkt hat.«

Die Kinder zeigten die kleinen Silberstücke, die sie von der »Billotte« bekommen hatten.

»Sie muß ihre Unschuld in Paris teuer verkauft haben,« sagte die Tante Angelika, »wie würde sie sonst den Kindern Silberstücke schenken können!«

Tante Angelika konnte Katharina Billot nicht leiden.

Unterdessen setzte Katharina ihren Weg fort.

Hier war die kleine Brücke, wo Isidor Abschied von ihr genommen hatte.

Dort stand der hohle Weidenbaum, in dem Isidor seine Briefe versteckt hatte.

Als sie sich dem Hause näherte, sah sie das kleine Fenster, in welches Isidor so oft eingestiegen war. Unter diesem Fenster hatte Billot auf den jungen Mann geschossen. Vor dem Hoftore endlich erblickte Katharina die wohlbekannte Straße, die nach Boursonne führte. Wie oft war sie diesen Weg gegangen!

Katharina betrat rasch und entschlossen den Meierhof.

Ein Mann erschien.

»Vater Clouis!« sagte Katharina.

»Willkommen, liebe Demoiselle!« sagte der alte Gardist. »Sie sind hier im Hause so nötig wie das liebe Brot . . . Kommen Sie.«

»Wie geht's meiner armen Mutter?« fragte Katharina.

»Ach,« war die Antwort, »sehr schlecht . . . nur, wenn man Ihren Namen nennt, Demoiselle Katharina, scheint sie aus ihrer Erstarrung zu erwachen.«

»Wir wollen hingehen,« sagte Katharina, »kommen Sie, Vater Clouis.«

Katharina warf einen Blick in die halbdunkle Stube.

Ihre Mutter lag in ihrem altmodischen Himmelbett. Die grünen Vorhänge waren halb zugezogen. Auf dem Tische brannte eine dreiarmige zinnerne Lampe.

Madame Clément, die Krankenwärterin, saß in einem großen Armsessel und schlummerte. Die Kranke schien unverändert, nur ihre Gesichtsfarbe war auffallend blaß wie Elfenbein.

»Mutter! Mutter!« rief Katharina, auf das Bett zueilend.

Die Kranke schlug die Augen auf und nickte ihrer Tochter zu; ihre Lippen stammelten unverständliche Laute; ihre Hand hob sich und tastete umher; dann fielen ihr die Augen wieder zu.

Am folgenden Tage kam der Doktor Raynal. Er war hocherfreut, die Tochter seiner Patientin zu finden. Vor allem brachte er eine Angelegenheit zur Sprache, die er mit Billot nicht erörtert haben würde: nämlich die Sakramente.

Katharina war gottesfürchtig, sie ließ den Abbé Fortier holen.

Aber kaum war der Abbé in das Krankenzimmer getreten, kaum hatte er bemerkt, daß die Kranke die Augen nicht aufschlug, so erklärte er, daß er nur denen, die beichten könnten, die Absolution erteile. Alle Bitten blieben fruchtlos; er entfernte sich, ohne der Sterbenden die letzten Tröstungen der Religion gereicht zu haben.

Acht Tage und acht Nächte brachte Katharina abwechselnd an dem Bette ihrer Mutter und an der Wiege ihres Kindes zu.

In der neunten Nacht tat sich die Tür auf, und Pitou erschien. Er kam eben von Paris, das er am Morgen zu Fuß verlassen hatte.

Billot war auf dem Wege der Genesung; seit vier bis fünf Tagen hatte der Arzt für ihn gebürgt, und als Pitou fortgegangen war, sollte er aus dem Hospital in die Wohnung des Doktor Gilbert gebracht werden.

Für Billot war also nichts mehr zu fürchten, wohl aber für Katharina. Pitou hatte den Augenblick vorausgesehen, wo man den Verwundeten von dem hoffnungslosen Zustande seiner Frau in Kenntnis setzen würde. Er war überzeugt, daß Billot dann sogleich nach Villers-Cotterêts zurückkehren werde.

Und was war zu erwarten, wenn er Katharina auf dem Meierhofe fand?

Dies war der Punkt, über den Pitou sich mit Katharina aussprechen mußte. Er gestand ihr aufrichtig, wie viel er selbst von Billots Charakter fürchte; aber Katharina erklärte, daß sie das Bett ihrer Mutter nicht eher verlassen wolle, bevor sie der Sterbenden die Augen zugedrückt habe . . . was ihr Vater auch mit ihr anstellen werde.

In der Nacht vom zehnten zum elften Tage, als alles Leben erloschen schien, gab die Kranke plötzlich einige Lebenszeichen von sich.

»Mutter! Mutter!« rief Katharina und kniete mit ihrem Kinde vor dem Bette der Mutter nieder.

Die Mutter Billot richtete sich auf, breitete langsam beide Arme über ihre Tochter und den kleinen Isidor aus und sagte mit großer Anstrengung, aber deutlich und mit feierlichem Ausdruck:

»Meine Kinder, ich segne euch!«

Dann sank sie auf das Kissen zurück; sie war tot.

 


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