Alexander Dumas
Die Gräfin Charny
Alexander Dumas

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Vierundvierzigstes Kapitel

Als die Wogen immer höher schlugen, blieb man auch in den Tuilerien nicht untätig. In der Nacht vom 5. zum 6. August ließ man in aller Stille die Schweizer Bataillone von Courbevoie kommen.

Am 8. abends meldete man der Königin den Doktor Gilbert.

»Kommen Sie, Doktor!« rief ihm die Königin zu; »es freut mich, Sie zu sehen.«

Gilbert sah Marie Antoinette an: in ihrem ganzen Wesen war etwas Frohlockendes, das ihn unter den gegenwärtigen Verhältnissen mit Schrecken erfüllte.

»Madame,« sagte Gilbert, »ich sehe, daß ich zu spät oder zur Unzeit komme.«

»Im Gegenteil, Doktor, Sie kommen zur rechten Zeit und sind mir willkommen. Sie werden jetzt etwas sehen, was ich Ihnen schon längst gern gezeigt hätte: einen König, einen wirklichen König.«

»Ich fürchte,« erwiderte Gilbert, »daß Ew. Majestät mir keinen König, sondern einen Platzkommandanten zeigen werden.«

»Herr Gilbert, nach meiner Ansicht ist ein König nicht nur ein Mann, der sagt: ›Ich will nicht‹, sondern ein Mann, der sagt: ›Ich will!‹«

»Ja, Madame,« antwortete Gilbert, »und für Ew. Majestät ist ein König zumal ein Mann, der sich rächt.«

»Der sich verteidigt, Herr Gilbert! Denn Sie wissen ja, daß wir ganz offen bedroht werden; ein gewisser Barbaroux soll fünfhundert Marseiller hierhergeführt haben, und, wie man sagt, hat die ganze Rotte auf den Trümmern der Bastille geschworen, nicht wieder nach Marseille zu gehen, bis sie auf den Trümmern der Tuilerien kampiert haben wird.«

»Das habe ich auch gehört, Ew. Majestät«, erwiderte Gilbert. »Ich finde diese Nachrichten sehr bedrohlich und ich fürchte für den König und für Eure Majestät.«

»Sie wollen uns also vorschlagen, der Krone zu entsagen und uns dem Herrn Barbaroux und seinen Marseillern auf Gnade und Ungnade zu ergeben?«

»Ach, Madame, wenn der König seiner Krone entsagen und durch dieses Opfer sein Leben, das Ihrige und das Leben Ihrer Kinder schützen könnte . . .«

»So würden Sie ihm diesen Rat geben, nicht wahr, Herr Gilbert?«

»Ja, Madame, und ich würde ihn fußfällig bitten, diesen Rat zu befolgen.«

»Herr Gilbert, Sie sind nicht fest in Ihren Meinungen.«

»Meine Meinung ist immer dieselbe«, entgegnete Gilbert.

»Und welchen Rat geben Sie uns jetzt?«

»Ich rate Ew. Majestät zu fliehen. Ew. Majestät wissen wohl, daß es möglich ist, daß Ihnen noch nie eine so günstige Gelegenheit geboten wurde?«

»Weiter . . .«

»In den Tuilerien befinden sich gegen dreitausend Mann.«

»Gegen fünftausend,« sagte die Königin mit einem Lächeln der Befriedigung, »und auf den ersten Wink kann die Zahl verdoppelt werden. Ich fliehe nicht mehr.«

»Und Eure Majestät wollen diesen Entschluß unter keiner Bedingung aufgeben?«

»Nein«, sagte die Königin und reichte Gilbert die Hand zum Kuß.

»Madame,« sagte Gilbert, »wollen mir Eure Majestät erlauben, einige Zeilen zu schreiben, die ich für so dringend halte, daß ich deren Absendung keine Minute verschieben will?«

»Schreiben Sie, Herr Gilbert«, sagte die Königin.

Gilbert setzte sich und schrieb:

»Kommen Sie, Herr Graf, die Königin ist in Lebensgefahr, wenn sie sich noch durch einen Freund zur Flucht bewegen läßt; ich glaube, daß Sie der einzige Freund sind, der sie dazu bewegen könnte.«

Er unterzeichnete das Billett und schrieb die Adresse darauf.

»Darf ich wissen, Herr Gilbert, an wen Sie schreiben?« fragte die Königin.

»An den Grafen von Charny«, antwortete er.

»An den Grafen von Charny!« wiederholte Marie Antoinette erblassend und zitternd; »warum schreiben Sie an ihn?«

»Ich fordere ihn auf, die von mir vergebens ausgesprochene Warnung zu wiederholen.«

Die Tür tat sich auf und ein Türsteher erschien.

»Der Herr Graf von Charny, der eben ankommt,« sagte der Türsteher, »wünscht Ew. Majestät seine Huldigungen darzubringen.«

Marie Antoinette wurde noch blasser, sie vermochte nur einige unverständliche Worte zu stammeln.

»Lassen Sie ihn hereinkommen,« sagte Gilbert, »der Himmel schickt ihn.«

Charny erschien in der Tür. Er trug seine Seeoffiziersuniform.

»O kommen Sie, Herr Graf!« rief ihm Gilbert zu. »Soeben schrieb ich an Sie.«

Er übergab ihm den Brief.

»Ich erfuhr die Gefahr, in der sich Ihre Majestät befand, und bin herbeigeeilt«, sagte Charny sich verneigend.

»Um des Himmels willen,« sagte Gilbert, »geben Eure Majestät den Worten des Grafen Gehör . . . durch seinen Mund wird ganz Frankreich sprechen.«

Er verneigte sich ehrerbietig vor der Königin und dem Grafen und entfernte sich eilends. Auch den dringenden Vorstellungen Charnys gegenüber blieb die Königin ihrem Entschluß, die Tuilerien nicht zu verlassen, treu.

Charny, der einsah, daß alles Drängen vergebens war, stellte sich auf alle Fälle zur Verfügung, und der König machte ihn zum Gouverneur des Schlosses. Man sah einen Kampf voraus. – In der Nacht vom 9. zum 10. August begab sich Ludwig XVI. in seine Gemächer und schloß sich mit seinem Beichtvater ein. – Die Königin begab sich zu Madame Elisabeth und zu der Prinzessin von Lamballe.

»Was macht Seine Majestät!« fragte die letztere.

»Er beichtet,« antwortete Marie Antoinette mit einem unmöglich wiederzugebenden Ausdruck.

In diesem Augenblick ging die Tür auf und der Graf von Charny erschien. – Er war blaß, aber vollkommen ruhig.

»Ist Seine Majestät zu sprechen?« fragte er, sich vor der Königin verneigend.

»Für den Augenblick«, antwortete Marie Antoinette, »bin ich der König!«

Charny wußte es besser als irgend jemand, aber er ließ nicht ab.

»Sie können hinaufgehen, Herr Graf,« sagte die Königin; »aber ich versichere Sie, daß sich der König jetzt nicht gern stören läßt.«

»Ich glaube es wohl,« erwiderte Charny; »Seine Majestät spricht mit Herrn Pétion, der eben gekommen ist.«

»Nein, Herr Graf, der König ist mit seinem Beichtvater allein.«

»Dann werde ich als Gouverneur des Schlosses an Eure Majestät meinen Bericht abstatten.«

»Gut, Herr Graf, reden Sie.«

»Vor allem«, begann Charny, »muß ich Eurer Majestät den Effektivbestand unserer Streitkräfte aufzählen. Die berittene Gendarmerie ist sechshundert Mann stark und steht auf dem Platz des Louvre; die Gendarmerie zu Fuß hält größtenteils den Marstall besetzt; hundertfünfzig Mann dieses Korps sind in das Hotel de Toulouse zum Schutz der Staatskassen geschickt worden; dreißig Mann stehen im ›Prinzenhofe‹ an der kleinen Treppe. Zweihundert Offiziere und Soldaten der vormaligen Garde, hundert Royalisten, ebensoviel Edelleute sind in dem ›Oeil de boeuf‹ und in den umliegenden Sälen verteilt; zwei bis dreihundert Nationalgardisten stehen in den Höfen und im Garten; endlich sind fünfzehnhundert Schweizer auf ihren verschiedenen Posten und haben insbesondere die große Vorhalle und die Haupttreppen zu verteidigen.«

»Und alle diese Vorkehrungen beruhigen Sie nicht?« fragte die Königin.

»Nichts beruhigt mich,« antwortete Charny, »wenn Eure Majestät in Gefahr sind.«

»Sie raten also noch immer zur Flucht, Herr Graf?«

»Ich rate Eurer Majestät, daß Sie sich mit dem König und Ihren erlauchten Kindern in unsere Mitte begeben . . .«

Die Königin machte eine Bewegung.

»Noch ist alles ruhig, wir haben Zeit, die Tuilerien zu verlassen und die Sternbarriere zu erreichen. Dort erwarten uns dreihundert Reiter von der konstitutionellen Garde. In Versailles sind leicht fünfzehnhundert Edelleute zusammenzubringen, und mit viertausend Mann führe ich Eure Majestät, wohin Sie wollen.«

»Ich danke Ihnen, Herr Graf,« erwiderte die Königin; »ich weiß die Bereitwilligkeit zu schätzen, mit welcher Sie Ihre Teuren verlassen haben, um einer Fremden Ihre Dienste anzubieten . . .«

»Eure Majestät sind ungerecht gegen mich«, fiel ihr Charny ins Wort; »das Leben meiner Monarchin wird für mich stets das kostbarste Gut, die Pflicht, die größte Tugend sein.«

»Jawohl, die Pflicht«, erwiderte die Königin; »aber auch ich glaube meine Pflicht zu kennen . . . an mir liegt es, die Würde des Königtums zu wahren, oder wenn es angegriffen wird, ehrenvoll mit ihm zu fallen.«

»Ist dies das letzte Wort Eurer Majestät?«

»Ja, und zumal mein letzter Wunsch.«

Charny verneigte sich.

»Madame,« sagte er, »Eure Majestät setzen Ihre Hoffnung gewiß noch auf andere Umstände . . . Wenn dies der Fall ist, so beschwöre ich Eure Majestät, sagen Sie es mir! Bedenken Sie, daß ich morgen um diese Zeit den Menschen oder Gott Rechenschaft zu geben habe über alle Ereignisse, die sich bis dahin hier zutragen werden.«

»So hören Sie, Graf«, erwiderte die Königin. »Pétion muß zweihunderttausend Franken und Danton fünfzigtausend erhalten haben. Danton hat versprochen, zu Hause zu bleiben, und Pétion wollte ins Schloß kommen.«

»Haben Eure Majestät zuverlässige Vermittler gewählt?«

»Sie sagen ja selbst, Pétion sei eben gekommen.«

»Ja, Madame.«

»Das ist schon etwas, wie Sie sehen.«

»Aber noch keineswegs genug«, entgegnete Charny; »wie ich höre, hat man dreimal zu ihm geschickt, ehe er gekommen ist.«

»Wenn er mit uns hält,« sagte Marie Antoinette, »soll er im Gespräch mit dem König den Zeigefinger auf das rechte Auge legen.«

»Wenn er aber nicht mit uns hält . . .«

»Dann ist er unser Gefangener.«

In diesem Augenblick hörte man den Ton einer Glocke.

»Was ist das?« fragte die Königin.

»Die Sturmglocke«, antwortete Charny.

Die Prinzessinnen standen erschrocken auf.

»Madame«, sagte Charny, auf den das Geläut einen größeren Eindruck zu machen schien, als auf die Königin; »ich will mich erkundigen gehen.«

»Man wird Sie doch wiedersehen?« fragte Marie Antoinette hastig.

»Ich bin gekommen, um mich Eurer Majestät zur Verfügung zu stellen und werde den König erst mit dem letzten Schatten der Gefahr verlassen.«

Die Königin sann eine Weile nach.

»Ich will doch sehen,« sagte sie für sich, »ob der König gebeichtet hat«, und verließ ebenfalls das Zimmer.

In diesem Augenblick fiel ein Schuß im Hofe.

»Da fällt der erste Schuß«, sagte Madame Elisabeth; »es wird leider nicht der letzte sein!«

Pétion war gegen elf Uhr in die Tuilerien gekommen.

Vor der Tür zum König begegnete ihm Maudat, der Kommandant der Nationalgarde.

»Ah, Sie sind's, Herr Bürgermeister?« sagte der Kommandant. »Was wollen Sie hier?«

»Ich könnte diese Frage unbeantwortet lassen,« erwiderte der Bürgermeister, »denn Sie sind nicht berechtigt, mich zu examinieren; aber ich habe Eile und will's Ihnen sagen. Ich bin hierhergekommen, weil der König dreimal zu mir geschickt hat . . . von selbst wäre ich nicht gekommen.«

»Nun, da ich einmal die Ehre habe, Sie hier zu sehen, Herr Pétion, so frage ich Sie, warum die Verwalter der Stadtpolizei unter die Marseiller eine Menge Patronen verteilt haben, und warum ich, der Kommandant der Nationalgarde, für jeden Mann nur drei Patronen erhalten habe.«

Pétion sah Maudat mit seiner unverwüstlichen Ruhe an und erwiderte: »Man hat für die Tuilerien nicht mehr verlangt; drei Patronen für jeden Nationalgardisten, vierzig für jeden Schweizer; die Verteilung hat nach dem Willen des Königs stattgefunden.«

»Wozu diese große Verschiedenheit in der Zahl?«

»Das müssen Sie sich vom König und nicht von mir sagen lassen, Herr Maudat; wahrscheinlich traut er der Nationalgarde nicht.«

»Ich habe auch Pulver verlangt«, entgegnete der Kommandant.

»Das ist wahr«, antwortete Pétion; »aber Sie waren nicht in der Lage, das Pulver in Empfang zu nehmen.«

»Eine schöne Antwort!« rief Maudat, »Sie hätten mich in die Lage versetzen sollen, denn der Befehl muß ja von Ihnen ausgehen.«

Zum Glück ging die Tür auf:

»Herr Pétion, der König erwartet Sie.«

Pétion trat ein.

»Da sind Sie endlich, Herr Pétion«, sagte Ludwig XVI. »Wie sieht es in Paris aus?«

Pétion gab von dem Zustand der Stadt einen ausführlichen, wenn auch nicht genauen Bericht.

»Haben Sie mir sonst nichts zu sagen?« fragte der König.

»Nein, Sire«, antwortete Pétion.

Der König sah ihn scharf an. – Pétion machte große Augen, er wußte sich diese dringende Frage des Königs nicht zu erklären.

Ludwig XVI. erwartete, daß Pétion den Zeigefinger auf das rechte Auge halte. Durch dieses Zeichen sollte der Bürgermeister von Paris zu erkennen geben, daß der König für die überschickten zweihunderttausend Franken auf ihn zählen könne.

Pétion kratzte sich hinter dem Ohr, aber das rechte Auge ließ er unberührt.

Der König war also betrogen worden, ein Gauner hatte die zweihunderttausend Franken behalten.

In diesem Augenblick erschien die Königin. – Sie kam gerade in dem Moment, wo der König nichts mehr zu fragen wußte und Pétion eine neue Frage erwartete.

»Nun, wie steht's?« fragte die Königin leise; »ist er unser Freund?«

»Nein,« sagte der König, »er hat kein Zeichen gegeben.«

»Dann muß er unser Gefangener sein.«

»Darf ich mich beurlauben, Sire?« fragte Pétion den König.

»Um Gottes willen, lassen Sie ihn nicht fort«, flüsterte ihm Marie Antoinette zu.

»Nein«, sagte der König. »In einem Augenblick werden Sie frei sein; aber ich habe noch mit Ihnen zu reden«, setzte Ludwig XVI. sehr laut hinzu; »treten Sie in dieses Zimmer.« .

Dies war soviel, als ob er zu den Anwesenden gesagt hätte: »Ich vertraue Ihnen Herrn Pétion an; haben Sie ein wachsames Auge auf ihn.«

Pétion befand sich mit dreißig Personen in einem kleinen Raum, wo sich kaum vier Personen frei bewegen konnten.

»Meine Herren,« sagte er, »es ist unmöglich, hier lange zu bleiben, man erstickt ja hier.«

Dieser Meinung waren alle Anwesenden. Niemand hielt Pétion auf, aber alle folgten ihm.

Er ging die nächste Treppe hinunter und kam im Erdgeschoß in ein Zimmer, das auf den Garten hinausging. Im ersten Augenblick fürchtete er, die Gartentür sei verschlossen. Sie war offen; er ging in den Garten.

Pétion befand sich in einem geräumigeren, luftigeren Gefängnis, das aber ebensogut verschlossen und bewacht war wie das erste; er ging auf die vom Monde hell beleuchtete Terrasse, bückte sich von Zeit zu Zeit, nahm einen Stein auf und warf ihn über die Mauer.

Zweimal wurde ihm gemeldet, der König wünsche ihn zu sprechen.

Er nahm immerfort Steine auf und warf sie über die Mauer; er hatte schon geahnt, daß er nicht leicht aus den Tuilerien herauskommen würde und hatte dieses Zeichen mit Billot verabredet. Der Landwirt war auch auf dem Posten; er eilte in die Nationalversammlung, die sogleich einen Boten absandte: Pétion habe sofort vor den Schranken zu erscheinen. Darauf ließen ihn die Wachen durch.

Noch während seinem Aufenthalt in den Tuilerien erhielt Maudat den Befehl, in die Nationalversammlung zu kommen. Endlich, gegen Morgen entschloß er sich, der Aufforderung Folge zu leisten.

Der Generalkommandant war über einen wichtigen Umstand noch nicht unterrichtet: er wußte nicht, daß Befehl gegeben war, Pont-Neuf und die Arkade Saint-Jean zu räumen. Die Ausführung dieses Befehls war von Manuel und Danton persönlich überwacht worden. Dieser Befehl war ergangen, damit die Garde des Aufstandes den Rücken freibekommen sollte.

Maudat war daher sehr erstaunt, den Pont-Neuf von Truppen ganz entblößt zu finden. Er hielt an und schickte seinen Adjutanten auf Kundschaft aus.

Nach zehn Minuten kam der Adjutant zurück; er hatte weder Kanonen noch Nationalgarde gesehen. Die Place-Dauphine, die Rue-Dauphine, der Quai der Augustiner waren ganz menschenleer.

Maudat hielt an der Ecke des Quai Pelletier an und schickte seinen Adjutanten nach der Arkade Saint-Jean.

Die Arkade Saint-Jean ließ die Volkswogen ungehindert hin und her ziehen, die Nationalgarde war verschwunden.

Maudat wollte umkehren; aber die Wogen hatten sich hinter ihm gesammelt und trieben ihn wie ein herrenloses Wrack gegen die Stufen des Stadthauses.

»Bleiben Sie da,« sagte er zu seinem Adjutanten, »und wenn mir ein Unglück widerfährt, melden Sie es in den Tuilerien.«

Als Maudat in den großen Saal des Stadthauses trat, erblickte er lauter unbekannte, ernste und drohende Gesichter. Es waren die Vertreter des ganzen Aufstandes, und der Mann, der ihn nicht nur in der Entwicklung bekämpfen, sondern in der Geburt ersticken wollte, war nun hierher beschieden worden, um Rechenschaft abzulegen. In den Tuilerien hatte er gegen Pétion den Verhörrichter gespielt: jetzt sollte er ins Verhör genommen werden.

Ein Mitglied dieser furchtbaren Gemeindevertretung fragte:

»Auf wessen Befehl hast du die Wache in den Tuilerien verdoppelt?«

»Auf Befehl des Bürgermeisters von Paris«, antwortete Maudat.

»Wo ist dieser Befehl?«

»In den Tuilerien, wo ich ihn gelassen habe, um ihn in meiner Abwesenheit vollziehen zu lassen.«

»Warum hast du die Geschütze ausrücken lassen?«

»Weil ich das Bataillon ausrücken ließ, und wenn das Bataillon ausrückt, fahren auch die Geschütze mit.«

»Wo ist Pétion?«

»Er war in den Tuilerien, als ich das Schloß verließ.«

»Als Gefangener?«

»Nein, er war frei; er ging im Garten umher.«

In diesem Augenblick wird das Verhör unterbrochen. Ein Mitglied des neuen Gemeinderates bringt einen erbrochenen Brief, den er vorzulesen verlangt.

Maudat braucht nur einen Blick auf dieses Schreiben zu werfen, um einzusehen, daß er verloren ist. – Er hat seine Handschrift erkannt.

Dieses Schreiben ist der Befehl, den er um ein Uhr nachts an den Kommandanten des an der Arkade Saint-Jean aufgestellten Bataillons geschickt hat, die Schar, die gegen das Schloß ziehen würde, von hinten anzugreifen, während ihr das Bataillon vom Pont-Neuf in die Flanke fallen sollte.

Das Verhör ist beendet; der Brief sagt alles.

Der Präsident machte eine ausdrucksvolle horizontale Handbewegung und setzte hinzu: »Man führe ihn ab!«

Kaum ist der Generalkommandant Maudat die ersten drei Stufen des Stadthauses hinabgestiegen, so wird ihm in dem Augenblick, wo ihm sein Sohn entgegeneilt, der Kopf durch einen Pistolenschuß zerschmettert. Bald kam in dem Gedränge, in dem man nur blitzende Säbel und Piken sah, das blutende, vom Rumpf getrennte Haupt von Maudat zum Vorschein.

Dies war gegen vier Uhr morgens.

Als die Sturmglocken geläutet und der Generalmarsch geschlagen wurde, weckte man den König. Der Stellvertreter des Generalkommandanten, de la Chemaye, bat ihn, sich den Nationalgardisten zu zeigen und durch seine Gegenwart ihre Begeisterung entfachen zu dürfen.

Ludwig XVI. erhob sich taumelnd und noch halb im Schlaf. Er war schlecht gepudert, und auf der Seite, wo er gelegen hatte, war seine Frisur plattgedrückt. Man suchte einen Friseur, aber es war keiner da. Der König verließ daher sein Zimmer, ohne frisiert zu sein.

Die Königin befand sich noch im Sitzungssaale. Sobald sie erfuhr, daß sich Ludwig XVI. seinen Verteidigern zeigen wollte, eilte sie ihm entgegen.

Der König war in seiner ganzen Erscheinung, mit seinen gläsernen, ausdruckslosen Augen, mit seinen herabhängenden Mundwinkeln, in seinem violetten Frack das Gegenteil der Königin.

Es ging übrigens alles gut, solange die königliche Familie im Innern der Gemächer blieb. Die mit den Edelleuten vermischten Nationalgardisten sahen freilich den unbeholfenen und schlaftrunkenen Mann allzusehr in der Nähe, und sie fragten sich, ob dies wirklich der Held vom 20. Juni sei. – Das war nicht der König, den die Nationalgarde zu sehen erwartete.

Gerade in diesem Augenblick näherte sich der alte Herzog von Mailly in der besten Absicht, aber zum Unheil der Sache, der er zu dienen glaubte. Der alte Kavalier zog seinen Degen, kniete vor dem König nieder und schwor mit zitternder Stimme, für den »Sohn Heinrichs IV.« zu sterben.

Die Nationalgarde hatte aber keineswegs große Sympathien für den französischen Adel, sondern nur für den konstitutionellen König.

Diese Stimmung machte sich in dem auf allen Seiten ertönenden Ruf: »Es lebe die Nation!« Luft. Die wenigen Stimmen, welche riefen: »Es lebe der König!« wurden kaum gehört.

Man hatte eine Scharte auszuwetzen und trieb den König fast mit Gewalt in den sogenannten »Königshof« hinunter.

Die Royalisten riefen auch hier: »Es lebe der König!« Aber diese schwache Kundgebung wurde durch den lauten Ruf: »Es lebe die Nation!« beantwortet. Und als die Royalisten nicht nachließen, riefen die Patrioten: »Nein, nein! kein anderer König als die Nation!«

Ludwig XVI. antwortete ihnen in fast bittendem Tone: »Ja, Kinder, die Nation und euer König sind eins und werden es bleiben.«

»Holen Sie den Dauphin«, sagte Marie Antoinette leise zu der Prinzessin Elisabeth; »vielleicht wird der Anblick eines Kindes sie rühren.«

Man holte den Dauphin. – Unterdessen setzte der König diese traurige Musterung fort. Er kam auf den unglücklichen Gedanken, sich den Artilleristen zu nähern.

Das war ein Fehler, denn die Artilleristen waren fast ohne Ausnahme Republikaner. Hätte der König es verstanden, diese Truppe, die sich aus Überzeugung von ihm abwandte, an sich zu ziehen, so wäre es ein kühner Schritt gewesen, der wohl einen glücklichen Erfolg hätte haben können. Aber Ludwig XVI. war weder beredt noch entschlossen, noch herzgewinnend in seinem Wesen. Er begann zu stammeln; die Royalisten, die seiner Verlegenheit zu Hilfe kommen wollten, stimmten den sehr unzeitigen Ruf, der schon zweimal eine üble Wirkung gehabt, noch einmal an.

Dieser Ruf: »Es lebe der König!« hätte beinahe einen Zusammenstoß herbeigeführt. Einige Kanoniere verließen ihren Posten und traten drohend auf den König zu.

»Glaubst du denn,« sagten sie, »wir würden auf unsere Brüder schießen, um einen Verräter, wie du bist, zu verteidigen?«

Marie Antoinette zog den König zurück.

»Der Dauphin! der Dauphin!« riefen mehrere Stimmen. »Es lebe der Dauphin!«

Niemand wiederholte diesen Ruf; der arme Knabe kam zu sehr ungelegener Stunde.

Die Rückkehr des Königs ins Schloß war ein Rückzug, fast eine Flucht. Ludwig XVI. kam fast atemlos in seine Gemächer und warf sich in einen Lehnstuhl. Marie Antoinette, die an der Tür stehenblieb, sah sich nach allen Seiten um, als ob sie eine Hilfe, einen Beistand suchte. Sie bemerkte den Grafen von Charny, der sich an die zu ihren Gemächern führende Tür lehnte. Sie ging auf ihn zu.

»Ach! Herr Graf,« sagte sie, »es ist alles verloren!«

»Ich fürchte wohl, Madame«, antwortete Charny.

»Können wir noch fliehen?«

»Nein, es ist zu spät.«

»Was bleibt uns denn noch übrig?«

»Zu sterben«, antwortete Charny, sich verneigend.

 


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