Alexander Dumas
Die Gräfin Charny
Alexander Dumas

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Elftes Kapitel

In einer elenden Dachstube in einem Hause in der Judengasse sitzen ein Mann und eine Frau.

Der Mann ist fünfundvierzig, scheint aber fünfundfünfzig Jahre alt zu sein; die Frau ist vierunddreißig und scheint vierzig.

Der Mann hält ein Kartenspiel in der Hand und probiert zum tausendsten Male einen untrüglichen Trick aus.

Die Frau trägt ein altes seidenes Kleid. Ihr Haar ist mit einem vormals vergoldeten Kamm aufgesteckt; ihre Hände sind außerordentlich sorgfältig gepflegt und von aristokratischem Aussehen.

Das ganze Bild ist von einer Kerze beleuchtet; die Stelle des Leuchters vertritt eine leere Flasche, die von einem Lichtkreis umgeben ist, während der übrige Teil des Zimmers im Halbdunkel liegt.

Die Frau bricht zuerst das Schweigen: »Es geht nicht mehr so weiter; deine Klugheit muß uns dieser elenden Lage entreißen, sonst muß ich zu meiner Klugheit Zuflucht nehmen.«

Diese letzten Worte sagte sie mit der Ziererei einer Schönen, der ihr Spiegel noch am Morgen gesagt hat: ›Sei nur ruhig, mit diesem Gesicht verhungert man nicht!‹

»Du siehst ja, mein Kind,« antwortete Beausire, »daß ich mich immerfort damit beschäftige. Ich sage dir, ich hab's gefunden.«

»Was denn?«

»Wie man gewinnen muß.«

»Geht das schon wieder an? Wenn nur Madame de la Motte nicht geflohen wäre . . . so würde man noch Hilfsquellen finden und wäre nicht gezwungen, mit einem alten Reiter im Elend zu leben . . .«

Mademoiselle Nicole Legay, genannt Madame Oliva, deutete mit majestätischer Gebärde auf Beausire.

»Aber ich sage dir,« wiederholte dieser mit dem Tone der Überzeugung, »daß wir morgen reich sein werden.«

»Zeige mir die ersten zehn Louisdor, und ich will an alles andere glauben.«

»Heute abend sollst du sie sehen, die ersten zehn Louisdor; eben diese Summe ist mir versprochen worden.«

»Und du gibst sie mir, lieber Beausire!« sagte Nicole lebhaft.

»Ich gebe dir fünf davon, damit du dir ein seidenes Kleid kaufen kannst, mit den fünf andern . . .«

Plötzlich wurde die Tür geöffnet und eine sanfte Stimme sagte:

»Guten Abend, Mademoiselle Nicole, guten Abend, Herr von Beausire.«

In der Tür stand ein sehr elegant gekleideter Mann und weidete sich an dieser Familienszene.

»Der Graf von Cagliostro!« riefen Nicole und Beausire gleichzeitig aus.

Eine tiefe Stille trat ein. Plötzlich seufzte der Geliebte Nicoles tief und vernehmlich.

»Was, Herr von Beausire,« sagte Cagliostro, »immer melancholisch?«

»Und Sie, Herr Graf, immer Millionär?«

»Ei, mein Gott, das Geld macht nicht glücklich! . . .«

»Das ist wohl wahr, Herr Graf; abgesehen von unserer erbärmlichen Lage . . .«

»Sind Sie glücklich . . . Und mit tausend Louisdor könnten Sie dieses Glück vollkommen machen?«

Nicoles Augen leuchteten, Beausires Augen sprühten Flammen.

»Jawohl,« erwiderte der letztere hastig, – »ach, wenn wir tausend Louisdor hätten! Mit der einen Hälfte würden wir uns ein Landhaus kaufen, mit der andern eine kleine Rente sichern, und ich würde Landmann . . . Nicole würde sich ganz der Erziehung unseres Kindes widmen.«

»Das Geschäftchen, das Sie jetzt vorhaben, wird Ihnen also nicht so viel eintragen?«

Beausire stutzte. »Was für ein Geschäft?« fragte er.

»Nun, die Angelegenheit, in welcher Sie als Gardesergeant auftreten; die Angelegenheit, in der Sie heute abend unter den Arkaden des Place-Royale erscheinen werden.«

Beausire wurde leichenblaß.

»Ach, Herr Graf!« sagte er, mit bittender Gebärde die Hände faltend. »Machen Sie mich nicht unglücklich!«

»Ich sagte es ja,« jammerte Nicole, »du solltest dich in die fatale Geschichte nicht einlassen!«

»Ich will Ihnen als Freund einen Rat geben, lieber Herr von Beausire: Nehmen Sie weder für den Adel noch für das Volk Partei, sondern für sich selbst . . . Bedenken Sie, was Sie tun, Herr von Beausire; jede Sache hat eine gute und eine schlechte Seite. Es kommt nur darauf an, die gute Seite für sich herauszufinden.«

»Aha, ich merke schon, daß ich die gute Seite nicht getroffen habe, wie?«

»Nicht ganz, Herr von Beausire. Ich bin der Meinung, daß Sie Ihr Leben dabei aufs Spiel setzen. Sie werden wahrscheinlich gehenkt werden!«

»Herr Graf,« sagte Beausire, der sich den Schweiß von der Stirn wischte, »einen Edelmann henkt man nicht.«

»Das ist wahr; aber um die Begünstigung des Enthauptens zu erlangen, würden Sie Ihre Ahnenprobe machen müssen, lieber Herr von Beausire, und das würde dem Tribunal vielleicht zu langweilig sein; man würde Sie daher provisorisch hängen lassen . . . Aber, Sie sind ja kein furchtsamer Mensch!«

»Nein,« antwortete Beausire, »nichts weniger als furchtsam . . . Es gibt indes gewisse Umstände . . .«

»Ja, ich verstehe . . . zum Beispiel, wenn man wegen Diebstahls die Galeere hinter sich, und wegen Hochverrats an der Nation den Galgen vor sich hat – den Hochverrat an der Nation würde man vermutlich jetzt ein Verbrechen nennen, das die Entführung des Königs zum Zweck hat.«

»Herr Graf! Herr Graf!« rief Beausire entsetzt.

»Unglücklicher!« sagte Oliva, »auf diese Entführung bautest du also deine goldenen Träume!«

»Er hatte nicht so ganz unrecht, liebes Fräulein; ich wiederhole Ihnen nur, daß jede Sache eine Licht- und eine Schattenseite hat. Herr von Beausire hat unrecht, der schlechten Seite den Vorzug zu geben; – er hat sich nur umzudrehen, weiter nichts.«

»Was habe ich zu tun, Herr Graf?« fragte Beausire.

»Nehmen Sie einmal an,« sagte Cagliostro nachsinnend, »Ihr Plan scheitere; nehmen Sie an, die Mitschuldigen des Mannes mit der Larve und des Mannes im braunen Mantel würden verhaftet; nehmen Sie weiter an, sie würden zum Tode verurteilt . . . Ei, mein Gott! man hat ja Bezenval und Augeard freigesprochen; Sie sehen also, daß nichts unmöglich ist . . . Nehmen Sie an, ich sagte zu Ihnen: ›Armer Herr von Beausire, es ist Ihre Schuld!‹«

»Wieso?« fragte Beausire.

»›Wieso?‹ würde Ihnen die Stimme antworten; weil Sie nicht nur diesem kläglichen Tode entgehen, sondern auch tausend Louisdor hätten verdienen können.«

»Aber wie hätte ich diesem kläglichen Tode entgehen, wie hätte ich die tausend Louisdor verdienen können?«

»Sie hatten ja den Grafen von Cagliostro zur Seite . . . Sie brauchten nur zu ihm zu sagen: ›Herr Graf, der Bruder des Königs treibt Verrat mit dem Marquis von Favras. Man will den König entführen und nach Peronne bringen . . . Um Sie zu zerstreuen, Herr Graf, will ich Ihnen Tag für Tag, Stunde für Stunde den Fortgang der Sache mitteilen.‹ – Da würde Ihnen der Graf als großmütiger Kavalier geantwortet haben: ›Wollen Sie das wirklich tun, Herr von Beausire?‹ – Nun, jede Arbeit ist ihres Lohnes wert, und wenn Sie Ihr Wort halten, so habe ich da in einem Winkel vierundzwanzigtausend Livres bereitliegen, die ich dieser Laune opfern will . . . und an dem Tage, wo der König entführt oder der Marquis von Favras gefangengenommen wird, kommen Sie zu mir und erhalten die vierundzwanzigtausend Livres, wie Sie diese zehn Louisdor als Geschenk erhalten!«

»So wahr ich Beausire heiße, ich nehme Ihr Anerbieten an.«

»Das genügt mir«, sagte Cagliostro. »Es ist dreiviertel neun, Herr von Beausire, um neun Uhr werden Sie unter den Arkaden des Place-Royale am Hotel Sully erwartet. Nehmen Sie diese zehn Louisdor, stecken Sie sie in die Westentasche, ziehen Sie Ihren Frack an, nehmen Sie Ihren Degen und lassen Sie nicht auf sich warten!«

Beausire ließ sich das nicht zweimal sagen; er nahm die zehn Louisdor, steckte sie in die Tasche und machte sich fertig.

»Wo werde ich den Herrn Grafen wiederfinden?« fragte er.

»Auf dem Sankt Johannisfriedhofe . . . Wenn man von solchen Dingen sprechen will, so ist es besser, zu den Toten als zu den Lebenden zu gehen.«

In dem Augenblick, als die Glocken Mitternacht schlugen, erschien wirklich eine Gestalt zwischen den Taxusbäumen und Zypressen.

»Nun, Herr von Beausire,« sagte die spöttische Stimme Cagliostros, »erkennen Sie mich nicht?«

»Ach! Sie sind's«, sagte Beausire. »Das ist schön.«

»Setzen Sie auf diesem Seitenpfad Ihren Weg fort,« sagte Cagliostro, »zwanzig Schritte von hier finden wir einen verfallenen Altar, auf dessen Stufen wir von unsern Geschäften sprechen können.«

Beausire folgte Cagliostro und trat so regelmäßig in seine Fußtapfen, wie ein Soldat des zweiten Gliedes in die seines Vordermannes tritt.

»Ah, sehen Sie, hier ist frische Erde«, sagte Cagliostro, der so plötzlich stehen blieb, daß Beausire mit dem Bauch an seinen Rücken stieß. »Es ist das Grab Ihres Kameraden Fleur d'Epine, der als Mörder des Bäckers François vor acht Tagen gehängt wurde.«

»Jetzt sind wir da«, sagte endlich Cagliostro, vor einer Art Ruine stehenbleibend. Er setzte sich auf eine verfallene Stufe und wies seinem Begleiter einen Stein an. Es war Zeit; die Beine des alten Soldaten schlotterten.

»Hier können wir ungestört plaudern, lieber Herr von Beausire«, sagte Cagliostro. »Sagen Sie, was ist denn heute abend unter den Arkaden des Place-Royale vorgegangen?«

»Ich muß gestehen, Herr Graf,« erwiderte Beausire, »daß ich mich in diesem Augenblick nicht mehr recht auf alles besinnen kann, und ich glaube, wir würden beide gewinnen, wenn Sie mich um alles fragten, was Sie zu wissen wünschen.«

»Gut,« sagte Cagliostro, »an der Form liegt mir wenig, wenn ich nur erfahre, was ich wissen will . . . Wieviel waren da?«

»Sechs, mich mit inbegriffen.«

»Sechs, Sie mit inbegriffen, lieber Herr von Beausire? Wir wollen doch sehen, ob es die Leute sind, die ich meine: – erstens Sie; das unterliegt keinem Zweifel . . . Dann Ihr Freund Tourcaty, ein vormaliger Werbeoffizier, der die Aushebung der Brabanter Legion übernimmt, nicht wahr?«

»Ja,« sagte Beausire, »Tourcaty war da.«

»Ferner ein guter Royalist namens Marquié? Dann der Marquis von Favras? Dann der Mann mit der Larve?«

»Ja.«

»Haben Sie mir über diesen Mann etwas mitzuteilen, Herr von Beausire?«

Beausire sah Cagliostro so scharf an, daß seine Augen in der Dunkelheit zu leuchten schienen.

»Nicht wahr,« sagte er, »es ist . . .«

Er hielt inne, als ob er gefürchtet hätte, eine Ruchlosigkeit auszusprechen.

»Wen meinen Sie?« fragte Cagliostro; »es ist . . .«

»Nicht wahr? . . .«

»Haben Sie denn einen Knoten in der Zunge, lieber Herr von Beausire? Nehmen Sie sich in acht, die Knoten in der Zunge haben zuweilen Knoten am Halse zur Folge, und diese sind gefährlicher, denn es sind Schleifknoten!«

»Nicht wahr,« erwiderte Beausire, der sich in die Enge getrieben sah, »es ist . . . der Graf Louis von Nav . . .«

»Vorsichtig!« sagte Cagliostro.

Beausire hielt inne.

»Jetzt, da uns über die Teilnehmer mit Maske und ohne Maske kein Zweifel mehr bleibt, wenden wir uns zu dem Komplott selbst. Nicht wahr, man will den König entführen?«

»Das ist in der Tat der Zweck des Komplotts.«

»Und man will ihn nach Peronne bringen?«

»Ja, nach Peronne.«

»Und die Mittel?«

»Man hat zwei Millionen . . .«

»Die ein Genueser Bankier vorschießt . . . Ich kenne den Bankier . . . Stehen sonst keine Geldmittel zu Gebote?«

»Ich glaube nicht.«

»Soweit also die Geldfrage. Aber man braucht nicht bloß Geld, sondern auch Leute.«

»Die Armee ist ja da. Zwölfhundert Reiter stehen in Versailles; sie brechen am festgesetzten Tage um elf Uhr abends auf; um zwei Uhr früh rücken sie in drei Kolonnen in Paris ein. Die erste marschiert in das Tor von Chaillot, die zweite in die Barrière du Roule, die dritte in die Barrière von Grenelle. Die letztere macht den General Lafayette nieder, die erste läßt Herrn Necker über die Klinge springen und die zweite schafft Herrn Bailly auf die Seite . . . Dann werden die Kanonen vernagelt, die Truppen ziehen sich in den Elysäischen Feldern zusammen und rücken gegen die Tuilerien, die unser sind.«

»Wie, die Nationalgarde hält doch die Tuilerien besetzt.«

»Jawohl, aber wir haben die Brabanter Kolonne mit einem Teile der besoldeten Garde; sie wird sich der Eingänge leicht bemächtigen; man dringt in die königlichen Gemächer und ruft: ›Sire, die Vorstadt Saint-Antoine ist im Aufstande . . . ein bespannter Wagen erwartet Sie . . . Sie müssen fliehen!‹ – Wenn der König in die Flucht willigt, so geht die Sache ganz leicht; wenn er nicht fliehen will, so bringt man ihn mit Gewalt fort und führt ihn nach Saint-Denis.«

»Gut!«

»Dort findet man zwanzigtausend Mann Infanterie, zu diesen stoßen die zwölfhundert Reiter, die Brabanter Legion, die vierhundert Schweizer, die dreihundert Verschworenen, zehn-, zwanzig-, dreißigtausend Royalisten, die sich unterwegs mit dem Hauptkorps vereinigen, und der König wird mit Gewalt nach Peronne geführt.«

»Und was geschieht in Peronne, lieber Herr von Beausire?«

»In Peronne findet man zwanzigtausend Mann; man unterhandelt über zwanzigtausend Schweizer, zwölftausend Deutsche und zwölftausend Sardinier, die, mit der ersten Eskorte des Königs vereinigt, einen Effektivbestand von hundertfünfzigtausend Mann bilden werden.«

»Eine hübsche Zahl!« sagte Cagliostro.

»Mit diesen hundertfünfzigtausend Mann marschiert man endlich gegen Paris; der Fluß wird oben und unten besetzt, um der Stadt die Lebensmittel abzuschneiden; Paris wird kapitulieren, man löst die Nationalversammlung auf und setzt den König, der dann wirklich wieder König ist, auf den Thron seiner Väter.«

»Amen!« sagte Cagliostro aufstehend. »Lieber Herr von Beausire, Sie haben ein höchst angenehmes Konversationstalent; aber es geht Ihnen wie den größten Rednern: wenn Sie fertig sind, haben Sie nichts mehr zu sagen . . . und Sie sind fertig, nicht wahr?«

»Ja, Herr Graf, für jetzt.«

»Dann guten Abend, lieber Herr von Beausire. Wenn Sie zehn Louisdor brauchen, – wohlverstanden, immer als Geschenk –, so besuchen Sie mich in Bellevue.«

»In Bellevue? . . . und ich habe nach dem Herrn Grafen von Cagliostro zu fragen?«

»O nein, man würde nicht wissen, wen Sie meinen. Fragen Sie nach dem Baron Zannone.«

»Nach dem Baron Zannone?« sagte Beausire erstaunt. »Das ist ja der Name des genuesischen Bankiers, der die zwei Millionen Wechsel Seiner königlichen Hoheit skontiert hat!«

»Wohl möglich«, sagte Cagliostro.

»Wie, wohl möglich?«

»Ja . . . Ich mache so viele Geschäfte, daß sich dieses Geschäft unter den übrigen verliert . . . Daher kam es, daß ich mich anfangs nicht recht erinnerte; aber jetzt glaube ich mich zu entsinnen.«

Beausire sah den Mann, der Geschäfte von zwei Millionen vergaß, erstaunt an, und er begann zu glauben, daß es wenigstens in pekuniärer Hinsicht besser sei, dem Darleiher zu dienen, als dem Geldnehmer.

Aber trotz seiner Verwunderung vergaß Beausire nicht den Ort, wo er sich befand, und er folgte dem Grafen auf dem Fuße. Man hätte sie für zwei Automaten halten können, die durch eine unsichtbare Feder in Bewegung gesetzt werden. Erst außerhalb des Gittertors trennten sich die beiden Körper und bewegten sich unabhängig voneinander.

»Wohin gehen Sie jetzt, lieber Herr von Beausire?« fragte Cagliostro.

»Und Sie?«

»Ich gehe einen Weg, den Sie nicht gehen.«

»Ich gehe zum Palais-Royal, Herr Graf.«

»Und ich zur Bastille, Herr von Beausire.«

Hierauf trennten sie sich, und beide verschwanden in der Finsternis.

 


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