Alexander Dumas
Die Gräfin Charny
Alexander Dumas

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Siebenundzwanzigstes Kapitel

Das Mißtrauen, das insgeheim alle Vertrauten der königlichen Familie gegen Frau von Rocheveul hegten, war nicht ohne Grund gewesen. Obgleich ihr Dienst am 11. aufgehört hatte, war sie doch, da sie Verdacht hegte, unter irgendeinem Vorwande wieder ins Schloß gekommen, und sie hatte bemerkt, daß die Schmuckkästchen der Königin zwar an ihrem Platze, aber die Diamanten nicht mehr darin waren. Marie Antoinette hatte sie ihrem Friseur Leonard anvertraut, und dieser sollte am Abend des 20., einige Stunden vor seiner erlauchten Gebieterin mit Herrn von Choiseul, dem Befehlshaber der ersten Truppenabteilung, abreisen. Der letztere sollte überdies zu Varennes sechs gute Pferde in Bereitschaft halten, und er erwartete in seiner Wohnung die Befehle des Königs.

Die Kammerfrau des Dauphin hatte vermutet, daß die Abreise auf Montag den 20., abends um elf Uhr, festgesetzt sei und ihren Geliebten, den Adjutanten Gourion, davon in Kenntnis gesetzt.

Am Abend dieses bedeutungsvollen Tages saß Andrea in ihrem Salon Isidor von Charny gegenüber, der eine Kurierjacke trug und in der Hand einen runden Tressenhut hielt.

»Noch einmal, Vicomte,« sagte sie, »warum ist er dann nicht selbst gekommen?«

»Mein Bruder hat mich seit seiner Rückkehr mehrmals beauftragt, Ihnen Nachricht von ihm zu geben.«

»Ich weiß es, aber ich meine doch, er hätte persönlich Abschied von mir nehmen können.«

»Es wird ihm wohl nicht möglich gewesen sein, Madame.«

»Vicomte, hat der Graf auf dieser Reise eine große Gefahr zu bestehen?«

»Wer kann sagen,« erwiderte Isidor ausweichend, »wo in unserer Zeit Gefahr ist, und wo nicht! Heutzutage kommt die Gefahr aus der Erde, und manchmal begegnet man dem Tode, ohne zu wissen, woher er kommt.«

Andrea erblaßte.

»Er ist also in Todesgefahr«, sagte sie; »nicht wahr, Vicomte?«

»Ich denke, Madame, daß es nicht schaden würde, wenn Sie mich beauftragten, ihm Ihre Gedanken und Wünsche mündlich oder schriftlich zu überbringen.«

»Es ist gut, Vicomte,« sagte Andrea aufstehend, »warten Sie nur fünf Minuten.«

Der Vicomte sah nach der Uhr. »Ein viertel Zehn!« sagte er; »der König erwartet uns um halb Zehn . . . . Zum Glück ist es nicht weit bis in die Tuilerien.«

Nach einigen Minuten kam die Gräfin mit einem gesiegelten Briefe zurück. »Vicomte,« sagte sie, »Ihrer Ehre vertraue ich dies an! Merken Sie wohl, was ich Ihnen sage. Wenn Ihr Bruder, der Graf von Charny, seine Reise glücklich vollendet, so haben Sie ihm nur zu sagen, was ich für ihn empfinde: Sympathie für seine Treue, Achtung für seine Bereitwilligkeit, Bewunderung für seinen Charakter! . . . Wenn er verwundet wird, so bitten Sie ihn, daß er mir erlaube, zu ihm zu kommen . . . Wenn er tödlich verwundet wird, so übergeben Sie ihm diesen Brief. Wenn er ihn nicht mehr lesen kann, so lesen Sie ihm diese Zeilen vor, denn ich will, daß er vor seinem Ende mit dem Inhalte derselben bekannt werde . . . Geben Sie mir Ihr Ehrenwort, Vicomte, daß Sie meinen Wunsch erfüllen wollen?«

Isidor von Charny neigte sich über die Hand der Gräfin und küßte sie wie zur Beteuerung. Dann eilte er fort. Als er in die Tuilerien kam, begegnete er zwei ihm unbekannten Offizieren, die im Vorzimmer des Königs warteten.

Eine Tür tat sich auf, und der König erschien. Sofort machte er von Charny mit Malden und Valory bekannt.

»Meine Herren,« sagte er dann, »Sie wissen, daß ich ein Gefangener bin . . . Ich habe auf Sie gezählt, auf Ihren Beistand, um dieses demütigende Joch abzuschütteln und meine Freiheit wiederzuerlangen. Mein und der Meinigen Schicksal lege ich in Ihre Hände; alles ist zur Flucht bereit. Sie haben nichts zu tun, als uns noch heute abend von hier fortzuhelfen.«

»Sire, befehlen Sie!« sagten die drei jungen Kavaliere.

»Sie sehen wohl ein, meine Herren, daß wir nicht zusammen fortgehen können . . . Unser Sammelplatz ist an der Ecke der Rue Saint-Nicaise, wo uns der Graf von Charny mit einer Mietkutsche erwartet. Sie, Vicomte, werden sich der Königin annehmen und auf den Namen Melchior antworten; Sie, Herr von Malden, werden Madame Elisabeth und Madame Royale unter Ihre Obhut nehmen und den Namen Jean führen; Sie, Herr von Valory, werden Frau von Tourzel und den Dauphin geleiten und sich François nennen lassen . . . Vergessen Sie Ihre neuen Namen nicht, meine Herren, und erwarten Sie hier Ihre ferneren Weisungen.«

Unterdessen weilte der Herzog von Choiseul in seiner Wohnung in der Rue d'Artois. Er hatte tags vorher dem König im Namen des Herrn von Bouillé erklärt, es sei unmöglich, länger als bis zum 20. um Mitternacht zu warten; wenn er keine Nachricht bekomme, werde er am 21. um vier Uhr früh abreisen und alle Truppenabteilungen wieder nach Dun, Stenay und Montmédy führen. Choiseul erwartete nun vom Hofe die letzten Befehle; und da es schon neun Uhr abends war, hatte er wenig Hoffnung mehr. Endlich meldete ihm der einzige Diener, den er bei sich behalten hatte, einen Boten der Königin.

Der Bote wurde sogleich vorgelassen. Er war in einen weiten Mantel gehüllt und hatte den Hut tief ins Gesicht gedrückt.

»Sie sind's, Leonard!« sagte Choiseul. »Ich habe Sie mit Sehnsucht erwartet.«

»Es ist nicht meine Schuld; die Königin zeigte mir erst vor zehn Minuten an, daß ich mich zu Ihnen begeben solle; sie hat mir befohlen, alle ihre Diamanten mitzunehmen und Ihnen diesen Brief zu überbringen.«

Der Herzog von Choiseul hatte mit dem Friseur die letzten Häuser von Petite-Villette noch nicht hinter sich, als ein aus dem Jakobinerklub kommender Trupp von fünf Personen in die Rue Saint-Honoré kam. Diese fünf Personen waren: Camille Desmoulins, Danton, Fréron, Chénier und Legendre.

Als die kleine Gesellschaft an der Ecke der Rue de l'Echelle war, warf Camille Desmoulins einen Blick auf die Tuilerien und sagte:

»Findet ihr nicht, daß Paris heute abend ruhiger ist? Die Stadt ist wie ausgestorben. Auf dem ganzen Wege, den wir gemacht haben, ist uns nur eine einzige Patrouille begegnet.«

»Das ist kein Zufall«, erwiderte Fréron; »es sind Maßregeln genommen, um den Weg für den König frei zu lassen.«

»Wie!« fragte Danton; »man will den Weg für den König frei lassen?«

»Allerdings,« sagte Fréron, »er reist in dieser Nacht ab.«

»Das ist gewiß nur Scherz!« sagte Legendre.

»Es ist möglich«, erwiderte Fréron; »aber es ist mir in einem Briefe angezeigt worden.«

»Die Flucht des Königs ist dir in einem Briefe angezeigt worden?« sagte Camille Desmoulins; »in einem unterzeichneten Briefe?«

»Nein, der Brief ist anonym . . . Ich habe ihn bei mir; da ist er . . . Lest nur.«

Die fünf Patrioten blieben bei einem Fiaker stehen, und bei dem Licht einer Wagenlaterne lasen sie folgende Zeilen:

»Dem Citoyen Fréron wird hiermit angezeigt, daß Mr. Capet, die Österreicherin und die beiden Kinder heute abend Paris verlassen und von Bouillé, dem Despoten von Nancy, an der Grenze erwartet werden.«

»Mr. Capet!« sagte Camille Desmoulins. »Der Name ist gut! Ich werde Ludwig XVI. von jetzt an Mr. Capet nennen.«

»Ich möchte doch wissen,« sagte Danton, »ob der Brief die Wahrheit sagt und ob die ganze königliche Sippschaft diesen Abend Reißaus nehmen wird.«

»Wir sind ja bei den Tuilerien,« sagte Desmoulins, »wir können uns selbst überzeugen.«

Die fünf Patrioten machten die Runde um die Tuilerien. Als sie wieder an die Rue Saint-Nicaise kamen, bemerkten sie Lafayette, der mit seinem ganzen Generalstab in den Schloßhof ritt.

»Wahrhaftig,« sagte Danton, »da ist Blondinet, der die königliche Familie zu Bett bringen will . . . unser Dienst ist zu Ende . . . Gute Nacht!«

Um elf Uhr abends wurde der General Lafayette mit seinen beiden Adjutanten von dem Könige, der Königin und Madame Elisabeth empfangen. Um dieselbe Zeit wurden Madame Royal und der Dauphin zur Reise angekleidet, – zur größten Beschämung des Dauphin, der durchaus den Mädchenanzug zurückwies.

Dieser Besuch des Generals war im höchsten Grad beruhigend, zumal nach dem Argwohn, den die Angaben der Frau von Rocheveul erregt hatten.

Die Königin und Madame Elisabeth hatten abends eine Spazierfahrt in den Boulogner Wald gemacht und waren um acht Uhr zurückgekommen.

Lafayette fragte die Königin, ob ihr die Spazierfahrt Vergnügen gemacht habe; er meinte, sie möge nicht so spät draußen bleiben, der Abendnebel könne ihr schaden.

»Ein Juniabend«, erwiderte die Königin lachend. »Ich wüßte wahrlich nicht, woher ich den Nebel nehmen sollte, wenn ich ihn etwa brauchte, um unsere Flucht zu verbergen . . . Ich sage: um unsere Flucht zu verbergen; denn ich glaube, es heißt noch immer, daß wir abreisen?«

»Es ist wahr, Eure Majestät,« sagte Lafayette, »man spricht jetzt mehr als je davon, und man hat mir sogar gesagt, daß die Abreise heute abend stattfinden soll.« – –

Um halb zwölf Uhr beurlaubte sich Lafayette mit seinen beiden Adjutanten. Lafayette begab sich in das Stadthaus, um Baillys Besorgnisse über die Absichten des Königs vollends zu beschwichtigen.

Als der General fort war, riefen der König, die Königin und Madame Elisabeth ihre Dienerschaft und ließen sich wie gewöhnlich beim Auskleiden behilflich sein; dann wurden alle zur gewohnten Stunde entlassen.

Die Königin und Madame Elisabeth kleideten sich gegenseitig an; kaum waren sie fertig, kam der König; er trug einen grauen Frack und eine kleine Perücke; dazu kurze Hosen, graue Strümpfe und Schuhe mit Schnallen.

Seit acht Tagen war der Kammerdiener Hue jeden Abend in genau dem gleichen Anzuge aus der Tür des längst ausgewanderten Herrn von Villequier gekommen und über den Karussellplatz gegangen. Man hatte diese Vorsichtsmaßregel angewandt, um die Wachen und andere Personen im Schlosse an das Erscheinen eines so gekleideten Mannes zu gewöhnen und dem Erscheinen des Königs das Auffallende zu nehmen.

Man holte nun die drei Kuriere aus dem Boudoir der Königin, wo sie die festgesetzte Stunde erwartet hatten, und führte sie durch den Salon in das Appartement der Madame Royale, wo sich diese mit dem Dauphin aufhielt. Dieses Zimmer war bereits am 11. Juni von Villequier geräumt worden; von dieser Wohnung aus war es nicht schwierig, das Schloß zu verlassen. Es war bekannt, daß sie leer stand; man wußte nicht, daß der König die Schlüssel dazu hatte.

Überdies waren die Schildwachen in den Höfen gewohnt, gegen Mitternacht viele Leute auf einmal fortgehen zu sehen, denn die Hofdiener, die nicht im Schlosse wohnten, begaben sich um diese Zeit nach Hause.

Alle Anordnungen zur Reise waren getroffen. Isidor von Charny, der mit seinem Bruder alle gefährlichen Orte an der Landstraße inspiziert hatte, sollte vorauseilen, um auf allen Stationen die Pferde in Bereitschaft zu halten.

Malden und Valory, die auf dem Bock sitzen sollten, sollten den Postillions dreißig Sous Trinkgeld bezahlen. Besonders schnelles Fahren sollte mit größeren Trinkgeldern belohnt werden; doch mehr als vierzig Sous durften nicht aufgewendet werden. Nur der König bezahlte einen Taler.

Der Graf von Charny sollte wohlbewaffnet im Wagen sitzen, um jedem Unfall zu begegnen; auch jeder der drei Kuriere sollte ein paar Pistolen im Wagen bereithalten.

Man hatte berechnet, daß man bei mittelmäßig schnellem Tempo in dreizehn Stunden in Châlons sein könnte.

All dies war zwischen dem Grafen von Charny und dem Herzog von Choiseul verabredet worden, und alle Weisungen waren daraufhin an die drei jungen Kavaliere weitergegeben worden.

Die Kerzen wurden ausgelöscht und man tappte im Finstern durch die Zimmer Villequiers.

Es schlug gerade zwölf, als man aus dem Zimmer der kleinen Prinzessin in die leerstehende Wohnung trat. Der Graf von Charny mußte seit einer Stunde auf seinem Posten sein.

Endlich fand der König die Tür. Er wollte den Schlüssel in das Türschloß stecken, aber die Königin hielt ihn zurück.

Man lauschte. Im Korridor hörte man Fußtritte und Geflüster. Draußen ging etwas vor.

Frau von Tourzel, die im Schlosse wohnte und deren Erscheinen in den Korridoren daher zu keiner Zeit auffallen konnte, erbot sich, durch die Zimmer zurückzugehen und nachzusehen, was das Geräusch und Geflüster bedeute.

Niemand wagte sich zu rühren; jeder hielt den Atem an.

Frau von Tourzel kam zurück; sie hatte den Adjutanten Gouvion erkannt und mehrere Uniformen gesehen.

Madame Elisabeth ging in das Zimmer der kleinen Prinzessin zurück und zündete das ausgelöschte Wachslicht an der noch brennenden Nachtlampe an. Mit diesem Licht versehen, suchten die Flüchtlinge jetzt einen andern Ausgang aus der Wohnung Villequiers.

Lange hielt man alles Suchen für fruchtlos, und es verging darüber mehr als eine Viertelstunde. Endlich fand man eine kleine Treppe, die zu einem einzelnen Zimmer im Zwischenstock führte. Dieses Zimmer, welches der Bediente Villequiers bewohnt hatte, stieß an einen Korridor und eine Hintertreppe.

Die Tür war verschlossen. – Der König versuchte alle Schlüssel; keiner paßte. Der Vicomte von Charny suchte den Schloßriegel mit der Spitze seines Hirschfängers zurückzustoßen, aber der Schloßriegel widerstand.

Daraufhin nahm der König das Wachslicht, ließ die übrigen im Dunkeln zurück und begab sich in sein Schlafzimmer und von da auf der geheimen Treppe in seine Werkstatt. Dort nahm er ein Bündel Dietriche und ging zurück.

Einer faßte, die Tür ging auf, und alle atmeten wieder frei.

Mit frohlockender Miene sah Ludwig die Königin an.

»Nun, was sagen Sie dazu, Madame?« fragte er.

»Es ist wahr,« erwiderte die Königin lachend, »es ist gar nicht übel, Schlosser zu sein.«

Madame Elisabeth ging mit der kleinen Prinzessin voran. Zwanzig Schritte hinter ihr kam Frau von Tourzel mit dem Dauphin. Zwischen beiden ging Herr von Malden, der bereit war, ihnen nötigenfalls zu Hilfe zu kommen.

Als sie an die Tür des Karussellplatzes kamen, stand die Schildwache still. »Tante,« flüsterte die kleine Prinzessin, die Hand ihrer Begleiterin fassend, »wir sind verloren! der Soldat erkennt uns!«

»Das tut nichts, mein Kind«, erwiderte Madame Elisabeth; »wir sind noch mehr verloren, wenn wir zurückweichen.«

Sie setzten ihren Weg fort. Als sie der Schildwache bis auf einige Schritte nahegekommen waren, kehrte ihnen diese den Rücken zu, und sie gingen ungehindert weiter.

Ob der Soldat sie wirklich erkannt hatte? Ob er wußte, welche erlauchten Flüchtlinge er durchließ? Die Prinzessinnen waren davon überzeugt und segneten im stillen diesen unbekannten Retter.

Außerhalb des kleinen Gittertores bemerkten sie den Grafen von Charny, der schon in der größten Unruhe war.

Er trug einen weiten blauen Mantel und einen runden Hut von Wachsleinwand.

»Mein Gott! sind Sie endlich da?« flüsterte er. »Aber der König und die Königin? . . .«

»Sie folgen uns«, antwortete Madame Elisabeth.

Er führte die Flüchtlinge schnell zu der Mietkutsche, die in der Rue Saint-Nicaise hielt. Ein Fiaker hielt neben der Mietkutsche.

»Du scheinst eine Fahrt zu haben, Kamerad?« sagte der Fiakerkutscher, als er die von dem Grafen Charny mitgebrachten Personen sah.

»Wie du siehst, Kamerad«, antwortete Charny.

Dann sagte er leise zu dem Leibgardisten:

»Nehmen Sie diesen Fiaker und fahren Sie zu dem Tor Saint-Martin; den Wagen, der uns erwartet, werden Sie leicht erkennen.«

Malden verstand ihn und setzte sich in den Fiaker.

»Und du hast auch deine Fahrt«, sagte er. »Geschwind zum Opernhaus!«

Kaum war der Fiaker in der Rue de Rohan verschwunden, so trat ein Mann in grauem Frack, den dreieckigen Hut tief ins Gesicht gedrückt, beide Hände in den Taschen, durch das Gittertor.

Es war der König. Herr von Valory folgte ihm.

Charny ging dem König einige Schritte entgegen; er hatte ihn erkannt, aber nicht an seiner Kleidung oder Haltung, sondern an Herrn von Valory, der ihm folgte.

»Kommen Sie, Sire«, flüsterte er ihm zu. »Und die Königin?« fragte er Herrn von Valory leise.

»Die Königin folgt uns mit Ihrem Herrn Bruder.«

»Gut; nehmen Sie den kürzesten Weg und erwarten Sie uns am Tor Saint-Martin; ich werde den längsten Weg wählen. Wir treffen uns an dem Wagen.«

Valory eilte auf dem kürzesten Wege zum Stelldichein.

Man wartete noch auf die Königin. – Es verging eine halbe Stunde. Charny, auf welchem die ganze Verantwortung lastete, war außer sich. Er wollte in das Schloß zurückeilen und sich erkundigen. Der König hielt ihn zurück. Der kleine Dauphin rief weinend nach seiner Mutter. Madame Royale, Madame Elisabeth und Frau von Tourzel vermochten ihn nicht zu trösten.

Die Angst wurde noch größer, als der Wagen des General Lafayette, von Fackeln begleitet, sichtbar wurde und auf den Karussellplatz fuhr. Dieser Wagen war auch der Königin begegnet, die mit Isidor von Charny einen unfreiwilligen Umweg gemacht hatte. Die beiden sahen ihn kommen und traten unter einen Torbogen, als auch schon die Pferde der Fackelträger zum Vorschein kamen. Der Vicomte schob die Königin in den dunkelsten Winkel und stellte sich vor sie hin.

In dem von den Fackelträgern umgebenen Wagen saß der General Lafayette in prächtiger Uniform.

In dem Augenblick, als der Wagen vorüberfuhr, fühlte sich Isidor durch einen starken Arm beiseite geschoben. Es war der Arm der Königin. Sie hatte ein dünnes Bambusrohr mit goldenem Knopf in der Hand und schlug damit an die Wagenräder, indem sie sagte:

»Geh, Kerkermeister! ich bin nicht mehr in deiner Gewalt!«

»Was machen Sie, Madame?« sagte Isidor. »Sie setzen sich der größten Gefahr aus!«

»Ich räche mich!« antwortete die Königin, »und daran kann man schon etwas wagen.«

Die Königin war kaum zehn Schritte von dem Gittertor entfernt, als ein Mann in blauem Mantel, mit einem tief in die Augen gedrückten Wachstuchhut, schnell auf sie zutrat, ihren Arm faßte und sie zu einer an der Ecke der Rue Saint-Nicaise haltenden Mietskutsche führte.

Man glaubte die Königin bestürzt, erschöpft, halb ohnmächtig ankommen zu sehen; aber sie war ungemein heiter und vergnügt; zehn Schritte vor der Mietskutsche hielt ein Diener ein Pferd am Zügel.

Der Graf von Charny gab seinem Bruder einen Wink, Isidor schwang sich in den Sattel und jagte davon.

»Steigen Sie ein, Madame,« sagte Charny, »es ist kein Augenblick zu verlieren.«

Die Königin stieg ein. Es saßen bereits fünf Personen, nämlich der König, Madame Elisabeth, Madame Royale, der Dauphin und Frau von Tourzel in der Kutsche. Sie nahm den Dauphin auf den Schoß; der König saß an ihrer Seite, Madame Elisabeth, Madame Royale und Frau von Tourzel hatten den Rücksitz eingenommen.

An der Porte Saint-Martin hielt der Reisewagen. Malden und Valory standen zu beiden Seiten des bereits geöffneten Schlages.

Der Graf von Charny sprang schnell vom Bock, riß die Tür der Mietskutsche auf und ließ die sechs Personen aussteigen.

Der König stieg zuerst ein, dann die Königin und Madame Elisabeth, endlich Frau von Tourzel mit den beiden Kindern. Malden stieg hinten auf; Valory setzte sich neben Charny auf den Bock. Der Wagen war mit vier Pferden bespannt, die sogleich in Trab gesetzt wurden. Es schlug ein Viertel zwei. In einer Stunde waren die Flüchtlinge in Bondy. Die bereits angeschirrten Pferde warteten vor dem Stalle; auf der andern Seite der Landstraße hielt ein mit Postpferden bespanntes Kabriolett, in welchem zwei zu der Hofhaltung des Dauphin und der kleinen Prinzessin gehörende Kammerfrauen saßen.

Sie hatten in Bondy einen Mietswagen zu finden geglaubt, und da ihnen dies nicht gelungen war, hatten sie das Kabriolett um tausend Franken gekauft.

Der Verabredung gemäß, sollte Charny in Bondy den Platz der Frau von Tourzel einnehmen, und diese sollte allein nach Paris zurückkehren. Aber man hatte vergessen, Frau von Tourzel von diesem Plan in Kenntnis zu setzen. Der König setzte ihn ihr auseinander.

Frau von Tourzel antwortete: »Ich werde Sie nicht verlassen.«

Die Königin zitterte vor Ungeduld. Sie hatte doppelte Ursache, zu wünschen, daß Charny im Wagen Platz nehme; in seiner Nähe fühlte sie sich gleichzeitig geborgen und beglückt.

Frau von Tourzel ließ sich jedoch nicht bewegen, zurückzubleiben. Man einigte sich dahin, daß Graf Charny nach Paris zurückreiten sollte, um dann, als einfacher Kurier gekleidet, den Wagen wieder einzuholen.

»Gibt es kein anderes Mittel?« fragte Marie Antoinette voller Angst.

»Ich weiß keines«, sagte der König.

»Dann dürfen wir keine Zeit verlieren«, versetzte Charny. »Geschwind, Jean und François, auf euren Posten! Vorwärts, Melchior! . . .«

In dem lebhaften Gespräch hatte man vergessen, dem Vicomte von Charny, Herrn von Valory und Herrn von Malden die im Sitzkasten des Wagens befindlichen Pistolen zu geben.

Gegen drei Uhr brach der Tag an; in Meaux wurden die Pferde gewechselt. Der König hatte Hunger, und es wurde der Flaschenkeller, den der Graf von Charny mit kaltem Braten, Brot und vier Flaschen Wein gefüllt hatte, hervorgesucht. Da weder Messer noch Gabeln da waren, nahm der König den Hirschfänger des Herrn von Malden, um den Braten zu schneiden.

Unterdessen neigte sich die Königin aus dem Wagen und schaute zurück, vermutlich um zu sehen, ob Charny noch nicht da war.

»Woran denken Sie, Madame?« fragte der König.

»Ich?« erwiderte die Königin mit gezwungenem Lächeln; »ich denke an Herrn von Lafayette . . . . Es wird ihm in diesem Augenblick gewiß nicht wohl zumute sein!«

Gegen acht Uhr morgens kam man an eine Anhöhe. Der Postillon begann im Schritt zu fahren. Die beiden Diener sprangen vom Bock.

»Jean,« sagte der König, »ich möchte die Anhöhe hinaufgehen, und ich glaube, daß die Kinder und die Königin die kleine Strecke ebenfalls gern zu Fuß zurücklegen werden.«

Die kleine königliche Gesellschaft verteilte sich sogleich auf der Landstraße. Der Dauphin lief Schmetterlingen nach, Madame Royale pflückte Blumen. Madame Elisabeth nahm den Arm des Königs; – die Königin ging allein.

Wer diese auf dem Wege zerstreute Familie gesehen hätte, würde sie für eine Gutsherrschaft gehalten haben, die sich auf ihr Schloß zurückbegibt.

Plötzlich blieb die Königin wie angewurzelt stehen. Auf der Landstraße erschien, in eine Staubwolke gehüllt, ein galoppierender Reiter.

Marie Antoinette sagte: »Ah! Nachricht von Paris!«

Alle sahen sich um, ausgenommen der Dauphin; der sorglose Knabe hatte den Schmetterling, dem er nachgejagt war, soeben gefangen; was lag ihm an den Nachrichten von Paris!

Es war wirklich der Graf von Charny; er trug einen grünen Reitrock mit flatterndem Kragen und einen Hut mit breitem Rand.

Sein sonst blasses Gesicht hatte durch den schnellen Ritt eine lebhaftere Farbe bekommen und seine Augen strahlten in ungewöhnlichem Feuer . . . Die Königin hatte ihn noch nie so schön gesehen.

Er stieg vom Pferde und verneigte sich vor dem König.

»Es geht alles gut, Sire«, sagte Charny; »um zwei Uhr früh hatte noch niemand eine Ahnung von Ihrer Flucht.«

Die Reisegesellschaft setzte sich wieder in den Wagen; der Postillon setzte die Pferde in Trab; Charny ritt neben dem Wagen her.

Auf der nächsten Poststation fand man die Pferde bereit, nur nicht das Reitpferd für den Grafen. Isidor hatte nicht gewußt, daß sein Bruder ein Reitpferd brauchte. Der Wagen fuhr sogleich ab. – Charny mußte warten, aber fünf Minuten später war er im Sattel; er glaubte, der Wagen sei vorausgefahren; als er aber um eine Straßenecke bog, fand er den Wagen am Wege liegen; er konnte nicht weiter, weil ein Strang gerissen war. Hierdurch verlor man mehr als eine halbe Stunde Zeit, und jede Minute war ein unersetzlicher Verlust!

Um zwei Uhr kamen die Reisenden nach Châlons; die Pferde wurden gewechselt.

Der König zeigte sich einen Augenblick. Unter den Neugierigen waren zwei Männer, die ihn aufmerksam ansahen.

Plötzlich entfernte sich einer und verschwand.

Der andere trat näher.

»Sire,« sagte er leise, »zeigen Sie sich nicht so . . . Sie sind sonst verloren!«

Endlich sind die Pferde eingespannt, die Postillone im Sattel. Der erste Postillon treibt die Pferde an . . . beide stürzen.

Die Pferde werden mit Peitschenhieben wieder auf die Beine gebracht; man will den Wagen in Bewegung setzen, die beiden Pferde des zweiten Postillons stürzen ebenfalls. Der Postillon kommt unter das Sattelpferd zu liegen.

Charny stürzt auf den Postillon zu und reißt ihn unter dem Pferde hervor. Die steifen Stiefel des Postillons bleiben am Boden liegen.

Die Pferde sind dergestalt in den Strängen verwickelt, daß sie kaum wieder aufstehen können.

Charny stürzt auf die Pferde zu.

»Geschwind die Stränge los!« sagt er, »und dann wieder eingespannt!«

Inzwischen eilt der Mann, der sich plötzlich entfernt hatte, zu dem Bürgermeister; er meldet ihm, daß der König samt seiner Familie die Pferde wechselten, und verlangt einen Verhaftungsbefehl.

Anstatt sich von der Wahrheit der Aussage zu überzeugen, erklärt der Bürgermeister, die Sache könne nicht wahr sein, und als er endlich zum Äußersten getrieben wird, macht er sich zögernd auf den Weg zum Posthause. Aber es ist zu spät, der Wagen ist schon fort. Man hat mehr als zwanzig Minuten verloren.

Aber kaum sind die Reisenden hundert Schritte weitergefahren, so eilt ein Mann an den Wagen und ruft ihnen zu:

»Sie haben Ihre Maßregeln schlecht getroffen; man wird Sie anhalten!«

Die Königin schreit vor Schreck laut auf; der unbekannte Mann läuft davon und verschwindet in einem kleinen Walde.

Zum Glück sind es nur noch vier Meilen bis Pont-de-Sommevelle, wo der Herzog von Choiseul mit seinen vierzig Husaren wartet.

Aber es ist drei Uhr nachmittags, und man hat sich fast vier Stunden verspätet! . . .

 


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