Alexander Dumas
Die Gräfin Charny
Alexander Dumas

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Dreiundfünfzigstes Kapitel

Am 21. September um die Mittagstunde tat sich die Tür des großen Saales der Reitschule auf und die siebenhundertneunundvierzig Mitglieder der neuen Nationalversammlung erschienen, um ihre Plätze einzunehmen.

Zweihundert Deputierte waren Mitglieder der alten Nationalversammlung gewesen. Der Nationalkonvent war unter dem Eindruck der Septembernachrichten gewählt worden, die Vermutung lag daher sehr nahe, daß in der neuen Versammlung ein reaktionärer Geist herrsche.

Aber in einem Gefühl stimmten die Abgeordneten jedenfalls überein: sie verurteilten die Septembergreuel und haßten die Vertreter der Stadt Paris, denn diese stammten fast alle aus dem Gemeinderate, dem Anstifter jener Schreckenstage.

Man hätte sagen können, das vergossene Blut fließe mitten durch den Sitzungssaal und trenne die hundert Deputierten der Stadt von den übrigen Mitgliedern der Nationalversammlung.

Unter den Gehaßten saßen: Robespierre, Danton und Marat! Ihr Ziel war, wie die Girondisten behaupteten, die Diktatur.

Zwei Männer saßen auf den beiden entgegengesetzten Seiten dieser Nationalversammlung. Es waren Billot und Gilbert.

Gilbert saß auf der äußersten Rechten, Billot auf der äußersten Linken.

Pétion wurde einstimmig zum Präsidenten ernannt.

Fast der ganze Nationalkonvent wollte die Republik. Die Girondisten hatten jedoch beschlossen, die Frage über die Veränderung der Regierungsform erst später zur Sprache zu bringen. Aber am 20. September, dem Tage der Schlacht von Valmy, in der Dumouriez die Preußen schlug, lieferten andere Kämpfer eine Schlacht, die noch entscheidender und folgenreicher war.

Saint-Just, Panis, Billaud-Varennes, Collot d'Herbois und einige andere Mitglieder der künftigen Nationalversammlung waren im Palais-Royal versammelt und speisten. Sie verabredeten, am folgenden Tage ihren Feinden das Wort Republik als Handschuh hinzuwerfen.

Collot d'Herbois hatte sich erboten, den Antrag zu stellen.

Kaum hatte Franz von Neufchâteau die Vollmachten der vorigen Nationalversammlung übergeben, so verlangte Collot d'Herbois das Wort.

»Bürgerrepräsentanten,« sagte er, »ich stelle den Antrag: der erste Beschluß der eben zusammengetretenen Nationalversammlung sei die Abschaffung des Königtums.«

Die Verkündung der Republik entsprach einem laut ausgesprochenen Wunsche, einem dringenden Bedürfnis der Nation; es war die Weihe des langen Kampfes, den das Volk bestanden; es war die Erhebung des Volkes auf Kosten des Königtums. Jeder Franzose schien aufzuatmen, als ob ihm die Last des bourbonischen Thrones von der Brust gewälzt wäre.

Die Stunden der Täuschung waren kurz; man glaubte eine Republik zu proklamieren und bestätigte eine Revolution.

Die wahren Republikaner, die eine von Verbrechen freie Republik wollten, freuten sich. Die Republik war ja die Verwirklichung ihres höchsten Wunsches, endlich hatten sie es dahin gebracht, daß man unter den Trümmern von zwanzig Jahrhunderten das Urbild der menschlichen Staatseinrichtungen hervorholte. Es war ein schöner, herrlicher Traum. Jeder schloß die Augen vor der Zukunft und warf einen Schleier über den unbekannten Ozean, auf dem man schon den Sturm brausen hörte.

Der gemeinsame Gedanke hatte Gestalt angenommen: die junge Republik war mit Helm und Lanze bewaffnet auf die Welt gekommen.

Bei einem Festmahl, das anschließend abgehalten wurde, wurden erhabene Gedanken, edle Gefühle ausgetauscht.

Manche sahen in der Wonnetrunkenheit ihrer jungen Hoffnungen den Himmel offen. Dies waren die jungen, glühend, begeisterten Männer, zumal Barbaroux, Rebecqui, Ducos, Fayer, Fonfrède.

Andere blieben auf halbem Wege stehen, um Kräfte zu sammeln für den Weg, den sie noch zurückzulegen hatten. Dies waren die früheren Mitglieder der gesetzgebenden Versammlung, deren Last ihnen beinahe zu schwer geworden war: Guadet, Gensonnè, Grangeneuve, Vergniaud.

Noch andere fühlten, daß sie ihr Ziel erreicht hatten und nicht mehr populär waren; sie lagen behaglich im Schatten des jungen Freiheitsbaumes und fragten sich, ob es wohl der Mühe wert sei, wieder aufzustehen. Zu diesen gehörten Roland und Pétion.

Aber wer war nach der Meinung aller berufen, die wichtigste Rolle in der kommenden Zeit zu spielen, und wer war in ihren Augen der Haupturheber der jungen Republik, und wer war vom Schicksal bestimmt, der künftige Leiter derselben zu sein? – Vergniaud.

Als der Festschmaus zu Ende war, füllte er sein Glas und stand auf.

»Freunde,« sagte er, »einen Trinkspruch!«

Alle standen ebenfalls auf.

»Auf die ewige Dauer der Republik!«

Um dieselbe Zeit, als Verginaud diesen Trinkspruch ausbrachte, hörte man im Temple ein Trompetensignal. Der König und die Königin konnten durch die offenen Fenster ihrer Zimmer einen Munizipalbeamten hören, der mit lauter fester Stimme die Abschaffung des Königtums und die Errichtung der Republik verkündete.

Wie unglücklich auch die Gefangenen waren, ein großer Trost war ihnen bisher geblieben; sie waren vereinigt. – Aber der Gemeinderat beschloß, den König von seiner Familie zu trennen.

Am 26. September, fünf Tage nach der Verkündigung der Republik, erfuhr Cléry von einem Munizipalbeamten, daß die Wohnung, die man im großen Turm für den König bestimmt hatte, bald bereit sei.

Mit tiefem Schmerz überbrachte Cléry seinem Herrn diese traurige Nachricht; aber der König sagte mit seiner gewohnten Fassung: »Suche den Tag dieser schmerzlichen Trennung zu erfahren und setze mich davon in Kenntnis.«

Aber Cléry erfuhr nichts und konnte dem König nichts weiter berichten.

Am 29. um zehn Uhr morgens erschienen zwei Munizipalbeamte in dem Zimmer der Königin, als eben die ganze Familie versammelt war. Sie überbrachten einen Brief des Gemeinderates, den Gefangenen Papier, Tinte, Federn und Bleistift zu nehmen.

Man durchsuchte nicht nur die Zimmer, sondern auch die Gefangenen selbst.

Der König und die Königin machten keinerlei Bemerkung; sie durchsuchten ihre Taschen und gaben alles hin, was sie bei sich hatten.

Erst jetzt erfuhr Cléry, daß der König noch am selben Abend in den großen Turm gebracht werden sollte.

Bis zum Abend ereignete sich nichts Neues. Bei jedem Geräusch, bei jedem Aufgehen einer Tür pochte den Gefangenen das Herz, und sie reichten einander die Hände.

Der König blieb länger als gewöhnlich in dem Zimmer der Königin; aber endlich schlug die Scheidestunde. – Die Tür ging auf und sechs Munizipalbeamte erschienen mit einem neuen Dekret des Gemeinderates, das sie dem Könige vorlasen.

Es war der offizielle Befehl zur Übersiedelung in den großen Turm.

Dieses Mal vermochte Ludwig XVI. seine gewohnte Ruhe nicht zu bewahren. Der Abschied war lang und schmerzlich. Alle fühlten eine ahnungsvolle Bangigkeit und blickten mit Schaudern und Tränen in die Zukunft.

Endlich mußte der König den Beamten folgen; die Tür schloß sich hinter ihm mit einem dumpfen, grauenerregenden Tone, der den Zurückbleibenden jede Hoffnung, jeden Trost nahm.

Man hatte sich so sehr beeilt, den Gefangenen diesen neuen Schmerz zu bereiten, daß die neue Wohnung noch nicht eingerichtet war. Es waren nur zwei Stühle und ein Bett darin, und die frische Ölfarbe verbreitete einen unerträglichen Geruch.

Der König ging zu Bett, ohne eine Klage zu äußern. Cléry blieb die Nacht auf einem Sessel.

Am andern Morgen kleidete der Kammerdiener den König an und wollte sich dann in den kleinen Turm begeben, um den Dauphin anzukleiden. Es wurde ihm nicht gestattet, und einer der Hüter sagte zu ihm: »Sie haben mit den übrigen Gefangenen nichts mehr zu tun; der König wird seine Kinder nicht mehr sehen.«

Dieses Mal hatte Cléry nicht den Mut, seinem Herrn die traurige Kunde zu überbringen.

Der König verlangte um neun Uhr zu seiner Familie geführt zu werden.

»Wir haben keinen Befehl dazu«, sagten die Kommissare.

Ludwig XVI. blieb allein mit Cléry. Beide waren sehr niedergeschlagen.

Eine halbe Stunde nachher erschienen zwei Beamte mit einem Aufwärter aus einem Kaffeehause, der dem König ein Stück Brot und ein Glas Limonade brachte.

»Meine Herren,« fragte Ludwig XVI., »könnte ich nicht mit meiner Familie speisen?«

»Wir werden die Befehle des Gemeinderates einholen«, antwortete man.

»Und wenn ich nicht hinuntergehen kann, so kann doch mein Kammerdiener gehen; er bedient meinen Sohn, und ich hoffe, daß es ihm auch künftig gestattet sein wird.«

Der König sprach diese Frage so sanft und ohne alle Bitterkeit aus, daß die Kommissare ganz erstaunt waren und nicht wußten, was sie antworten sollten; man hatte etwas ganz anderes erwartet als diesen Ton, dieses Benehmen, diesen mit Würde ertragenen Schmerz.

Cléry war geblieben; er stand noch regungslos an derselben Stelle und sah seinen Herrn mit unaussprechlicher Bangigkeit an.

Der König nahm das Stück Brot, brach es in zwei Hälften und reichte die eine dem Kammerdiener.

»Armer Cléry,« sagte er, »man scheint Ihr Frühstück vergessen zu haben; nehmen Sie die Hälfte von meinem Brot, ich habe an der andern genug.«

Cléry wollte es nicht annehmen, aber der König ließ nicht nach und drängte ihm das Brot auf. Cléry nahm es schluchzend. – Auch der König weinte.

Um zehn Uhr führte man die Handwerker herein, die in der Wohnung arbeiteten. Einer der Beamten trat auf den König zu und sagte mit inniger Teilnahme:

»Ich war bei dem Frühstück Ihrer Familie und bin beauftragt, Ihnen zu sagen, daß sich alle wohlbefinden.«

Der König fühlte sich leichter; die Teilnahme dieses Mannes tat ihm wohl.

»Ich danke Ihnen,« antwortete er, »könnte ich nicht einige Bücher bekommen, die ich in dem Zimmer der Königin gelassen habe? Haben Sie die Güte, sie mir zu schicken.«

Der Hüter war sogleich bereit, diese Bitte zu gewähren; aber er konnte nicht lesen und war daher in Verlegenheit. Endlich ersuchte er Cléry ihn zu begleiten.

Cléry war sehr erfreut, es wurde ihm Gelegenheit geboten, der Königin Nachricht von ihrem Gemahl zu bringen.

Als Cléry erschien, standen die Königin, Madame Elisabeth und Madame Royale auf, alle drei sahen ihn fragend an, aber ohne ihn anzureden. Der kleine Dauphin eilte auf ihn zu und sagte: »Da ist mein guter Cléry!«

Leider konnte Cléry nur wenige abgemessene Worte sagen, aber die Königin vermochte ihren Gefühlen nicht länger Zwang anzutun, sie wandte sich unmittelbar an die Hüter und sagte zu ihnen:

»Oh, meine Herren, warum kann der König nicht bei uns sein? Wenn's auch nur einige Minuten täglich, wenn's auch nur bei Tische wäre!«

Die Prinzessin Elisabeth und Madame Royale standen mit gefalteten Händen, ohne ein Wort zu sagen, dabei.

»Meine Herren,« sagte der Dauphin, »ich bitte Sie, lassen Sie meinen Vater wieder zu uns kommen! Ich will auch für Sie beten.«

Die Hüter sahen einander an, ohne zu antworten.

»Heute«, sagte endlich der Beamte, der mit dem Könige gesprochen, »heute können Sie noch zusammen speisen.«

»Aber morgen?« sagte die Königin.

»Madame,« antwortete der Mann, »wir müssen nach den Beschlüssen des Gemeinderats handeln; morgen werden wir tun, was er befiehlt . . .«

Auch ein Munizipalbeamter konnte sich der Tränen nicht erwehren.

Dann sagte er, seine Gefühle bekämpfend, zu der Königin: »Als Sie am 10. August das Volk morden ließen, haben Sie keine Tränen vergossen!«

»Ach! das Volk hat sich über unsere Gefühle sehr getäuscht! Wenn es uns besser zu beurteilen wüßte, würde es wie Sie über uns weinen.«

Der Tisch wurde in der neuen Wohnung des Königs gedeckt. Die ganze Familie wurde hinübergeführt. Man war sehr vergnügt wie bei einem Festschmause; durch den einzigen Tag glaubte man alles gewonnen zu haben.

Man hatte in der Tat viel gewonnen, denn von nun an hörte man nichts mehr von dem Beschlusse des Gemeinderates, und der König war, wie früher, den ganzen Tag bei seiner Familie.

 


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