Alexander Dumas
Die Gräfin Charny
Alexander Dumas

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Einundvierzigstes Kapitel

Santerre war den ganzen Tag durch die Straßen der Vorstadt Saint-Antoine geritten. Neben ihm ritt, wie ein Adjutant neben seinem General, Billot.

Viel Volk war auf der Straße.

»Haltet euch bereit, Freunde, und seid wachsam«, sagte Santerre; »die Verräter führen etwas gegen die Nation im Schilde . . . aber wir sind da!«

»Wo sind die Verräter? Führen Sie uns gegen sie!« schrien die Vorstädter.

»Wartet nur,« sagte Santerre, »bis der Augenblick gekommen ist.«

»Wann wird er kommen?«

»Seid nur ruhig, Freunde; ihr werdet es schon erfahren.«

Der Begleiter Santerres bückte sich auf den Hals seines Pferdes und sagte leise zu einigen Männern, die er an gewissen Zeichen erkannte:

»Am 20. Juni . . . am 20. Juni!«

Die Männer merkten sich das Datum und gingen fort. Zehn, zwanzig, dreißig Schritte von da bildeten sich Gruppen um sie, und das Datum flog leise von Mund zu Mund:

»Am 20. Juni.«

Was am 20. Juni geschehen sollte? das wußte man noch nicht; man wußte nur, daß etwas geschehen sollte.

Unter den Männern, denen dieses Datum mitgeteilt wurde, konnte man etliche erkennen:

Fournier, den Amerikaner, der durch die Räder eines Wagens auf Lafayette geschossen und dem dabei das Gewehr versagt hatte.

Beausire, den wir schon kennengelernt haben, Mouchet, Gonchon, den Mirabeau des Volkes, und Danton.

Mitten unter dieser Schar ging ein blasser, magerer junger Mann auf und ab. Er kannte niemand und niemand kannte ihn. Er wandelte einsam wie der Adler, den er in der Folge als Sinnbild wählen sollte.

Es war der Artillerieleutnant Bonaparte, der zufällig in Paris auf Urlaub war.

Dieser 20. Juni hatte eine sichtbare und eine geheime Bedeutung. Die eine war der Vorwand, die andere der Zweck. Der Vorwand war die Überreichung einer Bittschrift an den König und die Errichtung eines Freiheitsbaumes.

Der Zweck war: Frankreich von Lafayette zu befreien und dem unverbesserlichen Könige zu zeigen, daß es politische Stürme gibt, in denen ein Monarch samt Krone und Familie untergehen kann, wie ein Schiff mit Mann und Maus im Ozean versinkt.

Der Bastilleplatz wurde als Sammelplatz, der Tuilerienpalast als Ziel angegeben. Nachdem jeder versprochen hatte, sich auf den ihm angewiesenen Posten zu begeben, trennte man sich. Das allgemeine Losungswort war: »Auf die Tuilerien!« Was man dort wollte, das war noch unbestimmt.

Am 20. Juni um fünf Uhr morgens waren die Bataillone versammelt. Gegen elf Uhr überbrachte ein Unbekannter den Marschbefehl; die unabsehbare Masse setzte sich in Bewegung. Als sie die Bastille verließ, bestand sie aus etwa zwanzigtausend Mann.

Diese Schar bot einen entsetzlichen Anblick . . . überall zerrissene Blusen, zerfetzte Jacken; Piken, Bratspieße, Säbel ohne Griff, lange Stangen, an deren Ende man Messer befestigt hatte, Beile; als Standarten trug man: einen Galgen mit einer daran hängenden Gliederpuppe, die die Königin vorstellte; – dann Fahnen mit den Aufschriften: »Sanktion oder Tod«; – »Zurückberufung der patriotischen Minister; – »Zittere, Tyrann, deine Stunde ist gekommen!«

Die Nationalversammlung hatte den Lärm fast schon seit einer Stunde gehört, als die Kommissare der Volksmenge um die Erlaubnis baten, vor ihr zu defilieren.

Die Volksmenge hat ihren Zweck erreicht; sie ist vor der Nationalversammlung vorübergezogen, sie hat ihre Petition abgelesen, es bleibt nur noch die Sanktion vom Könige zu verlangen.

Die Nationalversammlung hatte die Deputation empfangen, wie hatte ihr der König den Zutritt verweigern können?

Der König hatte die Antwort erteilen lassen, er werde die von zwanzig Personen zu überreichende Petition annehmen.

Das Volk wollte unter den Fenstern vorüberziehen, während seine Abgeordneten die Petition überreichen würden. Alle die Fahnen mit den drohenden Aufschriften, alle die greulichen Standarten wollte man dem König und der Königin durch die Fenster zeigen. Alle Eingänge zu den Tuilerien waren geschlossen. Im Hofe und im Garten standen die Linienregimenter, einige Eskadrons Gendarmen und mehrere Bataillone Nationalgarde mit vier Kanonen.

Die königliche Familie sah aus dem Fenster auf diesen scheinbaren Schutz herunter und schien ziemlich ruhig.

Die Menge verlangte indes, man solle das zur Terrasse führende Gittertor öffnen. Die wachhabenden Offiziere weigerten sich, das Tor ohne Befehl des Königs öffnen zu lassen. Drei Munizipalbeamte, welche diesen Befehl erwirken wollten, wurden eingelassen.

Mouchet führte das Wort.

»Sire,« sagte er, »eine Volksschar zieht in aller Ordnung heran. Es ist nichts zu befürchten; friedliche Bürger haben sich vereinigt, um der Nationalversammlung eine Petition zu überreichen. Die Bürger wünschen über die Terrasse zu ziehen, wo das Gittertor nicht nur geschlossen, sondern auch durch Geschütze verteidigt ist. Wir bitten daher Eure Majestät, das Gittertor öffnen zu lassen und den freien Durchgang huldreichst zu gestatten.«

Der König antwortete: »Sie sind Munizipalbeamter, Ihnen liegt daher die Wahrung des Gesetzes ob. Wenn Sie es im Interesse der Ruhe und Ordnung für notwendig halten, so lassen Sie das Gittertor der Terrasse öffnen; die Bürger mögen dann ihren Weg über diese Terrasse und durch das Stalltor nehmen.«

Das Tor wurde geöffnet. Jedermann wollte hinein, und es entstand ein furchtbares Gedränge. Das Gitter auf der Terrasse zerbricht wie ein Weidenbaum. Die Menge atmet auf und zerstreut sich vergnügt im Garten.

Man hatte versäumt das Stalltor zu öffnen. Die Menge zog an den in Reihe und Glied stehenden Nationalgardisten vorüber und nahm ihren Weg durch das Tor am Kai. Da sie aber in ihre Vorstädte zurückkehren mußte, so wollte sie sich durch die Pforten des Karussellplatzes drängen. Diese Pforten waren geschlossen und bewacht; aber die Menschenmasse wird ungeduldig. Endlich werden die Pforten geöffnet und die Menge überschwemmt den großen Platz.

Dort erinnert sie sich, daß das Hauptgeschäft des Tages die Petition um Zurücknahme des Vetos ist. Anstatt daher ihren Weg fortzusetzen, wartet sie auf dem Karussellplatz.

Eine Stunde vergeht, und die Menge wird unruhig.

Aber der König schien durchaus nicht gesonnen, diesen Wunsch zu erfüllen. – Es war heiß und man bekam Durst. Hunger, Durst und Hitze machen die Hunde wütend. Das arme Volk waffnete sich mit Geduld und wartete.

Die Abgeordneten, die man mit Sehnsucht zurückerwartet, sind noch nicht einmal vor den König gelassen.

Plötzlich hört man vom Kai her lautes Rufen. – Es sind Santerre und St. Huruge auf ihren Pferden, Théroigne auf ihrer Kanone.

»Was macht ihr da vor dem Gitter? Warum geht ihr nicht hinein?«

»Ihr seht ja, daß das Tor geschlossen ist!« sagten mehrere Stimmen.

Théroigne springt von ihrer Kanone. »Sie ist geladen,« sagt sie; »gebt Feuer auf das Tor!«

»Halt, halt!« riefen zwei Munizipalbeamte; »keine Gewalt . . . das Tor soll geöffnet werden.«

Sie zogen sogleich die Riegel zurück und rissen die beiden Türflügel auf. Die Volksmasse stürmt hinein wie ein reißender Strom. Die Kanone wird mit fortgerissen über den Hof, die Stufen hinan, bis oben auf die Treppe.

Oben auf der Treppe stehen Offiziere mit Schärpen.

»Was wollt ihr mit der Kanone?« fragen sie . . . »Glaubt ihr durch eine solche Gewalttat etwas zu erlangen?«

»Es ist wahr«, antworten die Leute, die ganz erstaunt sind, daß sie die Kanone so weit mitgeschleppt haben.

Die Kanone wird umgedreht, um wieder die Treppe hinuntergeschoben zu werden; aber die Achse bleibt an einer Tür hängen, so daß sich die Mündung der Kanone gegen die Menge wendet.

»Aha, der König hat in seinen Gemächern sogar Kanonen!« rufen die Ankommenden, die nicht wissen, wie es zugegangen ist, daß dieses Geschütz sich gegen sie gekehrt hat.

Inzwischen wird das Türgesims auf Mouchets Befehl mit Äxten zerhauen, die Kanone losgemacht und wieder in das Erdgeschoß hinuntergeschoben.

Das laute Dröhnen der Axthiebe erregt die Aufmerksamkeit der Leibgarden und der Dienerschaft. Zweihundert Edelleute eilen herbei.

Die königliche Familie war im Zimmer des Königs versammelt. Plötzlich hört man die dröhnenden Axthiebe.

In demselben Augenblick stürzt ein Mann in das Schlafzimmer des Königs und ruft:

»Sire, verlassen Sie mich nicht . . . Ich stehe für alles.«

Dieser Mann war der Doktor Gilbert.

»Was geht denn vor?« fragten der König und die Königin zugleich.

»Das Schloß ist voller Menschen«, antwortete Gilbert. »Das Volk verlangt Eure Majestät zu sehen.«

»Sire, wir verlassen Sie nicht!« sagten die Königin und Madame Elisabeth.

»Sire,« sagte Gilbert, »wollen mir Eure Majestät für eine Stunde die Gewalt erteilen, die ein Schiffskapitän während eines Sturmes hat?«

»Ja«, antwortete der König.

In diesem Augenblick erschien der Kommandant der Nationalgarde in der Tür; er war bleich und bestürzt, aber fest entschlossen, den König zu verteidigen.

»Herr Kommandant,« rief ihm Gilbert zu, »hier ist der König; er ist bereit, Ihnen zu folgen . . . Gehen Sie, Sire, gehen Sie!«

»Ich folge meinem Gemahl«, rief die Königin.

»Und ich meinem Bruder«, setzte Madame Elisabeth hinzu.

»Sire,« sagte Gilbert, »um des Himmels willen, bitten Sie Ihre Majestät, sich auf mich zu verlassen . . . ich stehe sonst für nichts.«

»Madame,« sagte der König, »befolgen Sie Herrn Gilberts Rat, und wenn es sein muß, fügen Sie sich seinen Anordnungen . . . Herr Gilbert,« setzte er hinzu, »Sie bürgen mir für die Königin und den Dauphin.«

Die Königin wollte noch einen Versuch machen, aber Gilbert streckte die Arme aus, um ihr den Weg zu versperren.

»Madame,« sagte er zu ihr, »Eure Majestät sind in Gefahr, und nicht der König . . . Ihnen legt man mit Recht oder Unrecht den Widerstand des Königs zur Last; Ihre Anwesenheit würde ihn nur in Gefahr bringen. Folgen Sie mir mit den Hofdamen.«

Gilbert schob die Königin mit den Kindern und der Prinzessin von Lamballe in den Sitzungssaal; es wurde schon an die Türen geklopft.

Er zog einen schweren Tisch vor das Fenster. Die erste notwendige Schutzwehr war gefunden.

Unterdessen wurde immer lauter an die Tür gepocht. Gilbert eilte zur Tür, zog den Riegel zurück und sagte zu den anstürmenden Vorstädterinnen:

»Nur herein, Bürgerinnen! . . . die Königin und ihre Kinder erwarten euch.«

Sobald die Tür offen war, wälzte sich der Menschenstrom herein wie durch einen durchbrochenen Damm.

»Wo ist sie, die Österreicherin? Wo ist Madame Veto?« riefen fünfhundert Stimmen.

Ein Mädchen mit fliegenden Haaren ging den übrigen voran, sie schwang einen Säbel in der Hand.

»Wo ist die Österreicherin?« schrie sie. »Sie soll von meiner Hand fallen!«

Gilbert nahm sie beim Arm und führte sie vor die Königin.

»Hier ist sie!« sagte er.

Marie Antoinette, die eine bewunderungswürdige Ruhe bewahrte, fragte mit dem sanftesten, herablassendsten Tone:

»Habe ich dir persönlich etwas zuleide getan, mein Kind?«

»Nein, Madame«, antwortete die Vorstädterin, sehr erstaunt über die würdevolle Haltung der Königin.

»Warum willst du mich denn umbringen?«

»Man sagt, Sie stürzten die Nation ins Elend«, erwiderte das junge Mädchen ganz verlegen und ließ die Spitze des Säbels auf den Fußboden sinken.

»Dann hat man Euch belogen«, sagte Marie Antoinette. »Ich bin die Gattin des Königs von Frankreich und Mutter des Dauphin . . . Sieh nur, hier steht er vor Euch . . . Ich bin eine Französin. Ach! ich war glücklich, als Ihr mich liebtet!«

Das Mädchen ließ, den Säbel fallen und fing an zu weinen.

»Ach, Madame, ich kannte Sie nicht! . . . Verzeihen Sie mir! Ich sehe, daß Sie gut sind.«

Ludwig XVI. hatte inzwischen einen ähnlichen Auftritt erlebt. Kaum war er in den Saal des sogenannten »Oeil de Boeuf« gekommen, so wurde die Türfüllung zertrümmert, und die Spitzen der Bajonette und Piken drangen durch die Öffnungen.

»Machen Sie auf!« rief der König.

»Bürger!« rief d'Hervilly laut durch die Tür, »es ist überflüssig, die Tür einzuschlagen . . . der König hat befohlen, sie zu öffnen.«

Zugleich zieht er die Riegel zurück, dreht den Schlüssel um, und die halb zertrümmerte Tür tut sich auf.

Der Herzog von Mouchy und der Nationalgarde-Kommandant haben eben Zeit gehabt, den König in eine Fensternische zu schieben, während einige Grenadiere eine Schutzwehr von umgestürzten Bänken vor ihm errichten.

Als die Menge tobend und mit lauten Verwünschungen in den Saal stürzte, konnte sich der König nicht enthalten, seinen Getreuen zuzurufen:

»Hierher, meine Herren!«

Vier Grenadiere zogen sogleich ihre Säbel und stellten sich zu beiden Seiten des Königs auf.

»Den Säbel eingesteckt, meine Herren!« rief Ludwig XVI. »Bleiben Sie an meiner Seite, mehr verlange ich nicht.«

Diese Mahnung wäre fast zu spät gekommen; die blitzenden Säbelklingen schienen eine Herausforderung zu sein.

Ein in Lumpen gekleideter Mensch stürzte wütend auf den König los.

»Da bist du ja, Veto!« sagte er und schlug mit einem Stock, an welchem eine Messerklinge befestigt war, nach dem König.

Einer der Grenadiere, der trotz des Befehls des Königs seinen Säbel noch nicht in die Scheide gesteckt hatte, schlug den Stock mit dem Säbel nieder.

Der König, der unterdessen seine Fassung wiedergewonnen hatte, schob den Grenadier zur Seite und sagte:

»Lassen Sie mich . . . Was kann ich mitten unter meinem Volk zu fürchten haben?«

Ludwig XVI. trat mit würdevollem Anstand einen Schritt vor und bot den Mordwaffen aller Art, die gegen ihn gerichtet waren, seine wehrlose Brust.

»Still!« sagte mitten in dem furchtbaren Tumult eine Stimme; »ich will reden!«

Es war die Stimme des Fleischers Legendre.

Er trat dem Könige so nahe, daß er ihn fast berührte. – Man hatte einen Kreis um ihn gebildet.

In diesem Augenblick erschien hinter Dantons herkulischer Gestalt das blasse, aber heitere Gesicht Gilberts.

»Monsieur«, sagte Legendre, den König anredend.

Ludwig XVI. sah sich rasch um, als ob ihn eine Schlange gebissen hätte.

»Ja, Monsieur . . . Monsieur Veto, mit Ihnen rede ich«, sagte Legendre. »Hören Sie mich daher an, denn es ist Ihre Schuldigkeit, uns anzuhören . . . Sie haben uns von jeher betrogen und betrügen uns noch; aber nehmen Sie sich in acht, das Maß ist voll, und das Volk will nicht länger Ihr Spielball und Ihr Opfer sein.«

»Reden Sie, ich höre«, sagte der König.

»Gut, Sie wissen, was wir hier wollen: wir sind gekommen, um die Bestätigung der Dekrete und die Zurückberufung der Minister zu erwirken . . . Hier ist unsere Petition.«

Der König sah den Vorleser scharf an, und als die Petition abgelesen war, sagte er mit wenigstens scheinbarer Ruhe:

»Ich werde tun, was mir Gesetz und Verfassung vorschreiben.«

»Ja, ja,« sagte eine Stimme, »das ist dein Paradepferd . . . die Verfassung!«

Der König sah sich um in der Richtung, aus der diese Stimme kam, auch Gilbert machte eine Bewegung und legte die Hand auf die Schulter des Mannes, der gesprochen hatte.

»Ich habe Sie schon einmal gesehen, mein Freund,« sagte der König, »wer sind Sie?«

»Ja, Sire, Sie haben mich schon dreimal gesehen: einmal am 16. Juli bei der Rückkehr von Versailles, einmal zu Varennes und einmal hier . . . Erinnern Sie sich noch meines Namens, Sire? Er hat eine üble Vorbedeutung; ich heiße Billot!«Billot, der Block.

In diesem Augenblick wurde der Tumult wieder stärker, ein Mann stach mit einer Pike nach dem Könige. Aber Billot faßte die Pike, entriß sie dem Meuchler und zerbrach sie auf dem Knie.

»Kein Mord,« sagte er zürnend, »nur das Gesetz hat das Recht, diesen Mann zu richten! Dieser Mann wird als Verräter vor Gericht gestellt und verurteilt werden.«

»Ja, Verräter! Verräter!« riefen hundert Stimmen.

Gilbert trat zwischen den König und das andrängende Volk,

»Fürchten Sie nichts, Sire,« sagte er, »und suchen Sie diese Wütenden durch irgendeine handgreifliche Demonstration zufriedenzustellen.«

Ludwig XVI. trat vor, nahm einem Sansculotte die rote Mütze vom Kopf und setzte sie auf.

Die Menge brach in lauten Beifall aus.

»Es lebe der König! Es lebe die Nation!« riefen alle einstimmig.

»Sire,« sagte Gilbert, »Sie haben nichts mehr zu fürchten. Erlauben Sie, daß ich mich wieder zur Königin begebe.«

»Gehen Sie«, sagte Ludwig XVI. und drückte ihm die Hand.

Um zur Königin zu gelangen, mußte Gilbert durch mehrere Zimmer, unter andern auch durch das Gemach des Königs gehen. – Alle Räume waren voller Menschen.

Einige Sansculotten hatten sich's in den weichgepolsterten Armsesseln bequem gemacht, andere wälzten sich lachend auf Sofas und Betten und verglichen die schwellenden Polster mit ihren harten Bänken und Strohstühlen.

All dies war nicht mehr beunruhigend, die erste Aufwallung war vorüber. Gilbert kam um vieles ruhiger zur Königin.

Marie Antoinette stand noch an derselben Stelle, der kleine Dauphin hatte, wie sein Vater, eine rote Mütze auf dem Kopfe.

Im Nebenzimmer entstand plötzlich ein großer Lärm. Gilbert sah sich nach der Tür um. Den Lärm machte Santerre. Der Koloß kam in den Saal.

»Oho!« sagte er; »die Österreicherin ist also hier!«

Gilbert ging gerade auf ihn zu.

»Herr Santerre!« sagte er.

»Ei, sieh da, der Doktor Gilbert!«

»Der nicht vergessen hat,« erwiderte dieser, »daß Sie einer von denen sind, die ihm die Türen der Bastille geöffnet haben . . . . Erlauben Sie, Herr Santerre, daß ich Sie der Königin vorstelle.«

»Der Königin? . . . Sie wollen mich der Königin vorstellen!« murrte der Fleischer.

»Jawohl; Sie lehnen es doch nicht ab?«

»Gott bewahre,« sagte Santerre; »ich wollte mich selbst vorstellen; aber da Sie einmal hier sind . . .«

»Ich kenne Herrn Santerre,« sagte die Königin; »ich weiß, daß er in der großen Teuerung die Hälfte der Vorstadt Sankt Antoine mit Lebensmitteln versorgt hat.«

Santerre blieb erstaunt vor der Königin stehen. Sein Blick fiel auf den Dauphin, dem der Schweiß in dicken Tropfen über die Wangen floß.

»Nehmt dem Kleinen doch die Mütze ab,« sagte er zu den Vorstädtern, »ihr seht ja, daß er erstickt.«

Die Königin dankte ihm mit einem Blick.

»Madame,« sagte der brave Flamländer halblaut über den Tisch hinüber, »Sie haben sehr ungeschickte Freunde; ich kenne welche, die Ihnen besser dienen würden.«

Eine Stunde nachher hatte sich die ganze Menschenmasse zerstreut, und der König erschien in Begleitung seiner Schwester in dem Zimmer, wo ihn die Königin und die Kinder erwarteten.

Die Königin fiel ihm zu Füßen, die beiden Kinder faßten seine Hände, man sank sich in die Arme wie nach einem Schiffbruch.

Erst jetzt bemerkte der König, daß er die rote Mütze noch auf dem Kopfe hatte.

»Ach! ich hatte es ganz vergessen«, sagte er und warf das Sinnbild der Gleichheit mit Widerwillen weg.

Ein junger Artillerieoffizier von kaum zweiundzwanzig Jahren war Zeuge dieses ganzen Auftrittes gewesen. An einen Baum gelehnt, hatte er gesehen, welchen Demütigungen und Gefahren der König ausgesetzt gewesen war; als er aber die Szene mit der roten Mütze sah, konnte er den Anblick nicht länger ertragen.

»Oh!« sagte er zu sich, »wenn ich nur zwölfhundert Mann und zwei Kanonen hätte, wie schnell würde ich den armen König von diesem Gesindel befreit haben!«

Dieser junge Offizier war Napoleon Bonaparte.

 


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