Alexander Dumas
Die Gräfin Charny
Alexander Dumas

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Fünftes Kapitel

Es war wirklich der Doktor Gilbert, der in dem Augenblicke, als sich der Lakai auf Isidors Geheiß erkundigt hatte, bei dem Könige war.

Als er von der Audienz zurückkam, traf er mit dem Vicomte von Charny zusammen, der ihn zu dem Vorzimmer führte, in dem Sebastian gewartet hatte. Aber Sebastian war nicht mehr da. In großer Sorge eilten Doktor Gilbert und der Vicomte durch die Gänge nach dem Ausgang, wo sie erfuhren, daß Sebastian mit einer Dame nach der Rue Coq-Héron Nr. 9 gefahren sei. Nun wußte Gilbert, daß sein Sohn seine Mutter gefunden hatte. Er verabschiedete den Vicomte und eilte nach dem Hause Andreas.

Mit den Verhältnissen noch genau vertraut, näherte er sich ihrem Schlafzimmerfenster und sah auf dem Bette eine regungslose weibliche Gestalt liegen, aus deren Munde leise Klagetöne kamen, die von Zeit zu Zeit durch einen lauten Angstruf unterbrochen wurden.

Gilbert näherte sich langsam, als er nahe genug stand, zweifelte er nicht mehr, es war Andrea, und sie war allein. – Aber wie kam es, daß sie allein war, und warum weinte sie? Das konnte Gilbert nur durch eine Unterredung mit ihr erfahren.

Er stieg leise und vorsichtig durchs Fenster, und stand hinter ihr in dem Augenblicke, wo die magnetische Anziehungskraft, für die sie so empfindlich war, sie zwang, sich umzudrehen.

Die beiden Feinde trafen also wieder zusammen.

Das erste Gefühl der Gräfin war eine unüberwindliche Abneigung.

Gilbert hingegen fühlte für Andrea nicht mehr jene glühende Liebe, die den Jüngling einst zu seiner verbrecherischen Tat getrieben,Gilbert hatte einst unter Anwendung magnetischer Kräfte Andrea, als sie noch junges Mädchen war, verführt. wohl aber jene zarte, innige Teilnahme, die den Mann bewogen haben würde, ihr selbst unter Lebensgefahr einen Dienst zu erweisen.

»Was wollen Sie von mir?« sagte Andrea.

»Was ich will? Ich will, daß Sie mir sagen, wo mein Sohn ist, den Sie in Ihrem Wagen hierhergebracht haben.«

»Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist, er ist vor mir geflohen, Sie haben ihn ja daran gewöhnt, seine Mutter zu hassen.«

»Seine Mutter, Gräfin! . . . Sind Sie wirklich seine Mutter?«

»O mein Gott!« rief Andrea, »er ist Zeuge meiner Verzweiflung gewesen, und fragt mich, ob ich seine Mutter bin!«

»Sie wissen also nicht, wo er ist?«

»Ich sage Ihnen ja, daß er entflohen ist, daß er in diesem Zimmer war, daß ich ihn hier wiederzufinden glaubte, und daß ich dieses Fenster offen und das Zimmer leer fand.«

»O mein Gott!« rief Gilbert. »Wohin kann er sich gewandt haben? Der arme Knabe kennt Paris nicht, und Mitternacht ist vorüber!«

»Glauben Sie,« sagte Andrea, die diesen Gedanken aufgriff, »daß ihm ein Unglück begegnet ist?«

»Das will ich eben wissen,« erwiderte Gilbert, »und das sollen Sie mir sagen.«

Und damit streckte er Andrea die Hand hin.

Diese murmelte den Namen Sebastians und sank mit einem leisen Klagelaut auf einen Sessel.

»Schlafen Sie«, sagte Eilbert; »aber im Schlafe sehen Sie mit dem Herzen.«

»Ich schlafe«, sagte Andrea.

»Wohin haben Sie Sebastian geführt?«

»In den Salon hier neben diesem Zimmer.«

»Warum hat er Sie verlassen?«

»Weil ein Wagen vorfuhr.«

»Wer war in dem Wagen?«

Andrea zögerte.

»Wer war in dem Wagen?« wiederholte Gilbert mit festerem Ton und stärkerem Willen.

»Der Graf von Charny.«

»Wo haben Sie den Knaben versteckt?«

»Ich schob ihn in dieses Zimmer.«

»Was sagte er, als er hier eintrat?«

»Ich sei nicht mehr seine Mutter.«

»Warum hat er das gesagt?«

»Weil ich zu ihm sagte,« wiederholte Andrea mit großer Selbstüberwindung, »daß Sie ein elender, schändlicher Mensch sind.«

»Hat der Graf von Charny geahnt, daß der Knabe hier war?«

»Nein.«

»Warum ist er denn nicht geblieben?«

»Weil der Graf nie bei mir bleibt.«

»Was wollte er denn hier?«

»O mein Gott! mein Gott! Olivier, lieber Olivier!«

Gilbert sah sie erstaunt an.

»Oh, ich Unglückliche!« klagte Andrea. »Er fing an, sich mir zuzuwenden, er liebt mich, er liebt mich! . . .«

Gilbert tat zum ersten Male einen Blick in dieses furchtbare Familiendrama.

»Und Sie,« fragte er, »lieben Sie ihn?«

»Seit dem Augenblick, wo ich ihn zum ersten Male sah.«

»Sie wissen also, was Liebe ist, Andrea?« fragte Gilbert traurig.

»Ich weiß,« antwortete die junge Gräfin, »daß die Liebe dem Menschen gegeben ist, damit er wisse, wieviel er leiden kann.«

»Kehren wir wieder zu Sebastian zurück.«

»Gattin, vergiß deinen Gatten; Mutter, denke nur an dein Kind!«

»Wo war Sebastian, während Sie mit dem Grafen von Charny sprachen?«

»Er lauschte . . . da, da, an der Tür.«

»In welchem Augenblick hat er dieses Zimmer verlassen?«

»In dem Augenblick, als der Graf mir die Hand küßte und ich erschrocken aufschrie.«

»Sehen Sie ihn?«

»Ich sehe ihn«, sagte Andrea. »Er sieht sich nach einer Tür um, und da er keine findet, springt er aus dem Fenster und verschwindet.«

»Folgen Sie ihm in der Dunkelheit.«

»Er eilt der Rue Plâtrière zu . . .; er spricht mit einer Frau, die ihm begegnet.«

»Wonach fragt er sie?«

»Er fragt nach der Rue Saint-Honoré.«

»Ja; dort wohne ich. Er wird mich erwarten . . .«

»Nein,« sagte Andrea unruhig, »nein, er ist nicht da, er wartet nicht.«

»Wo ist er denn?«

»Er findet die Rue Saint-Honoré . . . er läuft über den Platz des Palais Royal . . . er eilt weiter . . . in der Rue des Frondeurs . . . Halt, armes Kind! Sebastian! Sebastian! siehst du denn den Wagen nicht, der aus der Rue de la Sourdière kommt? Ich sehe ihn . . . die Pferde . . . Ach! . . .«

Andrea schrie laut auf. »Gott sei gelobt!« rief sie nach einer Pause. »Das Pferd hat ihn auf die Seite geworfen . . . da liegt er bewußtlos auf der Straße, aber er ist nicht tot . . . er ist nur ohnmächtig . . . Hilfe! Hilfe! . . . Es ist mein Kind!«

Andrea sank, selbst fast ohnmächtig, in den Armsessel zurück.

»Weiter«, sagte Gilbert.

»Warten Sie!« erwiderte Andrea. »Es ist mein Sohn, es ist mein Sebastian! . . . Oh, mein Gott! Die Menge macht Platz,– es ist gewiß der Mann, den man gerufen.«

»Was ist denn?« fragte Gilbert.

»Ich will nicht, daß der Mann mein Kind anrühre!« rief Andrea.

»Was macht der fremde Mann?«

»Er trägt ihn fort . . . er wendet sich links in das Seitengäßchen, geht auf eine angelehnte Tür zu, geht eine Treppe hinunter und legt ihn auf den Tisch. Er zieht ihm den Rock aus, öffnet ein Besteck und nimmt eine Lanzette heraus; er will ihm eine Ader öffnen . . . Nein, ich will es nicht sehen, ich will das Blut meines Sohnes nicht sehen!«

»Sehen Sie die Tür genau an und sagen Sie mir, ob etwas Auffallendes daran ist.«

»Ja, ein kleines viereckiges Fenster, mit kreuzweise zusammengefügten Eisenstäben.«

»Gut, mehr brauche ich nicht zu wissen.«

»Eilen Sie, laufen Sie! . . . Sie werden ihn finden, wo ich gesagt habe.«

»Wollen Sie sogleich erwachen und sich an alles erinnern?«

»Wecken Sie mich sogleich; ich will alles im Gedächtnis behalten.«

Gilbert strich mit beiden Daumen über die Augenbrauen der Gräfin, hauchte ihr auf die Stirn und sprach die beiden Worte:

»Erwachen Sie!«

Dann eilte er in der vorgezeichneten Richtung davon und fand Sebastian in einer Kellerwohnung, wo er in einem dunklen Winkel auf einem armseligen Ruhebett lag.

Als sich Vater und Sohn mit einer langen, zärtlichen Umarmung begrüßt hatten, wandte sich Gilbert zu dem Gastfreunde Sebastians.

»Sieh, Albertine,« sagte dieser, »und danke mit mir dem Zufall, der mir erlaubt hat, einem meiner Brüder diesen Dienst zu erweisen.«

Während der Chirurg diese Worte mit einigem Pathos sprach, sah sich Gilbert um; er schrak unwillkürlich zurück; es war ihm, als ob er diesen Menschen bereits in einem furchtbaren Traum, wie durch einen blutigen Schleier, gesehen hätte.

»Mein lieber Herr,« sagte er, »empfangen Sie den aufrichtigsten, herzlichsten Dank eines Vaters, dem Sie den Sohn gerettet haben. Darf ich fragen, mit welchem Menschenfreunde ich die Ehre habe zu sprechen?«

»Sie kennen mich nicht, Kollege«, sagte der Chirurg mit einer lächerlichen Fratze, die seiner Absicht nach freilich ein wohlwollendes Lächeln sein sollte; »aber ich kenne Sie: Sie sind der Doktor Gilbert, der Freund Washingtons und Lafayettes.«

»Wenn Sie mich aber kennen, so habe ich um so mehr Ursache, meine Frage zu wiederholen, und um die Ehre Ihrer Bekanntschaft zu bitten.«

»O! wir haben schon vor langer Zeit Ihre Bekanntschaft gemacht«, erwiderte der Chirurg; »vor zwanzig Jahren, in der Nacht des 30. Mai 1770, wurden Sie verwundet, bewußtlos, dem Tode nahe, zu mir gebracht . . . . Mein Meister Rousseau brachte Sie, und ich öffnete Ihnen damals eine Ader.«

»Dann sind Sie Jean Paul Marat!« rief Gilbert, der unwillkürlich einen Schritt zurücktrat.

»Du siehst, Albertine,« sagte Marat, »mein Name macht Effekt.«

Er brach in ein unheimliches Gelächter aus.

»Aber warum muß ich Sie hier in diesem Keller wiederfinden?« fuhr Gilbert fort. »Ich glaubte, Sie wären Leibarzt des Grafen Artois? . . .«

»Ich habe meinen Abschied genommen, ich will den Tyrannen nicht dienen.«

»Aber warum,« sagte Gilbert, »wohnen Sie denn in diesem dunklen, feuchten Keller?«

»Warum, Herr Philosoph? Weil ich ein Patriot bin, weil Bailly mich fürchtet, weil Necker mich verabscheut, weil Lafayette mir seine Nationalgarde auf den Hals hetzt, weil er einen Preis auf meinen Kopf gesetzt hat . . . . Aber ich lache ihn aus, diesen Lafayette, der mit der Königin konspiriert. Die Sache ist wahr, ich weiß es von der Bertin, der Putzmacherin der Königin. Und all dies bringe ich in dem vor kurzem gegründeten Journal ›Der Volksfreund‹ an die Öffentlichkeit. Unter Aufbietung aller Energie schreibe ich den ganzen Volksfreund selbst, oft bis zu sechzehn Seiten; ich schreibe Tag und Nacht; die Polizei Lafayettes zwingt mich, verborgen zu leben, sie treibt mich zur Arbeit; es gefällt mir, die erbärmliche Welt durch das kleine düstere Fenster meines Kellers zu sehen. Von meinem unterirdischen Reiche aus beherrsche ich die Welt der Lebenden; ich bin der oberste Schiedsrichter über Wissenschaft und Politik; mit einer Hand werfe ich Newton, Franklin, Laplace, Monge, Lavoisier zu Boden; mit der andern rüttle ich an Bailly, Necker, Lafayette; ich werde alles niederreißen . . . ja, wie Samson den Tempel niedergerissen hat, und unter den Trümmern, die mich selbst vielleicht zermalmen, werde ich das Königtum begraben.«

Gilbert schauderte unwillkürlich; dieser Mann sagte in einem elenden Kellerloche etwa dasselbe, was Cagliostro in einem Palast gesagt hatte.

»Nehmen Sie sich in acht!« sagte er; »für das, was Sie vorhaben, wird in Frankreich nicht genug Hanf wachsen, und die Stricke werden nicht mehr zu bezahlen sein.«

»Ich hoffe auch,« erwiderte Marat, »daß man neue und schnellere Mittel erfinden wird. Wissen Sie, wer in zehn Minuten an diese Tür klopfen wird? Ich erwarte Guillotin. Er hat eine wundervolle Maschine erfunden, eine Maschine, die tötet, ohne Schmerz zu verursachen; in diesen Tagen werden wir sie ausprobieren.«

Gilbert schauderte; es war das zweite Mal, daß dieser Mann ihn an Cagliostro erinnerte. Er nahm seinen Sohn und trug ihn auf den Armen nach Hause, wo er von dem Pächter seines Gutes in Haramont, Billot, und von Pitou erwartet wurde. Nach den Erzählungen Pitous war Billot um seine Tochter und um den Stand seiner Äcker in Sorge geraten; er war gekommen, um von Dr. Gilbert die Erlaubnis zur Heimreise zu erwirken, die ihm auch erteilt wurde. Pitou ging mit ihm in die Heimat und nahm Geld mit zur Ausrüstung der dort von ihm begründeten Nationalgarde.

 


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