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Der taube Herr von seinem Zimmer aus.


Unser lieber Freund legte nach dem Abschlusse des vorstehenden Abschnitts die Feder nieder, um sie nie wieder aufzunehmen. Ich hätte kaum gedacht, je eine so schmerzliche Aufgabe erfüllen zu müssen, als die ist, welche er mir hinterlassen hat, und der ich mich jetzt weihe.

Da er des andern Morgens nicht zu seiner gewöhnlichen Stunde unter uns erschien, so klopften wir leise an seine Thüre. Es erfolgte keine Antwort, weßhalb wir sachte öffneten: und da sahen wir mit großer Ueberraschung, wie er vor der Asche seines Feuers saß, nicht weit von ihm ein kleiner Tisch, den ich Nachts, ehe ich fortging, an seine Seite zu rücken pflegte; es schien, als sey er im Begriffe gewesen, aufzustehen und zu Bette zu gehen, weßhalb er ihn zurückgeschoben hatte. Krücke und Schemel lagen wie gewöhnlich zu seinen Füßen; er selbst war in seinen Schlafrock gekleidet, den er angezogen hatte, ehe ich fortging. Er hatte sich in seiner gewohnten Haltung gegen den Rücken seines Armstuhls zurückgelehnt und schien, das Antlitz auf den Kamin gerichtet, in Betrachtungen vertieft – anfangs hofften wir auch, daß es der Fall sey.

Als wir näher traten, fanden wir, daß er todt war. Ich habe ihn oft in seinem friedlichen Schlafe beobachtet, aber nie sah ich ihn so ruhig und freundlich. Sein Antlitz trug denselben heiteren und wohlwollenden Ausdruck, welcher, als er mir zum letztenmale die Hand drückte, einen so tiefen Eindruck auf mich gemacht hatte – nicht, daß er je anders ausgesehen hatte – wahrhaftig nein; aber es lag etwas so Geistvolles und, trotz seiner grauen und ehrwürdigen Haare, etwas so seltsam und unbeschreiblich Jugendliches darin, daß es mir wirklich auffiel. Ich bemerkte es namentlich da, als er mich den Abend zuvor unter einem unbedeutenden Vorwande zurückrief, um mir noch einmal die Hand zu drücken und mir ein »Gott mit dir« zuzurufen.

Eine Klingelschnur hing in dem Bereiche seiner Hand, aber er hatte sie nicht darnach ausgestreckt, ja, wie wir alle meinten, sich nicht einmal gerührt, ausgenommen daß er, wie vorhin bemerkt, den Tisch zurückgeschoben, was mit einer ganz leichten Handbewegung bewerkstelligt werden konnte. Er war für einen Augenblick in seinen früheren Gedankengang zurückgesunken und mit einem sinnigen Lächeln auf seinem Antlitze verschieden.

Ich kannte längst seinen Wunsch, daß wir uns Alle in seinem Hause versammeln möchten, wenn einmal dieses Ereigniß einträte. Ich zögerte daher nicht, nach Herrn Pickwick und Herrn Miles zu schicken, die beide anlangten, noch ehe der Bote zurückkehrte.

Es liegt nicht in meiner Absicht, mich über den Kummer und die liebevolle Trauer zu verbreiten, deren Zeuge und Theilhaber ich jetzt war. Von den untergeordneten Leidtragenden muß ich jedoch sagen, daß seiner treuen Haushälterin fast das Herz brach, daß der arme Barbier sich gar nicht wollte trösten lassen und daß ich der einfachen Treue und Warmherzigkeit des Herrn Weller und seines Sohnes bis zu dem letzten Augenblicke meines Lebens Achtung zollen werde.

»So ist also das liebevolle, alte Geschöpf abgesegelt,« sagte Nachmittags der ältere Herr Weller zu mir. »Er, der keinen Fehler hatte und so frei war von aller Unart, daß ihn ein Kind hätte leiten können, hat endlich auch den unvermeidlichen Stolperer machen müssen, der an uns Alle kömmt, und ist für immer durch die Lappen gegangen! Ich sehe ihn,« fuhr der alte Herr mit einem Schwimmen in seinem Auge fort, über dessen Bedeutung kein Zweifel seyn konnte, »ich sehe ihn bei jeder Reise wackeliger und wackeliger werden; da sage ich denn zu Samiel: ›Junge! der Graue geht auf den letzten Socken;‹ und nun sind leider meine Voraussagungen wahr geworden, und er, dem ich nie genug hätte dienen oder meine Lieb' beweisen können, ist nun fort zu dem großen, allgemeinen Brunnenrohr der Natur.«

Die Anhänglichkeit des alten Mannes drang mir nicht weniger zum Herzen, weil er sich in seiner eigenthümlichen Weise ausdrückte; denn ungeachtet der außerordentlichen Zwiegespräche, welche Vater und Sohn mit einander hielten, und trotz der seltsamen Commentarien und Verbesserungen, womit Jeder die Worte des Andern beleuchtete, darf ich doch in Wahrheit versichern, daß ihre Trauer kaum hätte inniger seyn können,« wie ich denn auch der Ueberzeugung lebe, daß die Angelegentlichkeit und die Sorgfalt, womit sie in vielen kleinen Diensten der Theilnahme wetteiferten, den zartfühlendsten Personen Ehre gemacht haben würde.

Unser Freund hatte mir oft gesagt, daß man sein Testament in einem Schubfache des Wanduhrkastens, wozu der Schlüssel in seinem Schreibepult liege, finden würde. Seinem Wunsche gemäß sollte es alsbald nach seinem Tode geöffnet werden, weßhalb wir noch an demselben Abend zusammenkamen, um sein Verlangen zu erfüllen.

Wir fanden das Testament an der bezeichneten Stelle; es war in einen Umschlag eingesiegelt und mit einem Codicill von neuerem Datum versehen, worin er Herrn Miles und Herrn Pickwick zu Vollstreckern desselben ernannte – da dieselben nicht in der Lage wären, von seiner Hinterlassenschaft mehr zu bedürfen, als ein freundliches Andenken, das sie zur Erinnerung an ihn aufbewahren möchten.

Nachdem er den Ort angedeutet, wo er begraben zu werden wünschte, vermachte er »seinen lieben, alten Freunden,« Jack Redburn und mir, sein Haus, seine Bücher, seine Möbel – kurz, den ganzen Inhalt desselben, und außerdem noch so reichliche Mittel, es in seinem gegenwärtigen Stand zu erhalten, daß wir sie bei unsern Gewohnheiten und unserer Lebensweise nie zu erschöpfen im Stande seyn werden. Dann überantwortete er noch unserer Verwaltung eine jährliche Summe von nicht unbedeutendem Betrag, die unter seine bisherigen Pensionäre – sie bildeten eine lange Liste – und unter solche Hülfsbedürftige, die hin und wieder die Wohlthat dieses Legats in Anspruch nehmen möchten, zu vertheilen. Und da wahre Menschenliebe nicht nur eine Menge von Sünden bedeckt, sondern auch eine Menge von Tugenden, als da sind Versöhnlichkeit, Freigebigkeit, Erbarmen und Nachsicht mit den Fehlern Anderer und die Erkenntniß eigener Unvollkommenheit, einschließt, so trug er uns auf, nicht allzu strenge gegen die verzeihlichen Irrthümer der Armen zu verfahren, sondern wenn wir fänden, daß sie wirklich arm wären, ihnen zuerst Abhülfe zu leisten und dann bei günstiger Gelegenheit – Besserungsversuche zu machen.

Der Haushälterin hinterließ er einen Jahrgehalt, der hinreichte, ihr für Lebenszeit ein anständiges Auskommen zu sichern. Den Barbier, welcher ihn viele Jahre bedient, bedachte er in ähnlicher Weise. Es mag denn hier auch der Ort für ein paar Bemerkungen sein: erstlich, daß ich glaube, diese Leutchen werden wahrscheinlich ihre Mittel zusammenwerfen und ein Paar machen; und dann: daß ein solches Resultat ganz in der Absicht unseres Freundes lag, denn ich hörte ihn mehr als Einmal sagen, er könne mit der allgemeinen Ansicht nicht einverstanden seyn, welche gleiche Heirathen im späteren Alter tadle, sintemalen es gar viele Fälle gebe, in welchen derartige Verbindungen zu einer weisen und vernünftigen Quelle des Glücks für beide Partien werden müßten.

Der ältere Herr Weller ist so weit entfernt, diese Aussicht mit Gefühlen der Eifersucht zu betrachten, daß er vielmehr dadurch recht sehr beruhigt zu seyn scheint, und wenn wir nicht irren, so geht es seinem Sohne gerade ebenso. Wir sind indeß der Ansicht, daß die Gefahr des alten Herrn sogar in ihrer Hauptkrisis nicht viel besagen wollte, und daß er nur unter einer jener vorübergehenden Schwächen litt, denen Personen von seinem Temperament unterworfen sind; sie werden übrigens bei jeder Wiederkehr weniger und weniger beunruhigend, bis sie am Ende ganz und gar schweigen. Ich zweifle nicht, daß er für den Rest seines Lebens ein lustiger, alter Wittwer bleiben wird, da er mich bereits in allem Ernste gefragt hat, ob ihn das habeas corpus ermächtige, sein Vermögen unwiderruflich auf Tony zu übertragen, wie er denn auch deßgleichen in meiner Gegenwart seinen Sohn schon mit Thränen in den Augen beschworen hat, er möchte ihm für den Fall, daß er je wieder verliebt werde, eine Zwangsweste anlegen, bis der Anfall vorüber sey, daneben aber der Dame ausdrücklich bedeuten, daß sein Vermögen »bereits einen andern Herrn habe.«

Obgleich ich keinen Zweifel unterhalte, daß Sam im äußersten Nothfalle diesen Einschärfungen pflichtlich nachkommen und sie mit vollkommener Fassung und Kaltblütigkeit in Vollzug sehen würde, so fürchte ich doch nicht, daß es je so weit kommen wird; denn der alte Herr scheint in der Gesellschaft seines Sohnes, seiner hübschen Schwiegertochter und seiner Enkel vollkommen glücklich zu seyn; auch hat er feierlich seinen Entschluß zu erkennen gegeben, daß er sich »in jedem Betracht nach dem Alten richten« wolle, woraus ich schließen möchte, daß er sich für sein Verhalten Herrn Pickwick zum Muster zu nehmen gedenkt, welcher ihm zuverlässig in der Ehelosigkeit mit einem guten Beispiel vorangehen wird.

Ich bin für einen Augenblick von dem Gegenstande, den ich mir vorgesetzt, abgegangen, denn ich weiß, daß sich mein Freund für diese Angelegenheiten interessirte, und weile gerne bei einem Thema, das seine Gedanken beschäftigte, oder ihm Vergnügen und Unterhaltung gewährte. Seine übrigen Wünsche lassen sich kurz zusammenfassen. Er verlangte, daß wir ihn oft zum Gegenstande unserer Unterhaltung machen, aber nie in einer Stimmung der Trauer oder Zurückhaltung, sondern frei und offen von ihm, als von einem Manne, den wir noch liebten und wieder zu sehen hofften, sprechen sollten. Er drückte seine Hoffnung aus, daß seine alte Wohnung nie traurig, sondern immer heiter und gemüthlich aussehen werde; wir sollten daher auch sein Porträt, das in unserm Speisezimmer hängt, nicht entfernen oder verhüllen, sondern es zu unserm Gefährten machen, wie er es selbst gewesen. Sein Zimmer, der Ort unserer Versammlungen, verbleibt seinem Wunsche gemäß in seinem gewohnten Zustande; unsere Sitze stehen wie vor Alters um den Tisch; sein Armstuhl, sein Pult, seine Krücke, sein Schemel – Alles behauptet seine gewohnte Stelle und die Wanduhr befindet sich in ihrer traulichen Ecke. Wir gehen zu einer bestimmten Stunde in das Gemach, um zu sehen, ob Alles ist, wie es seyn sollte, und dem Lichte und der Luft freien Zutritt zu gestatten, denn dieß hatte er uns besonders angelegentlich empfohlen. Es war indeß eine Grille von ihm, daß es nicht mehr bewohnt, daß es pflichtlich in diesem Zustande bewahrt werden und daß sich die Stimme seiner alten Gefährtin nicht mehr hören lassen solle.

Meine eigene Geschichte läßt sich in sehr wenige Worte zusammenfassen, und selbst diese würde ich dem Leser gerne erspart haben, wenn nicht mein Freund einmal darauf angespielt hätte. Mein Schmerz ist kein geringerer, als der Verlust eines Kindes – einer einzigen Tochter, die noch lebt und einige Wochen, ehe ich meinen Freund zum erstenmale sah, aus dem Vaterhause entfloh. Ich habe nie davon gesprochen, nicht einmal gegen ihn, weil ich sie immer liebte und es nicht über mich zu gewinnen vermochte, ihm ihren Fehltritt mitzutheilen, ohne daß ich ihm auch von ihrem Schmerz und ihrer Reue erzählen konnte. Glücklicherweise war ich im Stande, dieß vor einiger Zeit zu thun. Mit Gottes Zulassung wird es daher nicht mehr lange anstehen, bis sie mir zurückgegeben ist, damit ich in ihr und ihrem Gatten eine Stütze finde für die Neige meiner Tage.

Was meine Tabakspfeife betrifft – so ist sie eine alte Reliquie aus der Heimath, ein Ding von keinem großen Werth, eine armselige Kleinigkeit, mir aber theuer um ihretwillen.

Seit dem Tode unseres verehrten Freundes sind wir nun Beide. Jack Redburn und ich, die einzigen Bewohner des alten Hauses, und Tag für Tag besuchen wir gemeinschaftlich seine Lieblingsspaziergänge. Eingedenk seiner Weisungen sind wir lange im Stande gewesen, mit Ruhe und Freude von ihm zu sprechen und seiner zu gedenken, wie er selbst es gewünscht hat. Aus gewissen Anspielungen, welche Jack fallen ließ, daß er nämlich in früher Jugend einsam in die Welt hinausgestoßen worden, bin ich geneigt, zu glauben, daß einige Züge aus seinem früheren Leben in der Geschichte des Herrn Chester und seines Sohnes gezeichnet sind; da er jedoch nicht gerne darüber spricht, so suchte ich die Sache nicht näher zu erforschen.

Meine Aufgabe ist vollendet. Das Gemach, worin wir so viele Stunden, wie ich hoffe, nicht ohne Vergnügen und Gewinn verbracht haben, ist verlassen; die glückliche Stunde unserer Zusammenkunft schlägt nicht mehr; die Kaminecke ist kalt geworden und Master Humphrey's Wanduhr hat für immer aufgehört, zu schlagen.

 

Ende.

 


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