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Sechsundfünfzigstes Kapitel.

Die Maibaumgevattern, die sich wenig träumen ließen, was für eine Veränderung ihre Lieblingsherberge treffen sollte, schlugen den Waldweg ein und zogen unter Vermeidung der heißen und staubigen Landstraße auf Nebenpfaden und durch Felder gen London. Als sie dem Orte ihrer Bestimmung näher kamen, fingen sie an, bei den Vorübergehenden Nachfrage über die Rebellen und über die Wahrheit oder Falschheit der gehörten Gerüchte anzustellen. Die Antworten übertrafen bei Weitem die Nachrichten, die sich nach dem ruhigen Chigwell verloren hatten. Einer erzählte ihnen, diesen Nachmittag seyen die Garden, welche einige neu aufgefundene Anführer nach Newgate bringen sollten, von dem Pöbel angegriffen und zum Rückzug gezwungen worden; ein Anderer sagte, die Häuser zweier Zeugen in der Nähe von Clare-Market sollten eben niedergerissen werden, als er die Stadt verlassen; wieder ein Anderer wußte, daß die Rebellen nächste Nacht Sir George Saville's Haus in Leicester Fields niederbrennen wollten, und daß es wahrscheinlich Sir George schlimm ergehen dürfte, wenn er in die Hände des Volks falle, da er es gewesen, welcher die Katholikenbill eingebracht habe. Alle Berichte kamen übrigens darin überein, daß das Gesindel in weit größeren Massen und in zahlreicheren Abtheilungen ausgezogen sey, als je bisher; die Straßen wären unsicher; das Geschick der Häuser und Menschen hinge an den Ereignissen einer Stunde; die allgemeine Bestürzung nähme mit jedem Augenblicke zu, und viele Familien hätten sich bereits aus der Stadt geflüchtet. Ein Kerl, der die Farbe des Pöbels trug, verwünschte sie, weil sie keine Kokarde an ihren Hüten hatten, und hieß sie morgen Nacht auf die Gefängnißthüre Acht haben, denn man werde dort guter Schlösser benöthigt seyn; ein Anderer fragte sie, ob sie gefeiet seyen, daß sie ohne die Erkennungszeichen aller guten und treuen Männer umhergingen; und ein Dritter, der zu Pferd angeritten kam und ganz allein war, befahl ihnen, daß ihm jeder einen Schilling zu Unterstützung der Aufrührer in den Hut werfen solle. Obgleich sie sich scheuten, diesem Ansinnen nicht zu entsprechen, und durch die vielerlei Gerüchte sehr beunruhigt waren, so beschlossen sie doch, da sie einmal so weit her gekommen wären, weiter zu gehen und sich mit eigenen Augen von dem wahren Stand der Dinge zu überzeugen. Sie zogen daher rascher voran, wie etwa Menschen zu thun pflegen, die durch wichtige Neuigkeiten gestachelt werden, und während sie über das Vernommene Erwägung anstellten, gerieth ihre Unterhaltung beinahe völlig in's Stocken.

Es war allmälig Nacht geworden, und als sie sich der City näherten, fanden sie eine traurige Bestätigung der unterwegs gehörten Nachrichten in drei großen Feuern, die ziemlich nahe bei einander hellauf loderten und mit ihrem düstern Wiederschein den Himmel beleuchteten. In den Vorstädten angelangt, bemerkten sie, daß fast an jeder Hausthüre mit großen Zügen die Worte: »Kein Pabstthum!« angekreidet, daß die Läden verschlossen, und daß in jedem Gesichte, das ihnen begegnete, Angst und Unruhe abgemalt waren.

Der Anblick aller dieser Dinge erfüllte das Chigweller Kleeblatt mit einer Herzensangst, die Keiner in ihrer vollen Ausdehnung seinen Gefährten mittheilen wollte, und so langten sie endlich an einem vorgelegten Schlagbaum an. Sie waren eben im Begriffe, um den Seitenpfad zu biegen, als ein Reiter von London aus in vollem Galopp angesprengt kam, der dem Schlagbaumwärter mit sehr aufgeregter Stimme zurief, um Gotteswillen schnell zu öffnen.

Die Beschwörung war so ungestüm und angelegentlich, daß der Mann (obgleich er ein Schlagbaumwärter war) schnell mit seiner Laterne herauskam. Er war eben im Begriffe, die Barre zurückzuziehen, als er zufällig hinter sich sah und ausrief:

»Gott im Himmel, was ist dieß! Noch ein Feuer!«

Bei diesen Worten wandten die Drei ihre Köpfe um und sahen in der Entfernung – unmittelbar in der Richtung, wo sie hergekommen waren – einen breiten Feuerschein, der ein drohendes Licht auf die Wolken warf; letztere glimmten, als wäre die Feuersbrunst hinter ihnen, und boten beinahe den Anblick eines zornigen Sonnenunterganges.

»Wenn mich meine Ahnung nicht trügt,« sagte der Reiter, »so weiß ich, von welchem fernen Gebäude diese Flammen kommen. Steht nicht so entsetzt da, mein guter Freund. Oeffnet die Barre!«

»Sir,« rief der Mann, der, nachdem er aufgeschlossen hatte, die Hand an den Zügel seines Pferdes legte, »ich kenne Euch jetzt, Sir. Nehmt Rath von mir an und geht nicht weiter. Ich sah sie vorbeiziehen, und weiß, zu welchem Leuteschlag sie gehören. Man wird Euch ermorden.

»Sey's d'rum!« entgegnete der Reiter, der unablässig auf das Feuer, aber nicht auf den, der ihn anredete, schaute.

»Aber Sir – Sir« rief der Schlagbaumwärter, die Zügel noch  fester fassend, »wenn Ihr einmal gehen wollt, so tragt wenigstens das blaue Band. Da, Sir,« fügte er bei, indem er die Kokarde von seinem eigenen Hut nahm und dabei so angelegentlich sprach, daß ihm die Thränen im Auge standen: »ich habe sie aus Noth, nicht aus freier Wahl – aus Liebe zum Leben und zum heimischen Herde getragen, Sir. Steckt sie nur diese einzige Nacht auf, Sir – nur diese einzige Nacht.«

»O thut es!« riefen die drei Freunde, sich um das Pferd herdrängend. »Herr Haredale – würdiger Sir – guter Herr – bitte, laßt Euch überreden.«

»Wer ist das?« rief Herr Haredale, sich niederbeugend, um einem der Sprecher in's Gesicht zu sehen. »Habe ich nicht Daisy's Stimme gehört?«

»Freilich, Sir,« rief der kleine Mann. »Laßt Euch doch überreden, Sir. Dieser Herr hat vollkommen Recht. Euer Leben hängt davon ab.«

»Würdet Ihr Euch wohl fürchten,« sagte Herr Haredale abgebrochen, »mit mir zu kommen?«

»Ich, Sir? – N-n-nein!«

»So steckt dieses Band auf Euren Hut. Wenn wir auf die Rebellen stoßen, so will ich schwören, ich hätte Euch zum Gefangenen gemacht, weil Ihr es getragen. Sie sollen dieß von meinen eigenen Lippen hören; denn so wahr ich selig zu sterben hoffe – ich nehme keinen Pardon von ihnen, und werde auch keinen geben, wenn es heute Nacht zu einem Handgemenge kömmt. Herauf da – hinter mich – rasch! Haltet Euch nur dicht um meinen Leib und fürchtet nichts.«

Einen Augenblick später sprengten sie, in einer dichten Staubwolke galoppirend, von hinnen – so rasch, wie es ein Jäger nur im Traume thun kann.

Es war ein Glück, daß das gute Roß mit dem Wege vollkommen bekannt war, denn nicht ein einziges Mal während des ganzen Rittes senkte Herr Haredale seinen Blick nach dem Boden, sondern hielt ihn ohne Unterlaß auf das Licht geheftet, auf das er mit wahnsinnigem Jagen lossprengte. Einmal sagte er mit dumpfer Stimme: »es ist wirklich mein Haus,« aber dieß waren die einzigen Worte, die er laut werden ließ. So oft sie an dunkle und bedenkliche Stellen kamen, vergaß er nie, die Hand auf den kleinen Mann zu legen, um ihn sicherer in seinem Sitze zu erhalten; aber auch dann, und immer war sein Kopf aufrecht und das Auge dem Feuer zugekehrt.

Der Weg war gefährlich genug, denn Herr Haredale hatte den nächsten eingeschlagen; und da ging es Hals über Kopf dahin – weit von der Landstraße ab – über einsame Pfade und Heckenwege, wo die Räder der Frachtwagen tiefe Furchen eingedrückt hatten, der schmale Streifen Erdreich durch Gehäge und Gräben eingeengt wurde, und hohe, überwölbende Bäume tiefe Finsterniß verbreiteten. Aber weiter, weiter, weiter jagte das Roß, ohne anzuhalten oder zu stolpern, bis sie vor der Thüre des Maibaums anlangten, wo sie deutlich sehen konnten, wie das Feuer abzunehmen begann, als gebräche es ihm an weiterem Brennstoff.

»Wir müssen absteigen – für einen Augenblick – nur für einen einzigen Augenblick,« sagte Herr Haredale, indem er Daisy auf den Boden half und dann selbst folgte; »Willet – Willet wo ist meine Nichte – wo meine Dienstboten – Willet!«

Mit diesem verzweifeltem Rufe eilte er in das Schenkstübchen. Dort traf er den Wirth gebunden und an seinen Stuhl gefesselt, den Platz verheert und geplündert; – Niemand konnte hier Schutz gesucht haben. Er war ein kräftiger Mann, der sich zu zügeln und seine Leidenschaften zu unterdrücken wußte; aber diese Einleitung zu dem, was kommen sollte – obgleich er das Feuer gesehen hatte und von seinem Hause kaum eine Spur zu finden hoffen durfte – nein, es war mehr, als er zu tragen vermochte. Er bedeckte einen Augenblick das Gesicht mit seinen Händen und wandte das Gesicht ab.

»Johnny, Johnny!« rief Solomon – und das treuherzige Männchen schlug die Hände zusammen, indem er gerade heraus zu weinen anfing – »o lieber, alter Johnny, was ist das für eine Veränderung! Daß es mit dem Maibaumschenkstübchen so weit kommen und wir leben mußten, um es mit anzusehen! Auch der alte Kaninchenberg. Johnny – Herr Haredale – oh, Johnny, welch' ein kläglicher Anblick!«

Während dieser Worte deutete der kleine Solomon Daisy auf Herrn Haredale, legte dann seine Ellenbogen auf die Lehne von Herrn Willet's Stuhl und vergoß über dessen Schulter bittere Zähren.

Während Solomon gesprochen, war der alte John stumm wie ein Stockfisch da gesessen, mit einem gespenstigen Glotzauge umher stierend und jedes mögliche Symptom an den Tag legend, daß er ganz und gar das Bewußtseyn verloren hatte. Als aber Solomon schwieg, folgte John mit seinen großen runden Augen der Richtung seiner Blicke und gewann das Aussehen, als habe er irgend einen unbestimmten, aufdämmernden Begriff, daß Jemand gekommen sey, um ihn zu besuchen.

»Ihr kennt uns doch, oder nicht, Johnny?« fragte der kleine Küster, sich auf die Brust klopfend. »Ihr wißt ja, Daisy – Chigwell Kirche – Glöckner – das kleine Pult an Sonntagen – he, Johnny?«

Herr Willet überlegte einige Augenblicke und murmelte dann mechanisch vor sich hin:

»Laßt uns singen zum Preiß und Ruhm des –«

»Ja, freilich,« rief der kleine Mann hastig; »das ist's – das bin ich, Johnny. Ihr findet Euch jetzt wieder zurecht, nicht wahr? Sagt, Ihr findet Euch wieder zurecht, Johnny.«

»Zurecht?« erwog Herr Willet, als wäre dieß eine Sache, die er bloß mit sich und seinem Gewissen abzumachen habe. »Zurecht? Ah!«

»Sie haben Euch doch nicht mit Stöcken, Schüreisen oder andern stumpfen Werkzeugen mißhandelt – haben sie's, Johnny?« fragte Solomon, mit einem ängstlichen Blicke nach Herrn Willet's Kopf schauend. »Sie haben Euch doch nicht geschlagen, he?«

John kniff die Brauen zusammen, blickte abwärts, als wäre er im Geiste mit irgend einem arithmetischen Calcul beschäftigt, dann aufwärts, als könne er mit dem Facit nicht zu Rechte kommen, dann auf Solomon Daisy, den er von der Stirne bis zu den Schuhschnallen betrachtete, und endlich ganz langsam in dem Schenkstübchen umher. Dann rollte eine große, runde, bleiern aussehende und nicht im geringsten durchsichtige Zähre aus jedem seiner Augen, und endlich sagte er mit einem Kopfschütteln;

»Wenn sie nur die Güte gehabt hätten, mich umzubringen, ich würde es ihnen aus ganzem Herzen Dank gewußt haben.«

»Nein, nein, nein, sprecht nicht so, Johnny,« erinnerte sein kleiner Freund. »Es ist freilich sehr – sehr schlimm, aber doch nicht ganz so, um einen derartigen Wunsch zu rechtfertigen. Nein, nein!«

»Seht Ihr da, Sir!« rief John, einen Jammerblick auf Herrn Haredale entsendend, der sich auf ein Knie niedergelassen hatte, und im Begriffe war, ihn hastig seiner Bande zu entledigen. »Seht Ihr da, Sir; sogar der Maibaum – der alte stumme Maibaum – guckt zum Fenster herein, als wollte er sagen: ›John Willet, John Willet, laßt uns gehen und uns in den nächsten besten Weiher stürzen, wo er am tiefsten ist; denn unsere Stunde ist vorüber!‹«

»Redet nicht so, Johnny – redet nicht so,« rief sein Freund, nicht weniger gerührt durch diese klägliche Anstrengung von Herrn Willet's Einbildungskraft, als durch den Grabeston, worin er für den Maibaum gesprochen hatte. »Um alles in der Welt, redet nicht so, Johnny.«

»Euer Verlust ist groß und Euer Unglück schwer,« sagte Herr Haredale, unruhig nach der Thüre blickend; »aber dieß ist keine Zeit, Euch zu trösten. Und wenn es auch wäre, so bin ich nicht in der Lage, es zu können. Sagt mir übrigens, ehe ich Euch verlasse, nur das Eine, und versucht es, ich bitte Euch flehentlich, mir treue und offene Auskunft zu geben. Habt Ihr nichts von Emma gesehen oder gehört?«

»Nein!« sagte Herr Willet.

»Nichts von sonst Jemand, als von diesen Bluthunden?«

»Nein!«

»Ich vertraue zu Gott, daß sie sich geflüchtet haben, ehe diese schrecklichen Scenen begannen,« sagte Herr Haredale, der bei seiner Aufregung und Hast, wieder zu Pferde zu kommen, und bei der Geschicklichkeit, womit das Seil geknüpft war, bis jetzt kaum einen einzigen Knoten aufgelöst hatte.

»Ein Messer. Daisy.««

»Hat von den Herren,« sagte John, indem er umherschaute, als hätte er sein Taschentuch oder sonst etwas verloren – »hat von den Herren – keiner irgendwo – einen Sarg gesehen?«

»Willet!« rief Herr Haredale.

Solomon ließ das Messer fallen, und sein Körper zitterte vom Kopf bis zu den Füßen, als er rief :

»Barmherziger Himmel!«

»Es ist,« sagte John, ohne im Geringsten auf sie zu achten, »auf seinem Wege nach demselben vor einer kleinen Weile ein todter Mann bei mir eingekehrt. Ich hätte Euch sagen können, welcher Mann auf der Platte stehen müsse, wenn er nur seinen Sarg mitgebracht und ihn hier gelassen hätte. Wenn er's übrigens nicht that, so hat es nichts zu bedeuten.«

Sein Grundherr, der mit athemloser Aufmerksamkeit auf diese Worte gelauscht hatte, sprang jetzt plötzlich auf, zog, ohne ein Wort zu sprechen, Solomon Daisy nach der Thüre, stieg auf sein Pferd, nahm seinen Begleiter wieder hinter sich und ritt mehr im Fluge, als im Galop nach der Brandstätte, wo die Sonne des vergangenen Tages noch ein stattliches Haus beleuchtet hatte. Herr Willet glotzte ihnen nach, horchte und blickte auf seine Füße nieder, um die Ueberzeugung zu gewinnen, daß er noch immer gebunden war, und ohne eine Spur von Ungeduld. Täuschung oder Ueberraschung zu verrathen, verfiel er sachte wieder in den Zustand, aus dem er nur unvollkommen geweckt worden war.

Herr Haredale band sein Pferd an einen Baumstamm, nahm seinen Begleiter am Arm und schlich verstohlen auf dem Fußpfade weiter nach der Stelle, die früher der Garten seines Hauses gewesen war. Er machte einen Augenblick Halt, um von den rauchenden Mauern nach den Sternen aufzublicken, die durch das offene Dach und die zertrümmerten Gänge auf einen Aschenhaufen niederflimmerten. Solomon sah ihm schüchtern in's Gesicht; aber seine Lippen waren dicht zusammengepreßt, der Ausdruck strenger Entschlossenheit lagerte auf seiner Stirne, und keine Thräne, kein Blick, keine Geberde bekundete den Schmerz seiner Seele.

Er zog seinen Degen, fühlte einen Augenblick nach seiner Brusttasche, als führte er dort noch andere Waffen, ergriff dann Solomon wieder bei der Hand und umkreiste mit vorsichtigen Tritten das Haus. Er schaute durch jede Thüre, durch jeden Spalt in der Mauer, wich bei jedem Windstoße in den Blättern zurück und durchspähte mit ausgestreckten Händen jeden dunkeln Winkel. So machten sie ihren Gang um das Gebäude, ohne jedoch, als sie an der früheren Stelle anlangten, auf irgend ein menschliches Wesen, oder auf die Spur irgend eines versteckten Nachzüglers getroffen zu seyn. Nach einer kurzen Pause ließ Haredale zwei- oder dreimal ein lautes »He da!« erschallen. Dann rief er:

»Ist Niemand hier verborgen, der meine Stimme kennt? Es ist jetzt nichts mehr zu fürchten. Wenn Jemand von meinen Leuten in der Nähe ist, so bitte ich ihn, mir zu antworten!«

Es rief dann alle bei Namen; aber nur das Echo antwortete in vielen kläglichen Tönen; dann war alles wieder so still wie zuvor.

Sie standen in der Nähe des Thürmchens, wo die Lärmglocke hing. Das Feuer hatte hier gewüthet, und außerdem waren die Fußböden zersägt, zerhauen und niedergeschlagen. Alles dem Zutritt der Luft offen. Nur ein Theil der Treppe stand noch und wand sich aus einem Staub- und Aschenhaufen aufwärts. Bruchstücke zerhackter und zertrümmerter Stufen boten hin und wieder einen unsicheren Tritt und verloren sich dann wieder in den vorstehenden Mauerecken oder in den tiefen Schatten, welche von andern Theilen der Ruine darauf geworfen wurden; denn mittlerweile war der Mond aufgegangen und leuchtete hell und ruhig auf die Landschaft nieder.

Während sie so da standen und auf das hinsterbende Echo horchten, vergeblich eine bekannte Stimme zu vernehmen hoffend, wurde etwas von der Asche in dem Thurme los und rollte herunter. Solomon, der an diesem traurigen Orte über das geringste Geräusch erschrak, blickte nach dem Antlitz seines Gefährten auf und entdeckte dabei, daß dieser das lauschende Ohr der Stelle, woher der Ton kam, zugewandt hatte.

Herr Haredale legte dem kleinen Mann die Hand auf den Mund und horchte auf's Neue. Unmittelbar darauf befahl er ihm mit leuchtenden Augen, so lieb ihm sein Leben sey, sich ruhig zu verhalten, und weder zu sprechen, noch sich zu rühren. Dann hielt er den Athem an, bückte sich nieder, schlich mit gezogenem Degen nach dem Thurme und verschwand.

In der Angst seines Herzens, nach all' dem, was er in dieser Nacht gesehen und gehört hatte, unter so trostlosen Verhältnissen allein bleiben zu müssen, wäre Solomon wohl gerne nachgegangen, wenn nicht in Herrn Haredale's Wesen und Blick etwas gelegen hätte, was ihn an Ort und Stelle gebannt hielt. Er blieb wie angewurzelt stehen, und, kaum zu athmen wagend, schaute er mit furchtsamer Neugierde in die Höhe.

Wieder ein Lostrennen und Rollen von Asche – ganz, ganz leise – wieder – und dann wieder, als bröckelte sie unter dem Tritte eines schleichenden Fußes zusammen. Und nun wurde durch die Dunkelheit eine Gestalt sichtbar, die ganz sachte niederstieg, oft Halt machte, um nach Unten zu schauen, dann ihren gefährlichen Weg weiter verfolgte und jetzt wieder den Blicken entschwand.

Sie tauchte noch einmal empor in das beschattete und unsichere Licht – jetzt höher, aber nicht viel, denn der Weg war steil und mühsam, weßhalb das Weiterkommen nur sehr langsam von Statten ging. Welch' ein Hirngespinnst mochte er verfolgen, und warum sah er ohne Unterlaß nieder? Wußte er ja doch, daß er allein war! Sein Geist konnte doch nicht unter dem Verluste und dem Kummer dieser Nacht gelitten haben? Wollte er sich etwa köpflings von der Höhe der wankenden Mauer herunterstürzen? Solomon wandelte eine Schwäche an; er schlug die Hände zusammen. Die Kniee zitterten unter ihm und ein kalter Schweiß übergoß sein blaßes Gesicht.

Wenn er Herrn Haredale's letzter Einschärfung Folge leistete, so geschah es jetzt nur, weil er weder zu sprechen, noch sich zu rühren vermochte. Er strengte feinen Blick an und heftete ihn auf einen vom Mondschein beleuchteten Fleck, in welchen er, wenn er fortfuhr, herabzusteigen, bald eintreten mußte. Sobald er dort anlangte, wollte der Küster versuchen, ihm zuzurufen.

Wieder ein Ausgleiten und Bröckeln von Asche; einige Steine fielen nieder und rollten mit dumpfem und schwerem Schalle auf den Boden unten. Er verwandte kein Auge von der mondhellen Stelle. Die Gestalt näherte sich, denn ihr Schatten zeigte sich bereits auf der Mauer. Jetzt tauchte sie auf und jetzt schaute sie sich nach ihm um – und jetzt –

Der entsetzte Küster stieß einen Schrei aus, der die Luft zerriß, und rief:

»Wieder der Geist, der Geist!«

Lange, ehe das Echo dieses Rufes hingestorben war, hatte sich auch eine andere Gestalt in das Licht gestellt, sich auf die erste gestürzt und sie niedergeworfen; dann kniete sie auf die Brust derselben und umfaßte ihre Kehle mit beiden Händen.

»Elender!« rief Herr Haredale mit furchtbarer Stimme – denn er war es. »Todt und begraben, wie deine höllischen Kunstgriffe alle Welt glauben machten, aber von dem Himmel hiezu aufgespart – endlich – endlich – habe ich dich. Du, dessen Hände roth sind von dem Blute meines Bruders und dem seines treuen Dieners, den du erschlugst, um deine Schandthat zu verbergen – du Rudge, doppelter Mörder und Ungeheuer, ich verhafte dich im Namen Gottes, der dich in meine Hände geliefert hat. Nein. Und wenn du die Kraft von zwanzig Männern hättest,« fügte er bei, als der Andere sich wehrte und abkämpfte, »du sollst dich in dieser Nacht meiner Faust nicht entwinden oder entkommen!«



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