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Siebenundvierzigstes Kapitel.

In der unerschöpflichen Reihe der Wohlthaten, die der Himmel dem Menschengeschlechte spendet, muß die uns inwohnende Kraft, selbst in den schwersten Prüfungen einen Keim des Trostes zu finden, stets die erste Stelle einnehmen – nicht nur, weil sie uns stützt und aufrecht erhält, wo wir dessen am meisten bedürfen, sondern weil in dieser Quelle des Friedens etwas liegt, was wir mit Grund einen göttlichen Hauch nennen mögen: etwas von jener Güte, das uns auch in Mitte unseres sündigen Treibens eine versöhnende Eigenschaft enthüllt; etwas, das wir, trotz unserer gefallenen Natur, mit den Engeln gemein haben, das seinen Ursprung aus den Zeiten hat, als diese Boten des Friedens noch auf Erden wandelten, und jetzt noch mitleidig hienieden weilt.

Wie oft bedachte die Wittwe auf ihrer Wanderung mit dankbarem Herzen, daß Barnaby's Liebe und Heiterkeit aus seiner Geistesschwäche sprosse! Wie oft führte sie sich zu Gemüthe, daß er ohne diesen Umstand vielleicht tückisch, mürrisch, lieblos, fern von ihr – wohl gar verbrecherisch und grausam seyn könnte! Wie oft hatte sie Ursache, sich durch seine Kraft, seine Hoffnungsfülle und sein einfaches Wesen getröstet zu fühlen! War es nicht jetzt eine Beruhigung für sie, daß gerade diese Geistesschwäche ihn der Vergangenheit so bald vergessen ließ – etwa kurze, leuchtende Blitze ausgenommen. Die Welt hatte nichts als Glück für ihn; jeder Baum, jede Pflanze, jede Blume, jeder Vogel, jedes Thierchen, sogar das kleinste Insekt, das ein Sommerlüftchen auf die Erde warf, war für ihn ein Gegenstand des Entzückens. Seine Lust war auch die ihrige; und wo ein verständiger Sohn ihr Herz sorgenschwer gemacht hätte, erfüllte dieser arme, frohsinnige Verrückte ihr Inneres mit Dank und Liebe.

Ihre Baarschaft war nur gering, denn von dem ganzen Schatz, welchen die Wittwe in die Hand des Blinden gezählt, hatte sie nur eine einzige Guinee zurückbehalten. Freilich war diese mit ein paar Pencen, die sie außerdem besaß, für zwei so mäßige Personen sogar ein Reichthum zu nennen. Außerdem hatten sie auch Greif bei sich, und statt die Guinee wechseln zu lassen, durften sie ihn nur an der Thüre eines Bierhauses, in der Straße eines Dorfes, oder auf den Gütern und Gärten eines Landhauses der besseren Art ausstellen, um Dutzende, die aus Barmherzigkeit nichts gegeben haben würden, zu veranlassen, in ihrer Freude über den schwatzenden Vogel, sich von einer Kleinigkeit an Geld zu trennen.

Eines Tages – denn ihre Reise ging nur langsam von Statten, und sie befanden sich, obgleich sie hin und wieder mit Karren oder Frachtwagen fahren konnten, bereits eine Woche unterwegs – bat Barnaby, Greif auf seiner Schulter und die Mutter hinter ihm, in einem hübschen Thürsteherstübchen um die Erlaubniß, nach einem großen Hause an der andern Seite der Allee hinaufgehen und seinen Raben zeigen zu dürfen. Der Portier war nicht abgeneigt, sie einzulassen und wollte ihnen eben öffnen, als ein wohlbeleibter Gentleman mit einer langen Peitsche in der Hand und einem glühendrothen Gesichte, das auf seinen Morgentrunk hinzudeuten schien, gegen das Gitterthor angeritten kam, vor dem er mit lauter Stimme und mit mehr Flüchen, als wohl nöthig schien, augenblicklichen Einlaß verlangte.

»Was hast du hier aufgegriffen?« sagte der Gentleman zornig, als der Thürsteher das Thor weit öffnete und seinen Hut abzog. »Wer sind diese? He? Bist du eine Bettlerin, Weib?«

Die Wittwe antwortete mit einer Verneigung, daß sie arme Reisende wären.

»Vaganten,« entgegnete der Gentleman. »Vaganten und Lumpenpack. He, willst du mit dem Käfig Bekanntschaft machen – mit dem Käfig, dem Block und dem Auspeitschungspfahle? Woher kömmst du?«

Sie gab mit schüchterner Miene Auskunft darüber – denn der Rothkopf sprach sehr laut und patzig – und bat ihn, nicht zu zürnen, da sie ganz in Gutem gekommen wären und augenblicklich ihres Weges weiter ziehen wollten.

»Das wollen wir erst sehen,« versetzte der Gentleman. »Wir lassen hier kein Lumpengesindel herumstreifen. Ich weiß wohl, was du im Schilde führst – Leinwand, die zum Trocknen an den Hecken aufgehängt ist, und Geflügel zu stehlen, he? Was hast du in deinem Korbe, du Tagedieb?«

»Greif, Greif, Greif – Greif, der Gescheidte. Greif, der Boshafte. Greif der Schelm – Greif, Greif, Greif!« rief der Rabe, welchen Barnaby bei der Annäherung Seiner Gestrengen wieder in den Korb gesteckt hatte. »Ich bin ein Teufel, ich bin ein Teufel. Nichts da von Sterben! Hurrah! Wau, wau, wau! Polly, setz' den Kessel auf, wir wollen alle Thee haben.«

»Nimm das Geschmeiß heraus, du Galgenstrick,« sagte der Gentleman, »und laß mich's sehen.«

Auf diese herablassende Anrede nahm Barnaby, freilich nicht ohne Furcht und Zittern, seinen Vogel heraus und setzte ihn auf den Boden nieder. Dieß war kaum geschehen, als Greif wenigstens fünfzig Stöpsel auszog und dann zu tanzen anfing; dabei beäugelte er den Gentleman mit erstaunlicher Unverschämtheit und drehte seinen Kopf so gewaltig auf die Seite, daß es den Anschein hatte, als wolle er ihn auf der Stelle ganz abschrauben.

Das Korkziehen schien auf den gestrengen Herrn einen weit größeren Eindruck zu machen, als das Sprachtalent des Raben, da ersteres in der That mehr zu den Gewohnheiten und der Fassungsgabe des Gentleman paßte. Er verlangte eine Wiederholung desselben; aber trotz seines sehr dictatorischen Befehles, und ungeachtet Barnaby alle seine Schmeichelworte aufbot, hatte Greif für das Ansinnen doch nur ein taubes Ohr, denn er verblieb jetzt mäuschenstille.

»Bring' ihn mit,« sagte der Gentleman, nach dem Hause deutend.

Aber Greif, der auf diese Geberde Acht gegeben hatte, kam seinem Gebieter zuvor, indem er voran hüpfte, dabei unablässig mit den Flügeln schlagend und zwischen hinein »Köchin« rufend vielleicht als eine Andeutung, daß Gesellschaft komme, welche eine kleine Erfrischung nicht verschmähen würde.

Barnaby und seine Mutter gingen zu beiden Seiten des Reiters her, der sie von Zeit zu Zeit stolz und grob in's Auge faßte und bisweilen eine Frage herausdonnerte, deren Ton Barnaby so sehr erschreckte, daß er keine Worte finden und daher ganz natürlich auch nicht antworten konnte. Bei einer solchen Gelegenheit, als der Gentleman geneigt schien, seine Reitpeitsche in Anwendung zu bringen, wagte es die Wittwe, ihm mit leiser Stimme und mit Thränen in den Augen mitzutheilen, daß ihr Sohn geistesschwach sey.

»Ein Blödsinniger, he?« sagte der Gentleman, während dieser Worte auf Barnaby schauend. »Und wie lange bist du's schon?«

»Von Geburt an,« sagte die Wittwe.

»Kein wahres Wort daran,« rief der Gentleman. »Eine bloße Ausflucht, um nicht arbeiten zu müssen. Solche Krankheiten kurirt man mit Nichts sicherer, als mit der Peitsche. Ich stehe dafür, in zehn Minuten ist er mir ganz anders.«

»Der Himmel hat ihn nicht anders machen können in mehr als zwanzig Jahren, Sir,« entgegnete die Wittwe sanft.

»Warum läßt du ihn denn nicht einsperren? Die Grafschaft zahlt genug für diese verdammten Narrenhäuser. Aber natürlich willst du ihn lieber mit dir herumschleppen, um Mitleid zu erregen. Na, ich kenne dich.«

Nun hatte dieser Gentleman unter seinen vertrauten Freunden unterschiedliche Lieblingsnamen. Die Einen nannten ihn »einen Landedelmann aus der ächten Schule«. Andere »einen charmanten alten Landedelmann«. Einige »einen Fuchsjäger«. Andere »einen Engländer von gutem alten Schlage«, und wieder Andere »einen ächten und gerechten John Bull«; in einem Betracht kamen aber Alle überein, nämlich, es sey Schade, daß es nicht mehr seines Gleichen gäbe und daß aus eben diesem Grunde das Land mit jedem Tage mehr seinem Verfall und Untergang näher entgegen gehe. Er war Friedensrichter und konnte beinahe seinen Namen leserlich schreiben; seine vorzüglichsten Eigenschaften bestanden jedoch darin, daß er strenger mit den Wilddieben umging, besser schoß, schärfer ritt, bessere Hunde und Pferde hielt, mehr essen und starken Wein trinken konnte, jeden Tag trunkener zu Bette ging und jeden Morgen nüchterner aufstand, als irgend ein Mensch in der ganzen Grafschaft. Auf Pferdefleisch verstand er sich fast wie ein Kurschmied; an Stallwissenschaften that er es seinem eigenen Oberstallknecht zuvor, und was die Gefräßigkeit betraf, so konnte es kein Schwein auf seinem ganzen Gute ihm gleich thun. Er hatte zwar keinen Sitz im Parlament, war aber doch ausnehmend patriotisch und kutschirte gewöhnlich seine Wahlmänner eigenhändig zum Poll. Er hing sehr eifrig an der Kirche und ließ in seinem Bezirke Niemandem eine Pfründe zukommen, der nicht ein tüchtiger Trinker und Fuchsjäger ersten Ranges war.

Alle armen Leute, die lesen und schreiben konnten, waren ihm verdächtig, und da seine Frau – eine junge Dame, die er, wie seine Freunde es nannten, aus dem »gutem altenglischen Grunde« geheirathet hatte, daß sich ihres Vaters Vermögen mit dem seinigen verschmelze – in dieser Hinsicht größere Kenntnisse besaß, als er selbst, so konnte auch sie seiner geheimen Eifersucht nicht entgehen. Mit einem Worte – wenn Barnaby ein Verrückter und Greif ein Geschöpf von blos thierischem Instinkt genannt werden konnte, so ließ sich kaum sagen, was dieser Gentleman war.

Er ritt an der hohen Treppenflucht eines schönen Hauses an, wo ein Diener wartete, um ihm das Pferd abzunehmen; dann ging er nach einer großen Halle voraus, die, trotz ihrer Geräumigkeit, ganz mit den Düften übernächtiger Schlemmerei angefüllt war. Ueberröcke, Reitpeitschen, Zäume, Stulpenstiefel, Sporen und sonstiger Plunder lagen überall umhergestreut und bildeten, nebst einigen ungeheuren Hirschgeweihen und Porträts von Hunden und Pferden, die Hauptverzierung der Halle.

Er warf sich in einen großen Lehnstuhl, in welchem er, beiläufig gesagt, oft die ganze Nacht durch zu schnarchen pflegte, wenn er, nach dem Urtheile seiner Bewunderer, ein noch charmanterer Landedelmann als sonst gewesen war, und befahl dem Diener, seine Gebieterin herunter zu rufen. Unmittelbar darauf erschien auch, augenscheinlich etwas verwirrt durch diese ungewohnte Einladung, eine Dame, die viel jünger, als er selbst, von sehr zartem Bau, und, wie man sehen konnte, nicht allzu glücklich war.

»Da! du hast keine Freude daran, wie es einer Engländerin ziemt, den Jagdhunden zu folgen,« sagte der Gentleman. »So sieh' einmal dieß hier an – vielleicht ist's nach deinem Geschmacke.«

Die Dame lächelte, setzte sich in einiger Entfernung von ihm nieder und betrachtete Barnaby mit einem mitleidigen Blicke.

»Das Weib sagt, er sey verrückt,« bemerkte der Gentleman mit einem Kopfschütteln; »aber ich glaub's nicht.«

»Seyd Ihr seine Mutter?« fragte die Dame.

Die Antwort lautete bejahend,

»Was hilft's, sie zu fragen?« sagte der Gentleman, seine Hände in die Beinkleidertaschen steckend. »Die sagt natürlich nicht anders. Höchst wahrscheinlich ist er gemiethet um so und so viel für den Tag. Nun. Fang einmal an. Laß ihn was machen.«

Greif, der inzwischen wieder zu Laune gekommen war, geruhte auf Barnaby's Bitten, seine verschiedenen Redensarten zu wiederholen und alle seine Leistungen mit dem schönsten Erfolg durchzumachen. Die Stöpsel und die »Nichts da von Sterben« gewährten dem Gentleman so viel Vergnügen, daß er so lange eine Repetition dieses Theils der Darstellung verlangte, bis Greif in seinen Korb spazirte und sich entschieden weigerte, auch nur noch ein Wörtchen, mochte es nun gut oder bös seyn, zu sagen. Auch die Dame unterhielt sich sehr gut damit, und die schließliche Störrigkeit des Vogels ergötzte ihren Herrn Gemahl dermaßen, daß er in ein schallendes Gelächter ausbrach und nach dem Preise fragte.

Barnaby sah ihn an, als ob er ihn nicht verstände. Wahrscheinlich war es auch wirklich der Fall.

»Den Preis,« sagte der Gentleman, indem er in seiner

Tasche mit Geld klimperte. »Was willst du für ihn haben? Wie viel?«

»Er ist nicht zum Verkaufen,« entgegnete Barnaby, indem er hastig den Korb zumachte und den Riemen über seine Schulter warf. »Mutter, kommt mit.«

»Da siehst du, wie blödsinnig er ist, du Büchergelehrte,« sagte der Gentleman, seiner Gattin einen verächtlichen Blick zuwerfend. »Wie er sich auf's Handeln versteht. Was verlangst du dafür, altes Weib?«

»Er ist der beständige Begleiter meines Sohnes,« sagte die Wittwe, »und ist in der That nicht zu verkaufen.«

»Nicht zu verkaufen?« rief der Gentleman noch lauter und barscher, als zuvor, dabei noch zehnmal röther werdend. »Nicht zu verkaufen?«

»Nein, gewiß nicht,« antwortete sie. »Ich kann Euch versichern, Sir, daß wir nie entfernt daran gedacht haben, ihn wegzugeben.«

Er war augenscheinlich im Begriffe, eine höchst leidenschaftliche Erwiederung zu machen, als einige leise Worte von Seite seiner Gattin an sein Ohr schlugen, worauf er sich rasch umwandte und fragte:

»He? Was?«

»Wir können ihnen nicht zumuthen, den Vogel gegen ihren Willen zu verkaufen,« stotterte sie. »Wenn sie ihn daher behalten wollen – –«

»Ihn behalten wollen?« wiederholte er. »Diese Leute, welche das Land durchstreichen, um lange Finger zu machen und ein Vagabundenleben zu führen – und einen Vogel behalten wollen, wenn ein Landeigenthümer und Friedensrichter nach dem Preise fragt? Dieses alte Weib ist in die Schule gegangen. Ich weiß Das. Läugne es nicht,« brüllte er die Wittwe an; »ich sage: Ja.«

Die Wittwe bekannte sich als dieser Bezüchtigung schuldig und drückte ihre Hoffnung aus, das es nichts Unrechtes sey.

»Nichts Unrechtes?« sagte der Gentleman. »Nein, nichts Unrechtes. Nichts Unrechtes, du alte Rebellin; kein Bischen Unrechtes. Wenn mein Büttel da wäre, ließe ich dich in den Block stecken, ja, oder in's Gefängniß legen für's Landstreichen und Aufpassen, ob es nicht irgendwo 'was zu stipitzen gibt, du Stück von einer Zigeunerin. Da, Simon, schaff' dieses Diebsgesindel hinaus, wirf sie auf die Straße – hinaus mit ihnen! Ihr wollt den Vogel nicht verkaufen und kommt nur her, um zu betteln, he? Wenn sie nicht im Doppelschritt Reißaus nehmen, so hetze die Hunde auf sie.«

Sie warteten keine weitere Entlassung ab, sondern flohen eiligst, den Gentleman allein lassend, da sich seine arme Gattin bereits entfernt hatte. Sie machten vergebliche Versuche, Greif zum Schweigen zu bringen, der, während sie die Allee hinuntereilten, durch den Lärm aufgeregt so viele Stöpsel auszog, daß man ein Citybanquett damit hätte versehen können, und sich selbst über die Maßen Glück zu wünschen schien, daß er zu einem Tumulte Anlaß gegeben hatte. Als sie in der Nähe des Pförtnerhäuschens anlangten, tauchte ein anderer Diener aus dem Gesträuche auf, der sich ganz geschäftig anstellte, sie fortzuschaffen, im Geheim aber der Wittwe eine Krone in die Hand drückte und ihr zuflüsterte, daß sie von seiner Gebieterin komme, worauf er sie sachte zu dem Thore hinausschob.

Dieser Vorfall weckte in der Wittwe, als sie einige Meilen weiter unten bei einem Bierhause Halt machten und den Charakter des Friedensrichters in dem Sinne seiner Freunde beurtheilen hörte, nur die Muthmaßung, daß vielleicht doch etwas mehr als ein guter Magen und Geschmack für Stall und Hundehütten erforderlich sey, um einen vollkommenen Landedelmann, einen Engländer von gutem alten Schlage, oder einen ächten und gerechten John Bull zu bilden, und daß diese Ausdrücke bisweilen sehr unrecht angebracht, wo nicht gar entehrt würden. Sie ließ sich damals wenig träumen, daß ein so geringfügiger Umstand je auf ihr künftiges Glück einwirken könnte; aber Zeit und Erfahrung sollten sie in dieser Hinsicht belehren.

»Mutter,« sagte Barnaby, als sie des andern Tages in einem Frachtwagen saßen, der sie bis auf zehn Meilen in die Nähe der Hauptstadt bringen sollte; »Ihr sagtet, wir gehen zuerst nach London; werden wir den blinden Mann dort sehen?«

Sie wollte schon mit einem »Gott behüte!« antworten, hielt aber wieder inne und sagte ihm, sie glaube nicht, und warum er so frage.

»Er ist ein verständiger Mann,« sagte Barnaby mit gedankenvoller Miene. »Ich wollte, wir träfen ihn dort wieder. Was hat er doch von dem Gedränge gesagt? Gold könne man finden, wo viele Leute beisammen wären, aber nicht unter den Bäumen und an so ruhigen Orten? Er sprach, als ob er selbst ein Freund von Gold sey. In London gibt es viele Leute; ich denke, wir werden ihn dort treffen.«

»Aber warum wünschest du ihn zu sehen, mein Kind?« fragte sie.

»Weil,« entgegnete Barnaby, seine Mutter verschmitzt ansehend, »weil er von Gold mit mir sprach, und das ist jedenfalls eine seltene Sache. Sage mir, was du willst, ich weiß, es ist ein Ding, das du auch haben möchtest. Außerdem noch, weil er auf eine so wundersame Weise kam und ging – gerade wie die weißköpfigen alten Leute, die bisweilen des Nachts unten an mein Bett treten und mir Dinge sagen, auf die ich mich nicht mehr erinnern kann, wenn der helle Tag zurückkehrt. Er sagte mir, er wolle wieder kommen. Ich möchte nur wissen, warum er nicht Wort gehalten hat!«

»Aber du hast früher nie daran gedacht, reich seyn und prächtige Kleider tragen zu wollen, lieber Barnaby. Du bist sonst immer so zufrieden gewesen.«

Er lachte und verlangte, daß sie ihm dieß noch einmal sage; dann rief er: »je nun – o ja!« und lachte auf's Neue. Dann fesselte etwas in der Nähe seine Aufmerksamkeit, und der Gegenstand war vergessen, um einem andern eben so flüchtigen Platz zu machen.

Jedenfalls war indeß aus seinen Worten und dem Umstande, daß er an diesem und an dem nächsten Tage immer wieder auf den Besuch des blinden Mannes und sogar auf dessen Reden zurückkam, klar, daß jene kurze Erscheinung in seinem Geiste feste Wurzeln gefaßt haben mußte. Hatte nun die Idee des Reichthums ihren ersten Ursprung in dem Anblick der goldenen Wolken jenes Abends – denn oft drängten sich in Folge von Außendingen seinen Gedanken Bilder auf, die gar nicht mit denselben in Zusammenhang standen – war es ihre armselige und dürftige Lebensweise, die ihn längst auf den Gegensatz gebracht, lag der plötzliche Anlaß in dem scheinbaren Zufalle, daß des blinden Mannes Denkweise dieselbe Richtung mit der seinigen verfolgte, oder hatte blos die Blindheit des Mannes, um deren willen sich derselbe so sehr von denjenigen, mit welchen er sonst gesprochen, unterschied, einen solchen Eindruck auf ihn gemacht – wir wissen das nicht zu sagen. Sie gab sich alle Mühe, dieser Frage auf den Grund zu kommen, aber vergeblich; auch war die Sache Barnaby wahrscheinlich eben so unklar.

Es erfüllte sie mit Unruhe, daß er immer wieder dieselbe Saite berührte; sie wußte aber weiter nichts zu thun, als ihn rasch auf ein anderes Thema zu führen, um ihn in dieser Weise davon abzulenken. Ihn vor jenem Besuch zu warnen, Furcht oder Argwohn gegen denselben an den Tag zu legen – dieß, fürchtete sie, könnte das Interesse, das Barnaby für ihn fühlte, nur vermehren und den Wunsch, wieder mit ihm zusammenzutreffen, verstärken. Sie hoffte im Gewühl der Menschen ihres schrecklichen Verfolgers los zu werden und, wenn sie dann, wo möglich mit erhöheter Vorsicht, nach irgend einem fernen Winkel wanderte, in stiller Verborgenheit ein ruhiges Leben führen zu können.

Sie erreichten im Laufe der Zeit ihre noch zehn Meilen von London entlegene Station, und blieben daselbst über Nacht, nachdem sie sich zuvor für eine Kleinigkeit Plätze auf einem leichteren Wägelchen verschafft hatten, das leer nach London zurückkehrte und des andern Morgens um fünf Uhr abfahren sollte. Der Kutscher war pünktlich, die Wege gut (den Staub ausgenommen, da die Witterung sehr heiß und trocken war), und Freitag den zweiten Juni Tausend Siebenhundert und Achtzig, Vormittags um sieben Uhr, stiegen sie an der Westminsterbrücke aus, verabschiedeten sich von ihrem Führer und standen jetzt allein mit einander auf dem sengenden Pflaster; denn die Frische, welche die Nacht über solche rührige Straßen verbreitet, war bereits entwichen, und die Sonne leuchtete mit ungewöhnlichem Glanze.



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