Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweiundsiebenzigstes Kapitel.

Der schwarze Löwe war so weit abgelegen und sie brauchten so lange, bis sie hinkamen, daß Dolly, obgleich sie für die Thatsächlichkeit und Wirklichkeit der Begebnisse in der letzten Zeit hinreichend kräftige Beweise zu haben glaubte, sich doch des Gedankens nicht ganz entschlagen konnte, sie müsse in einem Traum befangen seyn, der die ganze Nacht durch anhalte. Auch war sie noch nicht ganz überzeugt, ob sie wirklich mit eigenen Sinnen sah und hörte, als sogar im Verlauf der Zeit die Kutsche vor dem schwarzen Löwen Halt machte und der Wirth dieses Gasthauses im heiteren Lichterglanz herantrat, um ihnen aussteigen zu helfen und sie herzlich willkommen zu heißen.

Und da standen auch, der Eine auf dieser, der Andere auf jener Seite der Kutsche, bereits Edward Chester und Joe Willet am Schlage, die demnach auch in einer Kutsche hergekommen seyn mußten: und dieß war eine so seltsame und räthselhafte Erscheinung, daß Dolly nur um so mehr geneigt war, dem Gedanken nachzuhängen, daß das Ganze nur ein Traum sey. Aber als Herr Willet erschien – der alte John selbst – so hartköpfig und störrig, und mit einem solchen Doppelkinn, wie es wohl die lebhafteste Einbildungskraft in ihren kühnsten Flügen nie in so ungeheuren Proportionen hätte heraufbeschwören können – da sah sie ihren Irrthum ein und mußte sich gegen ihren Willen zugestehen, daß sie hellauf wachte.

Und Joe hatte einen Arm verloren – er – dieser wohlgebaute, hübsche, tapfere Bursche! Als Dolly nach ihm hinblickte und der Schmerzen gedachte, die er dabei ausgestanden haben mußte, und der entlegenen Orte, welche er durchzogen, und sich dabei wunderte, wer ihm wohl abgewartet habe, der Hoffnung Raum gebend, wer es auch gewesen seyn mochte, er sey so freundlich, zart und rücksichtsvoll behandelt worden, als sie ihn hätte behandeln können – da drangen die Thränen nach ihren klaren Augen, anfangs nur ein klein wenig, eine nach der andern, bis sie dieselben nicht mehr zurückhalten konnte und sie endlich vor ihnen Allen bitterlich zu weinen begann.

»Wir sind jetzt Alle wohlbehalten und in Sicherheit, Dolly,« sagte ihr Vater freundlich. »Nichts soll uns wieder trennen. D'rum guten Muths, meine Liebe, guten Muths!«

Die Frau des Schlossers wußte vielleicht besser, als er, was ihrer Tochter fehlte. Aber Madame Varden war eine ganz andere Frau – denn der Aufruhr hatte eine sehr günstige Wirkung auf sie geübt; sie brachte daher auch ihr Sprüchlein an und tröstete sie mit ähnlichen Vorstellungen.

»Vielleicht –« sagte Herr Willet senior, sich in der Gesellschaft umschauend – »ist sie hungrig. Verlaßt Euch d'rauf, da sitzt der Haken – ich bin's selber auch.«

Der schwarze Löwe, der, wie der alte John, schon unvernünftig und unbillig lang auf das Nachtessen gewartet hatte, begrüßte diese Hypothese als eine philosophische Entdeckung der tiefsten und umfassendsten Art, und da der Tisch bereits gedeckt war, so setzte man sich alsbald zum Mahle nieder.

Die Unterhaltung war keine der lebhaftesten, und auch der Appetit der Gäste nicht sehr groß. Aber in jedem Betracht leistete der alte John für das, woran es die Andern fehlen ließen, mehr als hinreichend Ersatz, indem er sich ganz ungewöhnlich auszeichnete.

Zwar war es nicht gerade die Gesprächigkeit, was Herrn Willet so glänzend erscheinen ließ, denn er hatte keinen von seinen alten Gevattern da, um mit ihm »anzubinden«, und Joe gegenüber war er etwas schüchtern, denn er unterhielt ein gewisses unbestimmtes Bedenken, daß derselbe, eh' man sich's versehe und bei der geringsten Beleidigung den schwarzen Löwen in seiner eigenen Stube zu Boden schlagen und sich dann auf der Stelle nach China oder irgend einem andern entlegenen oder unbekannten Welttheile zurückziehen könnte, um für immer oder wenigstens so lang dort zu bleiben, bis er auch noch seines andern Arm's, seiner beiden Beine und vielleicht noch eines Auges obendrein losgeworden wäre. Dagegen füllte er jede Pause mit einer eigenthümlichen Art von Pantomimenspiel aus, so daß der schwarze Löwe, der ihn doch seit Jahren her kannte, die Ansicht kund gab, er übertreffe eigentlich sich selbst und überfliege die Erwartungen seiner bewunderndsten Freunde.

Der Gegenstand, welcher in Herrn Willet's Gehirn arbeitete und diese Pantomimen veranlaßte, war kein anderer, als seines Sohnes körperliche Entstellung, die er noch nie recht hatte glauben oder begreifen können. Kurz nach ihrem ersten Zusammentreffen sah man ihn im Zustande großer Verwirrung nach der Küche wandern und seine Blicke gegen das Feuer richten, als suche er seinen gewöhnlichen Rathgeber in schwierigen und bedenklichen Fällen. Da sich jedoch im schwarzen Löwen kein Kupferkessel befand und die Aufrührer seinen eigenen dermaßen zerschlagen und zerwettert hatten, daß er ganz ungeeignet war, weitere Dienste zu leisten, so ging er in vollkommener Ungewißheit und geistiger Confusion wieder hinaus, jetzt zu den seltsamsten Mitteln seine Zuflucht nehmend, um seine Bedenken zu lösen. So befühlte er zum Beispiel den Aermel von seines Sohnes Oberrock, als hielte er es für möglich, daß hier ein Arm versteckt sey; dann betrachtete er sich selbst und die übrigen Anwesenden, um sich zu überzeugen, daß zwei Arme und nicht einer die gewöhnliche Ration wären; dann saß er, wohl eine Stunde in düsterem Nachdenken versunken da, als mühte er sich, Joe's Bild aus früheren Tagen in sein Gedächtniß zurückzurufen, um darüber in's Klare zu kommen, ob er denn wirklich damals nur einen Arm gehabt habe, oder ein Paar; und so erging er sich in noch vielen anderen derartigen spekulativen Betrachtungen.

Da Herr Willet sich bei dem Nachtessen von Gesichtern umringt sah, mit denen er aus alten Zeiten so gut bekannt war, so kam er mit ungemeiner Geisteskraft wieder auf den Gegenstand zurück, fest entschlossen, jetzt oder nie darüber in's Klare zu kommen. Bisweilen, in der Regel nach zwei oder drei Mundladungen, legte er Messer und Gabel nieder und stierte mit aller Macht seinen Sohn – namentlich dessen verstümmelte Seite – an; dann sah er sich rund an dem Tische um, bis er dem Auge irgend einer andern Person begegnete, worauf er mit großer Feierlichkeit den Kopf schüttelte, sich die Schulter strich, blinzelte, oder vielmehr – denn das Blinzeln war bei ihm ein gar langsamer Prozeß – für eine oder zwei Minuten mit einem Auge einschlief; und dann nahm er mit einem abermaligen Kopfschütteln Messer und Gabel wieder auf, um weiter zu essen. Bisweilen steckte er sich in der Zerstreuung einen Bissen in den Mund und schaute, alle seine Fähigkeiten auf Joe concentrirend, in einem Zustande von Betäubung nach ihm hin, wie er das Fleisch mit Einer Hand schnitt, bis sich bei ihm Symptome der Erstickung zeigten und er auf diesem Wege wieder in's Bewußtseyn gerufen wurde. Ein andermal nahm er seine Zuflucht zu kleinen Pfiffen, indem er ihn aufforderte, ihm die Salzbüchse, den Pfeffer, die Essigflasche, den Senf – überhaupt Dinge, die auf seiner beschädigten Seite standen – zu reichen, wobei er sorgsam darauf achtete, wie er es ihm herüber bot. Vermittelst derartiger Experimente gelangte er endlich zu einer so genügenden Ueberzeugung, daß er nach einer längeren Pause, als er bis jetzt hatte eintreten lassen, Messer und Gabel zu jeder Seite seines Tellers niederlegte, aus dem neben ihm stehenden Kruge einen langen Schluck that, die Augen noch immer auf Joe geheftet, sich in seinem Stuhle zurücklehnte, den Athem tief aufholte, sich an dem ganzen Tische umsah und endlich anhub:

»Er ist ihm abgenommen worden!«

»Beim Görge!« rief der schwarze Löwe, mit der Hand auf den Tisch schlagend. »jetzt hat er's.«

»Ja, Sir,« sagte Herr Willet mit dem Blicke eines Mannes, der sich bewußt ist, das Kompliment, welches er erhalten, verdient zu haben. »Da liegt der Hase im Pfeffer. Er ist abgenommen worden.«

»Erzählt ihm, wo es geschah,« erging die Aufforderung des schwarzen Löwen an Joe.

»Bei der Vertheidigung der Savannah, Vater.«

»Bei der Vertheidigung der Salwanner?« wiederholte Herr Willet leise, indem er sich abermals an dem ganzen Tische umsah.

»In Amerika, wo der Krieg ist,« sagte Joe.

»In Amerika, wo der Krieg ist,« wiederholte Herr Willet. »Er wurde ihm abgenommen bei der Vertheidigung der Salwanner in Amerika, wo der Krieg ist.«

Er fuhr fort, diese Worte leise vor sich hin zu murmeln (dieselbe Mittheilung war ihm indeß vorher wenigstens schon fünfzigmal in denselben Ausdrücken gemacht worden), stand dann vom Tische auf, ging zu Joe hinüber, befühlte seinen leeren Aermel von dem Aufschlage an bis hinauf, wo der Stumpf tastbar war, drückte ihm die Hand, zündete seine Pfeife am Feuer an, that einen langen Zug und spazierte nach der Thüre; dort wandte er sich noch einmal um, wischte sich das linke Auge mit dem Rücken seines Zeigefingers und sprach mit stotternder Stimme: »Meines Sohnes Arm – ist abgeschossen worden – bei Vertheidigung von den – Salwanners – in Amerika – wo der Krieg ist« – mit welchen Worten er sich entfernte, um an diesem Abend nicht wieder zurückzukehren.

In der That zog sich unter verschiedenen Vorwänden Einer nach dem Andern zurück – Dolly ausgenommen, die noch allein sitzen blieb. Sie fand eine große Erleichterung in dieser Einsamkeit und weinte nach Herzenslust, als sie plötzlich Joe's Stimme am Ende der Hausflur hörte, wie derselbe Jemand gute Nacht wünschte.

Gute Nacht! denn er ging anderswohin – vielleicht weit weg. Wie mochte wohl die Wohnung beschaffen seyn, nach welcher er ging – jetzt, da es schon so spät war?

Sie hörte ihn die Flur entlang und an der Thüre vorbei kommen. Aber es war etwas Zögerndes in seinen Tritten. Er kehrte wieder um – Dolly's Herz schlug hoch auf – und schaute herein.

»Gute Nacht!« – er sagte nicht »Dolly«, aber es lag doch ein Trost darin, daß er sie nicht als Miß Varden anredete.

»Gute Nacht!« schluchzte Dolly.

»Ich bedaure, daß Ihr das, was jetzt vorbei und vergangen ist, so sehr zu Herzen nehmt,« sagte Joe freundlich. »Laßt es doch gut seyn. Ich kann Euch so nicht sehen. Denkt nicht länger daran. Ihr seyd jetzt gerettet und glücklich.«

Dolly weinte nur noch mehr.

»Ihr müßt sehr viel in diesen paar Tagen gelitten haben und doch habt Ihr Euch so gar nicht verändert, es müßte denn sein zu Eurem Vortheile. Man wollte mir das glauben machen, aber ich sehe nichts davon. Ihr wart – Ihr wart immer sehr schön,« sagte Joe. »aber jetzt seyd Ihr schöner als je. Ja, wahrhaftig. Es kann nichts Unrechtes darin liegen, daß ich so sage, denn Ihr müßt es ja selbst auch wissen. Ich bin überzeugt, man hat es Euch schon oft genug gesagt.«

Im Allgemeinen wußte es Dolly recht wohl, und man hatte es ihr auch sehr oft gesagt. Aber der Kutschenmacher hatte sich schon vor Jahren als einen ganz besondern Esel erwiesen; und mochte sie sich nun fürchten, ähnliche Entdeckungen bei Andern zu machen, oder war sie in Folge langer Gewohnheit überhaupt gegen derartige Komplimente gleichgültig geworden – so viel ist gewiß, obgleich sie so viel weinte, so war sie doch in ihrem ganzen Leben nie froher gewesen, als jetzt, da ihr Joe dieß sagte.

»Ich werde Euren Namen segnen, so lange ich lebe,« schluchzte des Schlossers kleine Tochter. »Ich werde ihn nie nennen hören, ohne daß mich ein Gefühl durchzuckte, als ob mir das Herz brechen müßte. Ich werde seiner in meinen Gebeten gedenken, jede Nacht und jeden Morgen, bis ich sterbe!«

»Wollt Ihr?« entgegnete Joe hastig. »Wollt Ihr das in der That? Es macht mich – nun, es macht mich froh und stolz, dieß von Euch zu hören.«

Dolly schluchzte noch immer und hielt sich das Schnupftuch vor die Augen. Joe blieb stehen und sah ihr zu.

»Eure Stimme,« sagte Joe, »ruft mir alte Zeiten so lieblich in's Gedächtniß, daß es mir in diesem Augenblicke ist, als wäre jene Nacht – es kann ja nichts schaden, daß ich jetzt von jener Nacht rede – wieder zurückgekommen, und als hätte sich nichts in der Zwischenzeit ereignet. Es dünkt mich, als hätte ich keine Gefahren durchlebt, als hätte ich erst gestern den armen Tom Cobb zu Boden geschlagen, und als käme ich eben jetzt mit meinem Bündel auf der Schulter her, um Euch zu besuchen, ehe ich in die weite Welt renne. – Ihr erinnert Euch noch?«

Ob sie sich erinnerte? Aber sie sagte nichts. Sie erhob ihre Augen für einen Moment. Es war nur ein Blick, ein kleiner, thränenvoller, schüchterner Blick. Demungeachtet machte er ihn für eine geraume Zeit verstummen.

»Nun!« sagte er, sich ermuthigend, »es sollte anders kommen, und kam auch anders. Ich bin seitdem in der Fremde gewesen, kämpfte den ganzen Sommer durch, und fror, wenn es Winter war. Ich komme so arm zurück, als ich ging, und bin noch außerdem ein Krüppel für mein ganzes Leben. Aber Dolly, ich hätte lieber auch diesen andern Arm verlieren wollen – ja, lieber sogar meinen Kopf – als wenn ich hätte heimkehren müssen, um Euch todt oder anders zu finden, als ich mir Euch immer vorgestellt habe, und wie ich Euch immer zu finden hoffte und wünschte. Gott sey Dank dafür!?«

O wie tief, wie nachdrücklich fühlte jetzt sie, die vor fünf Jahren eine so arge Kokette gewesen. Sie hatte endlich ihr Herz gefunden. Da sie nie den Werth des eigenen gekannt hatte, war ihr auch der des seinigen nie klar geworden. Wie schätzenswerth erschien es ihr jetzt!

»Ich hoffte einmal,« sagte Joe in seiner schlichten Weise,« daß ich als reicher Mann zurückkommen möchte und Euch heirathen könnte. Doch ich war damals noch ein Junge und bin seitdem vernünftiger geworden. Ich bin ein armer, verstümmelter, verabschiedeter Soldat und muß mich bescheiden, so gut es gehen will, mich durch's Leben zu kämpfen. Ich kann zwar selbst jetzt noch nicht sagen, daß es mich freuen würde, Euch verheirathet zu sehen, Dolly; aber doch freut es mich – ja, ich freue mich – denken und sagen zu können – und zu wissen, daß Ihr bewundert und angebetet seyd, und daß Ihr einen Mann wählen könnt, der Euch ein glückliches Leben zu bereiten im Stande ist. Es liegt ein Trost für mich in dem Gedanken, daß Ihr mit Eurem Manne von mir sprechen werdet, und ich hoffe, es wird eine Zeit kommen, wo ich ihn lieben und ihm die Hand drücken kann – wo ich auf Besuch zu Euch komme als ein armer Freund, der Euch kannte, als Ihr noch ein Mädchen wart. Gott behüte Euch!«

Seine Hand zitierte; aber er nahm sie wieder zurück und entfernte sich.



 << zurück weiter >>