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Neunundsechzigstes Kapitel.

Es war mitten in der Nacht und sehr dunkel, als sich Barnaby mit seinem taumelnden Freunde dem Orte näherte, wo er seinen Vater gelassen hatte, und er konnte sehen, wie dieser, sogar ihm selbst mißtrauend, sich mit eiligen Schritten leise in die Finsterniß hinaus flüchtete. Nachdem er ihm zwei- oder dreimal erfolglos zugerufen hatte, daß nichts zu fürchten sey, ließ er Hugh auf die Erde gleiten und folgte ihm nach, um ihn zurückzubringen.

Er fuhr fort, weiter zu schleichen, bis ihm Barnaby ganz nahe war; dann wandte er sich um und sprach mit schrecklicher, obgleich gedämpfter Stimme:

»Laß mich gehen. Lege keine Hand an mich. Weihe zurück. Du bist bei ihr gewesen; und du und sie, ihr beide habt mich verrathen!«

Barnaby sah ihn schweigend an.

»Du hast deine Mutter gesehen?«

»Nein,« rief Barnaby hastig. »In langer Zeit nicht – länger, als ich sagen kann. Ich glaube, es ist schon ein ganzes Jahr. Ist sie hier?«

Sein Vater blickte ihn eine kurze Weile fest an; dann trat er näher (denn wenn man ihm in's Gesicht sah und seine Worte hörte, so konnte man unmöglich seine Aufrichtigkeit in Zweifel ziehen) und sprach:

»Was ist das für ein Mann?«

»Hugh – Hugh. Nur Hugh. Ihr kennt ihn. Er wird Euch nichts zu Leide thun. Ei, Ihr fürchtet Euch vor Hugh? Ha, ha, ha! Sich fürchten vor dem rauhen, alten, lärmenden Hugh!«

»Was es für ein Mann ist, frage ich dich,« entgegnete er so ungestüm, daß Barnaby in seinem Lachen inne hielt, zurückwich und ihn mit einem Blicke erschreckten Staunens betrachtete.

»Ei, wie streng Ihr seyd! Ich muß mich vor Euch fürchten, obgleich Ihr mein Vater seyd – sie fürchtete ich nie. Warum sprecht Ihr so mit mir?«

»Ich verlange,« antwortete er – die Hand wegschleudernd, welche ihm sein Sohn mit dem schüchternen Wunsche, ihn versöhnlich zu stimmen, auf den Aermel gelegt hatte – »ich verlange eine Antwort und erhalte von dir blos Hohnworte und Fragen. Wen hast du mit dir gebracht nach diesem Verstecke, du armer Thor, und wo ist der Blinde?«

»Ich weiß es nicht, sein Haus war geschlossen. Ich wartete, aber Niemand kam; es ist daher nicht meine Schuld. Der dort ist Hugh – der tapfere Hugh, der in das garstige Gefängniß einbrach und uns in Freiheit setzte. Aha! Ihr habt ihn jetzt gern, nicht wahr? Ihr müßt Ihn jetzt gern haben!«

»Warum liegt er auf dem Boden?«

»Er hat bei einem Falle Schaden genommen – und auch getrunken. Die Felder und Bäume gehen rund herum mit ihm und der Boden hebt sich unter seinen Füßen. Ihr kennt ihn? Ihr erinnert Euch seiner? Seht!«

Sie waren inzwischen wieder zu der Stelle gekommen, wo er lag, und beugten sich über ihn nieder, um ihm in's Gesicht zu sehen. »Ich entsinne mich des Mannes,« murmelte sein Vater. »Warum hast du ihn mit hieher gebracht?«

»Weil er erschlagen worden wäre, wenn ich ihn dort gelassen hätte. Sie feuerten Gewehre ab und vergossen Blut. Macht Euch der Anblick von Blut auch krank, Vater? Ja, es geht Euch eben so; ich sehe es an Eurem Gesichte. Ganz wie bei mir – nach was schaut Ihr so?«

»Nach nichts!« entgegnete der Mörder mit matter Stimme, indem er einige Schritte zurückwich und mit hängender Kinnlade über dem Kopfe seines Sohnes wegstarrte. »Nach nichts!«

Er verblieb in derselben Haltung und ohne den Ausdruck seines Gesichtes zu ändern, eine Minute oder darüber; dann schaute er langsam rund umher, als ob er etwas verloren hätte, und ging schaudernd nach dem Schuppen zurück.

»Soll ich ihn hineinschaffen, Vater?« fragte Barnaby, der ihm verwundert zugesehen hatte.

Er antwortete ihm nur mit einem unterdrückten Stöhnen, legte sich auf den Boden nieder, wickelte den Mantel um seinen Kopf und duckte sich in die dunkelste Ecke.

Als Barnaby fand, daß Hugh jetzt durch nichts zu erwecken, oder auch nur für einen Augenblick zur Besinnung zu bringen war, so schleppte er ihn über das Gras hin und legte ihn auf ein Häuflein Heu und Stroh, das ihm zuvor selbst als Bette gedient hatte. Nachdem er einiges Wasser aus einem nahen Bache geholt und dem Betäubten die Wunde, Hände und Gesicht gewaschen hatte, legte er sich zwischen den Beiden nieder, um sich auszuruhen, und schlief bald, den Blick nach den Sternen gekehrt, ein.

Am andern Morgen früh durch den Sonnenschein, den Gesang der Vögel und das Gesumme der Insekten geweckt, ließ er die noch Schlafenden in der Hütte und spazierte draußen in der süßen und lieblichen Luft herum. Aber er fühlte, daß all' die Schönheiten des sich erschließenden Tages, in denen er so oft seligen Genuß gefunden, jetzt nur schwer auf seiner gedrückten Seele lasteten, die sich der Schauderscenen der letzten Nacht und so vieler vorhergehenden nicht zu entschlagen vermochte. Er gedachte der glücklichen Morgen, an denen er mit seinen Hundert durch Wälder und Felder eilte, und die Erinnerung daran füllte seine Augen mit Thränen. Er war sich – Gott weiß es – keines Unrechts bewußt und hatte eben so wenig dem Verdienste der Sache, bei welcher er sich betheiligte, oder dem Werthe ihrer Vertheidiger eine neue Ansicht abgewonnen; aber sein Herz war jetzt erfüllt von Sorgen, Reue, unheimlichen Erinnerungen und Wünschen (die er früher nie gekannt hatte), daß dieß oder jenes nicht vorgefallen, und daß der Jammer und das Elend, das so viele Leute betroffen, unterblieben seyn möchte. Und jetzt begann er auch zu denken, wie glücklich sie seyn würden – sein Vater, seine Mutter, er und Hugh – wenn sie mit einander weiter zögen und an irgend einem einsamen Orte wohnten, wo man nichts von diesen Unruhen wüßte, und daß vielleicht der blinde Mann, der so weise von dem Gold gesprochen und ihm von den Geheimnissen, die er kannte, erzählt hatte, sie lehren könnte, wie sie ohne Sorgen und Mangel zu leben vermöchten. Als ihm dieß einfiel, bedauerte er nur um so mehr, daß er ihn gestern Abend nicht gesehen hatte, und er brütete noch darüber, als sein Vater kam und ihm die Hand auf die Schulter legte.

»Ah!« rief Barnaby, aus seinem Nachdenken auffahrend. »Seyd Ihr es?«

»Wer sollte es denn sonst seyn?«

»Ich meinte fast,« antwortete er, »es sey der blinde Mann. Ich muß mit ihm sprechen, Vater.«

»Und ich gleichfalls; denn ohne ihn gesehen zu haben, weiß ich nicht, wohin ich fliehen oder was ich thun soll. Jede Zögerung an dieser Stelle ist todtbringend. Du mußt noch einmal fort, um ihn zu holen.«

»Muß ich?« rief Barnaby entzückt. »Das ist schön, Vater. Es trifft herrlich mit meinen Wünschen zusammen.«

»Aber du mußt ihn allein bringen – keinen Andern mit. Und wenn du einen ganzen Tag und eine ganze Nacht vor seiner Thüre zu warten genöthigt wärest – du bleibst dort und kömmst nicht ohne ihn.«

»Habt deßhalb keine Sorge,« rief er freudig. »Er soll kommen. Er wird kommen.«

»Wirf aber zuvor diesen Grimsgrams weg,« sagte sein Vater, indem er die Bandstreifen und Federn von seinem Hut abriß, »und trage meinen Mantel über deinen Kleidern. Benimm dich nur vorsichtig; man wird genug in den Straßen zu thun haben, um auf dich zu achten. Wegen deines Zurückkommens brauchst du unbekümmert zu seyn. Er wird dich schon sicher genug geleiten.«

»Oh freilich,« entgegnete Barnaby, »freilich wird er das! Er ist ein weiser Mann, Vater, und kann uns lehren, wie wir reich werden. Oh, ich kenne ihn, ich kenne ihn.«

Er war in Bälde möglichst gut vermummt und trat mit leichterem Herzen seine zweite Reise an, Hugh in der Hütte zurücklassend, wo er noch immer in betrunkener Betäubung auf dem Boden ausgestreckt lag, während sein Vater vor der Thüre auf und ab ging.

Der Mörder, voll beklommener Gedanken, schaute ihm während seines Hin- und Hergehens nach, ob jedem Luftzuge, der durch die Zweige flüsterte, und jedem leichten Schatten erbebend, den die flüchtigen Wolken auf den blumigen Boden warfen. Er war ängstlich bekümmert um die sichere Rückkehr seines Sohnes, und fühlte doch in seiner Abwesenheit einen Trost, da seine eigene Freiheit und sein Leben davon abhing. In der unendlichen Selbstsucht, womit ihn der beständige Gedanke an seine großen Verbrechen und die Folgen derselben hier und jenseits erfüllte, zehrte sich jeder Gedanke an Barnaby, als seinen Sohn, auf. War ihm ja außerdem seine Anwesenheit eine Qual und ein Vorwurf; in seinen verwirrten Blicken lauerten die schrecklichen Bilder jener mit Fluch beladenen Nacht; sein gespenstiges Aussehen und sein nur halb entwickelter Geist schienen dem Mörder zu sagen, er sey ein Wesen, entsprossen aus dem verspritzten Blute seines Schlachtopfers. Sein Blick, seine Stimme, seine Berührung durchschauerten ihn eisig, und doch sah er sich durch seine verzweifelte Lage und durch sein sehnliches Verlangen, den Galgen um sein gerechtes Eigenthum zu betrügen, genöthigt, ihn an seiner Seite zu dulden, weil er wußte, daß nur durch ihn sein Entkommen möglich wurde.

Unter solchen Betrachtungen ging er ohne Unterlaß den ganzen Tag hin und her, während Hugh noch immer besinnungslos in dem Schuppen lag. Um Sonnenuntergang kehrte Barnaby endlich zurück, den blinden Mann an seiner Hand, mit dem er sich auf dem Herwege auf das Angelegentlichste unterhielt.

Der Mörder ging ihnen entgegen und befahl seinem Sohne, nach Hugh zu sehen, der sich eben erst ein Bischen auf die Beine geholfen hatte; dann nahm er dessen Platz an der Seite des Blinden ein und folgte ihm langsam nach dem Schuppen.

»Warum habt Ihr ihn geschickt?« fragte Stagg. »Wißt Ihr nicht, daß dieß der Weg war, den eben Gefundenen wieder zu verlieren?«

»Hätte ich etwa selbst kommen sollen?« entgegnete der Andere.

»Hum! vielleicht nicht. Ich war am Dienstag Nacht vor dem Gefängniß, konnte Euch aber in dem Gedränge nicht auffinden. Auch gestern Nacht war ich aus. 'S gab da gute Arbeit – lustige Arbeit – einträgliche Arbeit« – fügte er bei, indem er in seinen Taschen mit Geld klimperte.

»Habt Ihr –«

– »Eure Gnädige gesehen? Ja.«

»Ihr habt mir da wohl etwas Weiteres mitzutheilen, oder nicht?«

»Ich will Euch Alles sagen,« entgegnete der Blinde lachend. »Entschuldigt – aber ich habe es gerne, wenn ich Euch so ungeduldig sehe. 'S liegt doch Energie darin.«

»Willigt sie ein, das Wort zu sprechen, das mich retten kann?«

»Nein,« erwiederte der blinde Mann mit Nachdruck, indem er ihm sein Gesicht zukehrte. »Nein. So weit ist's nicht. Seit sie ihren Liebling verloren, ist sie auf den Tod gelegen – besinnungslos gewesen, und was weiß ich alles. Ich verfolgte ihre Spur nach einem Spital und zeigte mich (mit Eurem Wohlnehmen) an der Seite ihres Bettes. Unser Gespräch dauerte nicht lange, denn sie war sehr schwach, und in der Nähe befanden sich Leute, so daß ich mich etwas genirt fühlte. Ich sagte ihr indeß Alles, was wir besprochen hatten, und schilderte ihr die Lage des jungen Herrleins in gehörig kräftigen Ausdrücken. Sie versuchte, mich zu erweichen, aber ich sagte ihr natürlich, daß dieß verlorene Mühe sey. Ihr könnt Euch denken, daß sie gehörig weinte und stöhnte; alle Weiber machen's so. Dann fand sie mit einemmale ihre Stimme und ihre Kraft wieder und sagte, Gott werde ihr und ihrem unschuldigen Sohne helfen; deßgleichen rufe sie den Himmel gegen uns auf – und ich versichere Euch, sie that dieß auch in gar hübschen Ausdrücken. Ich gab ihr als guter Freund den Rath, nicht auf Beistand von einem so entlegenen Orte zu zählen – empfahl ihr, die Sache zu überlegen – gab ihr meine Wohnung an, sagte, ich wüßte, sie würde vor Mittag zu mir schicken und verließ sie – was weiß ich, ob in einer verstellten oder in einer wirklichen Ohnmacht.«

Nach dem Schlusse dieser Mittheilung, welche er mehreremale unterbrach, um Nüsse knacken und verspeisen zu können, deren er eine ganze Tasche voll zu haben schien, zog der Blinde eine Flasche aus der Tasche, labte sich mit einem Trunk und bot das Gefäß seinem Kameraden an.

»Ihr wollt nicht – wie, Ihr wollt nicht?« sagte er, als er fühlte, daß es zurückgestoßen wurde. »Nun! so wird's der wackere Gentleman, der bei Euch wohnt, nicht ausschlagen. He da, mein Theuerster!«

»Tod und Hölle!« rief der Andere, ihn zurückhaltend. »Wollt Ihr mir sagen, was ich anfangen soll?«

»Was anfangen? Das ist bald geschehen. Macht ein paar Minuten einen Mondscheinausflug mit dem jungen Gentleman (er ist ganz reisefertig und auf dem Herwege habe ich ihm guten Rath ertheilt) und seht zu, so weit als möglich von London wegzukommen. Gebt mir Nachricht, wo Ihr seyd und überlaßt das Andere mir. Sie muß herumgebracht werden, auf die Länge wird sie's nicht treiben; und was die Möglichkeit Eurer Wiederaufgreifung anbelangt – je nun, es war ja nicht Einer, der aus Newgate loskam, sondern ihrer dreihundert. Bedenkt das und laßt Euch's zum Troste dienen.«

»Aber wir müssen leben. – Wie?«

»Wie?« wiederholte der blinde Mann.»Natürlich vom Essen und Trinken. Und wie gelangt man anders zu Speise und Trank, als durch Zahlen? Geld!« rief er, an seine Tasche klopfend. »Ist Geld die Lösung? Je nun, es hat in den Straßen umhergerollt. Verhüte der Teufel, daß der Spaß schon vorüber ist, denn das sind lustige Zeiten – goldene, rare, lärmende und fingerfertige Zeiten. He da, Patron! He da! He da! Trink, Patron, trink. Wo steckst du denn? He da!«

Mit diesem polternden und lärmenden Wesen, welches bekundete, daß auch der Blinde sich der allgemeinen Zügellosigkeit hingegeben hatte, tappte er sich nach dem Schuppen, wo Hugh und Barnaby auf dem Boden saßen, und trat ein.

»Laßt's herumgehen,« rief er, Hugh seine Flasche einhändigend. »Die Gossen rinnen von Wein und Gold. Branntwein und Guineen fließen aus jedem Pumpbrunnen. Herum damit – nichts gespart!«

Erschöpft, ungewaschen, ungeschoren, von Rauch und Staub geschwärzt, das Haar von Blut zusammenklebend, die Stimme so heiser, daß er nur flüsternd sprechen konnte, die Haut vom Fieber vertrocknet, der ganze Körper zerquetscht und zerschunden – trotz dieses Zustandes nahm Hugh dennoch die Flasche und erhob sie an seine Lippen. Er war eben im Trinken begriffen, als sich plötzlich die Thüre des Schuppens verdunkelte und Dennis vor ihnen stand.

»Will nicht stören, will nicht stören,« sagte diese Person in versöhnlichem Tone, als Hugh in seinem Zuge inne hielt und ihn mit keinem sehr freundlichen Blicke vom Kopf bis zu den Füßen betrachtete. »Will nicht stören, Bruder. Barnaby auch hier, he? Wie geht's Euch, Barnaby? Und zwei andere Gentlemen! Euer gehorsamer Diener, meine Herren. Ich mache doch hoffentlich hier nirgends eine Störung. Oder ist's so, Brüder?«

Obgleich er dieß mit sehr freundlichen und vertraulichen Geberden sprach, so schien er doch namhaftes Bedenken zu tragen, weiter vorzutreten, weßhalb er in der Thüre stehen blieb. Er war etwas besser gekleidet, als gewöhnlich; denn obgleich er noch immer denselben fadenscheinigen, schwarzen Anzug trug, so hatte er doch um seinen Hals eine ungesund aussehende, gelbliche Kravate und an seinen Händen große Lederhandschuhe, wie sie die Gärtner bei ihrer Handthierung zu tragen pflegen. Seine Schuhe waren neu geschmiert und mit ein paar rostigen Eisenschnallen verziert, die Bindfadenschnüre an seinen Knieen erneuert und wo ihm die Knöpfe fehlten. Stecknadeln angebracht. Sein ganzes Aussehen hatte etwas von dem eines jämmerlich heruntergekommenen Diebfängers oder Gerichtsdieners, der aber nicht daran denkt, seinem gewerbsmäßigen Charakter etwas zu vergeben und seine geringen Mittel auf's Beste anwendet.

»Ihr seyd recht hübsch geborgen hier,« fuhr Herr Dennis fort, indem er ein muffiges, strickartig aussehendes Taschentuch herauszog, womit er sich ängstlich die Stirne abtrocknete.

»Nicht geborgen genug, wie es scheint, um nicht von Euch aufgefunden zu werden.« entgegnete Hugh mürrisch.

»Ei, ich will Euch was sagen, Bruder,« erwiederte Dennis mit einem freundlichen Lächeln; »wenn Ihr mich nicht wissen lassen wollt, wohin Ihr reitet, so müßt Ihr ein anderes Schellenwerk an Eurem Gaule tragen. Ah! ich kenne den Ton von dem, das Ihr gestern Nacht trugt, und habe ein scharfes Gehör dafür; darauf könnt Ihr Euch verlassen. Nun, und wie geht's Euch, Bruder?«

Er hatte sich inzwischen so weit ermuthigt, hereinzutreten und sich neben ihn hinzusetzen.

»Wie es mir geht?« antwortete Hugh. »Wo wart Ihr gestern? Wo gingt Ihr hin, als Ihr mich im Gefängniß verließt? Warum habt Ihr mich verlassen und was wolltet Ihr damit, als Ihr Eure Augen so rolltet und Eure Faust nach mir schütteltet, he?«

»Ich – meine Faust geschüttelt? nach Euch, Bruder?« sagte Dennis, indem er sanft Hugh's drohend aufgehobene Hand zurückhielt.

»Nun, so war's Euer Stock; das ist ganz dasselbe.«

»Barmherziger Himmel, Bruder, ich wollte nichts damit. Ihr habt mich nur halb verstanden. Es sollte mich jetzt nicht Wunder nehmen,« fügte er in dem Tone eines trostlosen, gekränkten Mannes bei, »wenn Ihr auf den Gedanken gekommen wäret, ich sey, weil ich wollte, daß jene Bursche im Gefängniß blieben, im Begriffe gewesen, die Banner zu verlassen?«

Hugh betheuerte ihm mit einem Fluche, daß er wirklich dieser Ansicht sey.

»Nun,« sagte Herr Dennis trauervoll, »wenn das nicht genug ist, Jemandem Mißtrauen gegen seine Nebenmenschen einzuflößen, so weiß ich nicht, was es sonst thun könnte. Die Banner verlassen, he? Ich – Ned Dennis, wie mich mein eigener Vater taufen ließ? – Gehört diese Axt Euch, Bruder?«

»Ja, sie gehört mir,« entgegnete Hugh in demselben heiseren Tone, wie zuvor; »Ihr hättet sie spüren sollen, wenn Ihr in der letzten Nacht mir da und dort in den Weg gekommen wäret. Legt sie nieder.«

»Ich sie spüren sollen?« entgegnete Herr Dennis, sie noch immer in der Hand behaltend, und mit gedankenvoller Miene die Schneide befühlend. »Ich sie spüren sollen? Und ich habe mich doch die ganze Zeit über auf's Vortheilhafteste abgemüht. Ist das nicht eine Welt! Und Ihr fordert mich nicht einmal auf, einen Schluck aus dieser Flasche da zu thun, he?«

Hugh warf sie ihm hin. Während sie jedoch der Henker an seine Lippen führte, sprang Barnaby auf, winkte ihnen, sich ruhig zu verhalten und sah angelegentlich hinaus.

»Was gibt es, Barnaby?« fragte Dennis mit einem Blicke auf Hugh, indem er die Flasche senkte, aber noch immer die Axt in der Hand behielt.

»Bst!« antwortete er leise. »Was glitzert doch dort so hinter der Hecke?«

»Was?« rief der Henker, seine Stimme so laut als möglich erhebend und sowohl Barnaby als Hugh fassend. »Doch nicht doch nicht Soldaten?«

In demselben Augenblick füllte sich der Schuppen mit Bewaffneten und eine Abtheilung Kavallerie, die über das Feld her galoppirte, stellte sich vor der Thüre auf.

»So!« sagte Dennis, der ganz ruhig unter ihnen stehen blieb, als sie sich der Gefangenen versichert hatten; »die beiden jungen Leute da sind's, meine Herren, auf welche die Proklamation einen Preis ausgesetzt hat. Dieser Andere ist ein entsprungener Kapitalverbrecher. – Es thut mir leid, Bruder,« fügte er im Tone der Ergebung gegen Hugh bei, »aber Ihr seyd selbst Schuld daran. Ihr habt mich zu diesem Schritte gezwungen. Wolltet Ihr ja nicht einmal die gesundesten constuznellen Grundsätze respektiren, wißt Ihr, und gingt hin, um die Gesellschaft in ihren innersten Grundfesten zu beschädigen. Meiner Seel', ich hätt' lieber eine Kleinigkeit einem Armen gegeben, als so etwas gethan. – Wenn ihr sie nur fest halten wollt; meine Herren, so glaube ich, ich wär' im Stand, sie besser zu binden, als Ihr!«

Diese Operation wurde jedoch durch einen neuen Vorfall auf einige Augenblicke verzögert. Der blinde Mann, dessen Ohr weit sicherer war, als bei den meisten Menschen das Gesicht, war schon vor Barnaby durch ein Rauschen in dem Gebüsch, unter dessen Schutz die Soldaten anrückten, aufgeschreckt worden. Er entwich sogleich – hatte sich irgendwo für eine Minute versteckt – wahrscheinlich in seiner Verwirrung hinsichtlich des Punktes, woher es gekommen, sich getäuscht – und man sah ihn jetzt über die offenen Felder rennen.

Ein Offizier rief sogleich, er habe gestern Nacht bei der Plünderung eines Hauses mitgeholfen. Er wurde daher laut zur Uebergabe aufgefordert. Dieß veranlaßte ihn nur zu einem noch stärkeren Rennen, und in wenigen Augenblicken hätte er sich außer Schußweite befunden. Das Commando erfolgte und die Soldaten gaben Feuer.

Es folgte eine athemlose Pause und ein tiefes Schweigen, während deß Aller Augen auf ihn geheftet waren. Man hatte gesehen, daß er bei dem Abschießen der Musketen zusammenfuhr, als ob ihn das Knallen erschreckt hätte. Er machte aber nicht Halt, sondern lief mit der gleichen Schnelligkeit noch volle vierzig Schritte weiter. Dann sank er, ohne ein Wanken oder Stolpern, ohne ein Zeichen von Schwäche oder Gliederzittern nieder.

Einige Soldaten nebst dem Henker eilten nach der Stelle, wo er lag. Alles war so rasch vor sich gegangen, daß der Rauch noch nicht einmal entschwunden war, sondern sich langsam in einer kleinen Wolke in die Höhe kräuselte, als wäre er die Seele des todten Mannes, die feierlich emporschwebte. Man sah nur einige Blutstropfen im Grase – noch einige weiter, als man ihn umwandte – das war Alles.

»Schaut da! schaut her!« sagte der Henker, sich neben der Leiche auf ein Knie niederlassend und mit trostlosem Gesicht zu dem Offizier und den Soldaten aufschauend. »Das ist ein sauberer Anblick!«

»Zurück da!« versetzte der Offizier. »Sergeant, seht nach, was er bei sich hat.«

Der Sergeant leerte seine Taschen auf das Gras aus und zählte, außer einigen fremden Münzen und Ringen, fünfundvierzig Guineen in Gold. Diese wurden in ein Schnupftuch eingeschlagen und weggeschafft; die Leiche ließ man vor der Hand an Ort und Stelle, aber auch sechs Soldaten und den Sergeanten dabei, um sie nach dem nächsten Wirthshause zu bringen.

»Wie, wollt Ihr nicht auch einmal gehen?« sagte der Sergeant, Dennis auf den Rücken klopfend und auf den Offizier deutend, der auf den Schuppen zuging.

Herr Dennis erwiederte hierauf blos: »Sprecht nicht mit mir!« und wiederholte dann seine wenigen Worte: »Das ist ein sauberer Anblick!«

»Ich sollte meinen, es ist einer, aus dem Ihr Euch nicht viel macht,« bemerkte der Sergeant kaltblütig.«

»Ei,« entgegnete Herr Dennis, aufstehend, »wer sollte sich etwas daraus machen, wenn ich's nicht thue?«

»Oh! ich wußte nicht, daß Ihr so weichherzig seyd,« erwiederte der Sergeant. »Weiter will ich nicht sagen!«

»Weichherzig?« echoete Dennis. »Weichherzig? Schaut 'mal diesen Mann an. Nennt Ihr dieß konstitutionell? Seht Ihr nicht, daß er durch und durch geschossen ist, statt abgethan zu werden, wie ein Brite? Der Teufel soll mich holen, wenn ich weiß, mit welcher Seite ich es halten soll. Ihr seyd so schlimm, wie die Anderen. Was soll aus dem Lande werden, wenn die militärische Gewalt die bürgerliche in dieser Weise übervortheilt? Wo sind die Rechte dieses armen Nebenmenschen, die er als Bürger anzusprechen hat, wenn nicht ich ihm in seinen letzten Augenblicken zur Seite stehe? Ich war da. Ich war bereit und willig. Das sind saubere Zeiten, Bruder, wenn die Todten in dieser Weise Zeter über uns schreien und wir nachher nicht mehr ruhig in unseren Betten schlafen können. Saubere Zeiten!«

Ob er sich hiefür aus dem Binden der Gefangenen einen wesentlichen Trost erholte, ist ungewiß, aber doch sehr wahrscheinlich. Jedenfalls verscheuchte seine Berufung zu dieser Arbeit vor der Hand die dermaligen peinlichen Betrachtungen und beschäftigte seine Gedanken auf eine angenehme Weise.

Sie sollten nicht alle drei zumal, sondern in zwei Partien abgeführt werden – Barnaby und sein Vater nach der einen Richtung inmitten einer Abtheilung Fußvolk, auf einem andern Wege aber Hugh, der auf ein Pferd gebunden und von einem Reitertrupp stark bewacht wurde.

In der kurzen Frist vor ihrer Abführung hatten sie durchaus keine Gelegenheit, sich unter einander zu besprechen, denn sie wurden streng gesondert gehalten. Hugh sah nur noch, daß Barnaby mit gesenktem Haupte zwischen seiner Wache einherging und ihn, ohne die Augen aufzuschlagen, mit der gefesselten Hand zu grüßen versuchte, als er an ihm vorbeikam. Er selbst ermuthigte sich während seines Rittes mit der zuversichtlichen Hoffnung, der Pöbel werde, wohin man ihn auch bringen möge, das Gefängniß erbrechen und ihn in Freiheit setzen. Aber als sie nach London und namentlich durch Fleet Market, kürzlich noch die Citadelle der Rebellen, kamen, wo jetzt das Militär alle Ueberreste des Aufruhrs ausgerottet hatte – da wurde es ihm klar, daß diese Hoffnung eitel war, und er fühlte, daß er dem Tode entgegen ritt.



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