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Fünfundsechzigstes Kapitel.

Während des ganzen Verlaufs des schrecklichen Auftrittes, der jetzt seine höchste Höhe erreicht hatte, litt ein einziger Mann in dem Gefängnisse unter einer Furcht und Seelenfolter, die selbst unter den zum Tode Verurtheilten nicht ihres Gleichen fand.

Gleich Anfangs, als sich die Rebellen vor dem Gebäude versammelten, wurde der Mörder durch das Gebrüll der Stimmen und das Gewühl der ungeheuren Menge aus dem Schlafe geweckt – wenn anders der Schlummer eines solchen Menschen diesen glücklichen Namen verdient. Sobald diese Töne sein Ohr trafen, fuhr er auf und setzte sich lauschend auf seine Bettstelle.

Nach einer kurzen Pause brach der Lärm auf's Neue los. Er horchte noch immer aufmerksam und kam im Laufe der Zeit zu dem Schlusse, daß das Gefängniß, durch eine wüthende Menge belagert werde. Sein Schuldbewußtseyn malte ihm sogleich in den Stürmenden Feinde und ließ ihn besorgen, daß man ihn heraussuchen und in Stücke reißen werde.

Einmal durch diesen Gedanken erschreckt, vereinigte sich alles nur, um denselben zu bestätigen und zu bekräftigen. Sein doppeltes Verbrechen, die Umstände, unter denen er es begangen, die lange Zeit, die darüber verflossen, und demungeachtet die endliche Entdeckung desselben – alles dieses zeigte ihm, daß er der sichtbare Gegenstand des göttlichen Zornes sey. Unter der Gesammtheit des Verbrechens, des Lasters und der sittlichen Umnachtung in diesem großen Pesthause der Hauptstadt – stand er allein, gebrandmarkt und ausgezeichnet durch seine große Schuld – ein Luzifer unter den Teufeln. Die übrigen Gefangenen waren ein ganzes Heer, die sich gegenseitig verbergen und schützen konnten – eine Masse, ähnlich der vor den Mauern draußen. Er war nur ein Einziger gegen den ganzen, vereinigten Haufen: ein einzelner, einsamer, verlassener Mann, vor dem sogar die Verbrecher im Kerker entsetzt zurückwichen.

Möglich, daß die Kunde von seiner Habhaftwerdung ruchbar geworden und daß sie ausdrücklich in der Absicht hergekommen waren, ihn herauszuziehen und auf der Straße zu erschlagen; möglich auch, daß es Rebellen waren, die in Verfolgung eines alten Planes das Gefängniß verwüsten wollten. Aber in keinem Falle glaubte oder hoffte er, daß man ihn schonen würde. Jedes Geschrei, das sie erhoben, jeder Laut, der an sein Ohr schlug, war ein Dolchstich in sein Herz. Im Verlaufe der Belagerung wurde er nur noch wilder und wahnsinniger in seinem Schrecken. Er versuchte die Eisenstangen vor dem Kamin wegzureißen, die ihn hinderten, hinauf zu klettern, und schrie den Gefängnißwärtern zu, sie sollten sich um seine Zelle schaaren und ihn gegen die Wuth des Pöbels schützen, oder ihn in irgend einen unterirdischen Kerker werfen – gleichviel, wie tief, wie finster, wie eckelhaft, wie mit Ratten und kriechenden Würmern bevölkert er wäre, wenn er ihn nur versteckte und ihn nicht leicht auffinden ließ.

Aber Niemand kam oder antwortete auf sein Rufen. Aus Furcht, durch sein Schreien die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, verstummte er. Auf einmal bemerkte er, als er durch sein Gitterfenster sah, einen seltsamen Schein auf der Steinmauer und dem Pflaster des Hofes. Er war anfangs nur schwach, und kam und ging, als ob einige Gefängnißwärter mit Fackeln auf dem Dache hin und her zögen. Bald wurde er jedoch röther und Feuerbrände wirbelten hernieder, Funken auf den Boden herumsprühend und trübe in den Ecken fortglostend. Einer derselben rollte unter eine hölzerne Bank und setzte sie in Flammen; ein anderer fiel in eine Dachrinne, entzündete dieselbe, und das Feuer griff weiter, eine lange Flammenzeile hinter sich lassend. Einige Zeit nachher begann ein langsamer, dichter Schauer von brennenden Trümmern aus irgend einem obern Theile des Gefängnisses, der schon fast in lichter Lohe stand, vor seiner Thüre niederzuprasseln. Er erinnerte sich, daß sie nach Außen aufging, und wußte, daß jeder Funke, der auf den Haufen fiel, selbst wenn er sein lichtvolles Leben verlor und zu einem häßlichen Häuflein Asche hinstarb, nur dazu beitrug, ihn lebendig zu begraben. Aber obgleich das Gefängniß von Angst- und Hülferufen wiederhallte – obgleich das Feuer aufhüpfte, als wenn jede gesonderte Flamme das Leben eines Tigers hätte und in hungrigen Tönen brüllte – obgleich die Hitze so übermächtig, die Luft so erstickend, der Lärm außen mit jedem Augenblicke stärker, und die Gefahr, dem unbarmherzigen Element zum Opfer zu fallen, von Minute zu Minute drohender wurde – dennoch fürchtete er sich, seine Stimme wieder laut werden zu lassen, damit die Masse nicht hereinbreche und entweder durch ihre eigene Ohren, oder durch Benachrichtigung von Seiten der anderen Gefangenen Kunde erhalte, wo er eingeschlossen sey. Er fürchtete sich also gleich sehr vor denen im Gefängniß, wie vor denen draußen, vor dem Lärm, wie vor der Stille, vor dem Lichte, wie vor der Finsterniß; er bebte zurück vor seiner Befreiung, wie vor dem Gedanken, hier bleiben und sterben zu müssen; er war so gefoltert und gequält, daß nichts, was je die schreckliche Laune der Gewalt und Grausamkeit über einen Menschen zu verhängen vermochte, mit seiner Selbstpeinigung verglichen werden konnte.

Jetzt, jetzt lag das Thor am Boden. Jetzt stürmten sie durch das Gefängniß, riefen einander in den gewölbten Gängen zu, sprengten die Eisenthüren, die von einem Hofe zum andern führten, schlugen an die Thüren der Zellen und Wächter, rissen Querbalken, Schlösser und Riegel ab, zertrümmerten die Thürpfosten, um die Leute herauszulassen, mühten sich, sie mit Gewalt durch Spalten und Fenster zu zerren, wo sich kaum ein Kind durchzuzwängen vermochte, heulten und zeterten ohne Unterlaß, und rannten durch Hitze und Flammen, als bestände ihre Haut aus Metall. Sie zogen die Gefangenen an den Beinen, an den Armen, ja sogar an den Haaren heraus. Einige eilten auf dieselben zu, wie sie gegen das Thor kamen, und versuchten es, ihnen ihre Eisen abzufeilen; Andere tanzten in wahnsinniger Freude um sie her, zerrauften ihnen die Kleider und schienen Lust zu haben, ihnen Glied für Glied vom Leibe zu reißen. Jetzt kamen ungefähr ein Dutzend Männer durch den Hof gestürzt, in welchen der Mörder durch sein dunkles Fenster scheue Blicke warf, und schleppten einen Gefangenen auf dem Boden nach, dem sie in ihrem wahnsinnigen Befreiungseifer beinahe alle Kleider vom Leibe gerissen hatten, und der jetzt blutend und besinnungslos in ihren Händen lag. Etwa zwanzig Sträflinge, die sich in den Windungen des Gefängnisses verirrt und von dem Lärm und dem Feuerschein den Kopf so verloren hatten, daß sie noch immer, wie früher, zeterlich um Hülfe schrien, eilten hin und her. Ein ausgehungerter Unglücklicher, der vielleicht einen Brodlaib oder ein Stück Fleisch von einer Schlachtbank weggestohlen hatte, schlich baarfuß vorbei – nur langsam sich entfernend, weil das Gefängniß, sein Haus, brannte, denn er hatte keine Freunde aufzufinden, keine alten Herbergen wieder zu besuchen, keine Erlaubniß, etwas zu erwerben, sondern nur die Erlaubniß, vor Hunger zu sterben. Und dann kam eine Bande Straßenräuber vorbeigetrabt, geführt von ihren Freunden unter dem Pöbelhaufen, die ihnen die Fesseln mit Schnupftüchern und Heubändern umwickelten, sie selbst in Mäntel und Ueberröcke hüllend und ihnen die Flaschen zum Trinken an die Lippen haltend, weil man nicht Zeit hatte, ihnen die Handschellen abzunehmen. Alles dieß, und der Himmel weiß, wie viel noch mehr, geschah inmitte eines Lärms, einer Hast und einer Verwirrung, dergleichen man nicht einmal aus Träumen kennt; und doch schien der Tumult immer noch zuzunehmen und auch keinen Augenblick ablassen zu wollen.

Er schaute durch sein Fenster auf all dieß nieder, als sich ein Männerhaufen mit Fackeln. Leitern, Aexten und Waffen aller Art in den Hof ergoß, an seine Thüre hämmerte und fragte, ob ein Gefangener drinnen sey. Als er sie kommen sah, wich er von dem Fenster zurück und versteckte sich in den äußersten Winkel seiner Zelle; aber obgleich keine Antwort erfolgte, dachten sich doch die Eindringlinge, daß Jemand drinnen sein müsse, denn sie legten schnell die Leiter an, begannen die Eisenstangen des Fensters loszureißen und hieben sogar mit Spitzhauen die Steine aus der Mauer heraus.

Sobald sie an dem Fenster eine Bresche gebrochen hatten, groß genug, um einen Mannskopf durchzulassen, steckte Einer von ihnen eine Fackel hinein und sah sich in dem ganzen Raume um. Der Mörder folgte dem Blicke dieses Mannes, bis derselbe auf den seinigen traf, und hörte ihn fragen, warum er nicht antworte, erwiederte übrigens immer noch nichts.

In der allgemeinen Ueberraschung und Verwunderung waren sie an dergleichen gewöhnt, denn ohne etwas Weiteres zu sagen, machten sie die Bresche groß genug, bis ein Mann durchkriechen konnte, und dann ließ sich Einer um den Andern auf den Boden hinunter, bis die Zelle voll war. Sie hoben ihn auf, schoben ihn von Hand zu Hand gegen das Fenster, und die auf der Leiter Stehenden warfen ihn auf das Hofpflaster hinunter. Dann kamen auch die Uebrigen. Einer nach dem Andern, wieder heraus und hießen ihn ohne Zögerung fliehen, da der Weg ihm bald versperrt seyn würde, worauf sie weiter eilten, um Andere zu retten.

Seine ganze Befreiung schien nur das Werk einer einzigen Minute zu seyn. Er half sich auf die Beine und konnte kaum an die Wirklichkeit des Geschehenen glauben, als sich der Hof wieder füllte, und ein Haufen, Barnaby in ihrer Mitte, vorbeistürzte. In einer andern Minute – was sage ich, Minute! – nein, in demselben Augenblicke wurden er und sein Sohn durch das dichte Gedränge in der Straße von Hand zu Hand geschoben und dort schaute er auf ein Feuermeer zurück, das, wie Einer sagte, Newgate war.

Von dem Augenblicke ihres ersten Eindringens in das Gefängniß an vertheilten sich die Rebellen in allen Richtungen und schwärmten durch alle Löcher und Spalten, als wären sie vollkommen mit den innersten Theilen vertraut und als wüßten sie den Plan des ganzen Gebäudes auswendig. Diese genaue Ortskenntniß verdankten sie ohne Zweifel großentheils dem Henker, der in der Vorhalle stand und dem Einen diese, dem Andern jene Richtung anwies, was denn allerdings eine wesentliche Unterstützung war und die wunderbare Schnelligkeit, womit die Befreiung der Gefangenen vollführt wurde, möglich machte.

Aber dieser Vollstrecker des Gesetzes behielt sich einen wichtigen Theil seiner Lokalitätskenntnisse vor und ließ über diesen Punkt auch keine Sylbe verlauten. Nachdem er seine Instruktionen hinsichtlich der übrigen Theile des Gebäudes erlassen hatte und sich der Pöbel von einem Ende zum andern geschäftig verbreitete, nahm er aus einem Wandschrank einen Schlüsselbund und begab sich vermittelst eines geheimen Ganges in der Nähe der Kapelle (sie stieß an das Haus des Kerkermeisters und stand in Flammen) nach den Zellen der Verurtheilten – einer Reihe kleiner, fester, schauerlicher Gemächer, neben einer niedrigen Gallerie, die an dem Ende, wo er eintrat, durch eine starke, eiserne Pforte, an dem andern durch zwei Thüren und ein festes Gitter geschützt war. Nachdem er die Pforte zweimal verschlossen und sich die Ueberzeugung verschafft hatte, daß die andern Eingänge gleichfalls wohl verwahrt waren, setzte er sich auf eine Bank in der Gallerie und saugte mit der Miene der größten Selbstzufriedenheit, Ruhe und Behaglichkeit an dem Knopfe seines Stockes.

Diese Weise, sich ruhig gehen zu lassen, während das Gefängniß brannte und ein solcher Tumult die Luft zerriß, wäre schon seltsam genug gewesen, wenn sich der Mann außerhalb der Mauern befunden hätte. Aber hier, mitten im Herzen des Gebäudes, wo noch obendrein die Bitten und Jammerrufe der vier zum Tod verurtheilten Männer in seine Ohren tönten und die durch die Gitter der Zellenthüren gestreckten Hände vor seinen Augen in verzweifeltem Flehen zusammenschlugen – hier war es besonders merkwürdig. In der That schien es auch Herr Dennis für einen ungewöhnlichen Umstand zu halten und sich selbst darüber aufzuziehen; denn er schob seinen Hut auf die eine Seite, wie manche zu thun pflegen, wenn sie in einer schalkhaften Stimmung sind, saugte mit größerem Wohlbehagen an dem Knopfe seines Stockes und lächelte, als ob er sagen wollte: »Dennis, du bist ein pfiffiger Hund, du bist ein schnurriger Kauz; du bist ein Kapitalgesellschafter, Dennis, und recht eigentlich ein großer Charakter.«

So blieb er etliche Minuten sitzen, während die vier Männer in den Zellen, überzeugt, daß Jemand in die Gallerie getreten war, aber ohne zu wissen, wer, so jammervolle Bitten laut werden ließen, wie man sich's von Elenden in ihrer erbärmlichen Lage nur denken kann; sie flehten ihn um Gotteswillen an, wer es auch sein möge, sie in Freiheit zu setzen, und betheuerten mit der größten Wärme (vielleicht war es auch für den Augenblick aufrichtig genug gemeint), daß sie, wenn sie dießmal durchkämen, ihre schlimmen Wege verlassen und nie, nie, nie wieder Unrecht thun wollten vor Gott oder den Menschen, denn sie seyen fest entschlossen, ein reuiges und ehrbares Leben zu führen und die begangenen Verbrechen durch Buße zu sühnen. Der schreckliche Nachdruck, womit sie sprachen, würde Jeden, selbst den Besten oder Gerechtesten (wenn überhaupt ein Guter oder Gerechter sich in einer solcher Nacht nach diesem traurigen Orte hätte verirren können) bewegt haben, sie in Freiheit zu setzen und ihnen, während er jeder andern Züchtigung freien Lauf gelassen hätte, diese letzte, fürchterlich abstoßende Strafe zu ersparen, die nie den Bösgesinnten bekehrt, wohl aber Tausende schon verhärtet hat, die schon auf halbem Wege zur Besserung waren.

Herr Dennis war ein Zögling der guten alten Schule und hatte seit geraumer Zeit alle sechs Wochen ein- oder zweimal die guten alten Gesetze in guter alter Weise vollstreckt, weßhalb er diese flehentlichen Aufforderungen mit viel Philosophie hinnahm. Da er jedoch endlich durch die allzu oftigen Wiederholungen derselben in seinen vergnüglichen Betrachtungen einigermaßen gestört wurde, so klopfte er mit seinem Stocke an eine der Thüren und rief:

»Ruhig einmal mit diesem Lärm da – wollt Ihr?«

Hierauf schrieen Alle zusammen, daß sie übermorgen gehängt werden sollten und fingen auf's Neue an, kläglich um Hülfe zu flehen.

»Hülfe? Zu welchem Ende?« versetzte Herr Dennis, indem er neckisch auf die Fingerknöchel desjenigen klopfte, der ihm am nächsten war.

»Damit wir uns retten können!« riefen sie.

»Ah, natürlich,« sagte Herr Dennis, indem er in Abwesenheit eines Freundes, mit dem er sich über den Spaß vergnügen konnte, der Mauer zublinzelte. »Ihr sollt also abgethan werden, meine lieben Brüder?«

»Wenn wir heute Nacht nicht loskommen,« rief Einer von ihnen, »so ist's um unser Leben geschehen.«

»Ich will Euch sagen, wie die Sachen stehen,« entgegnete der Henker gravitätisch; »ich fürchte, mein Freund, Ihr seyd nicht in der Gemüthsstimmung, die für Eure Lage paßt. Ihr werdet nicht los kommen – nicht daran zu denken. Wollt Ihr einmal von Eurem unanständigen Schreien ablassen? Wahrhaftig, es nimmt mich Wunder, daß Ihr Euch nicht vor Euch selbst schämt.«

Nach diesem Verweise klopfte er Jedem der Reihe nach auf die Knöchel, und dann nahm er mit vergnügtem Gesichte seinen Sitz wieder ein.

»Ihr habt das Gesetz gehabt,« fuhr er fort, die Beine über einander legend und die Augbrauen in die Höhe ziehend; »ausdrücklich wegen Euch hat man Gesetze gemacht, wegen Euch ein schönes Gefängniß gebaut, wegen Euch hält man einen Pfarrer, wegen Euch einen konstuznellen Beamten; ausdrücklich wegen Euch hat man Karren angeschafft – und doch seyd Ihr nicht zufrieden! – wird der Lärm bald aufhören, da, Ihr Musje, in der hintersten Zelle?«

Ein Stöhnen war die einzige Antwort.

»So viel ich merke,« sagte Herr Dennis in einem Tone, der zwischen Scherz und Verweis die Mitte hielt, »ist nicht ein einziger Mann unter Euch. Ich fange an, zu glauben, daß ich auf die andere Seite hinüber unter die Weiber gerathen bin, obgleich ich, was dieß betrifft, auf manche Frauensperson gerathen bin, die sich so standhaft benommen hat, daß sie ihrem Geschlechte alle Ehre machte. – Ihr, in Nummer Zwei, knirscht nicht so mit Euren Zähnen. Hab' ich doch nie zuvor an diesem Orte so eine schlechte Lebensart gesehen,« fügte der Henker bei, indem er mit seinem Stock an die Thüre schlug. »Ich schäme mich für Euch, Ihr seyd eine wahre Schmach für das Bailey!«

Nach einer kurzen Pause, während welcher der Henker aufhorchte, ob Keiner etwas zu seiner Rechtfertigung vorbringen würde, fuhr er in einer Art von einschmeichelndem Tone fort:

»Nun, schaut einmal, Ihr vier. Ich komme her, um Euch in Obdach zu nehmen und zuzusehen, daß Ihr mir statt der anderen Geschichte nicht verbrennt. Euer Geschrei hilft Euch nichts, denn diejenigen, welche eingebrochen haben, finden Euch nicht und Ihr macht blos, daß Ihr heiser werdet, wenn es an die Reden kömmt – und das wäre Schade. Was die Reden anbelangt, sage ich immer: ›laßt sie machen!‹ Das ist mein Grundsatz. Laßt sie machen. Ich habe,« fügte der Henker bei, indem er seinen Hut abnahm, um sein Schnupftuch herauszulangen und sein Gesicht abzuwischen, worauf er ihn, noch schiefer als zuvor, auf die Seite drückte, »ich habe eine Beredtsamkeit auf den Brettern gehört – Ihr wißt, was für Bretter ich meine – ja, ich habe ein Stück Mundwerk in den Reden gehört, daß es einem so hell vorkam, wie eine Glocke, und so gut, als eine Komödie. Nehmt ein Muster d'ran! Und wenn eine Sache einmal so weit kömmt, so halte ich immer viel auf eine geeignete Gemüthsstimmung. Haben wir nur erst eine geeignete Gemüthsstimmung, so kann man mit Ehren angenehm und gesellig durchkommen. Was Ihr auch immer thun mögt – ich meine dabei namentlich Euch in der hintersten – nur keine Heulerei. 's wär' mir halb und halb lieber, obgleich ich dabei verlöre, wenn ich mit ansehen müßte, wie ein Mann mit Fleiß seine Kleider zerreißt und sie verderbt, ehe sie an mich kommen, als daß er mir da die Ohren voll heulte. Jedenfalls ist's eine zehnmal bessere Gemüthsstimmung.«

Während der Henker sie also im Tone und mit der Miene eines Pastors, der sich in vertraulichem Gespräche mit seiner Heerde ergeht, anredete, hatte sich der Lärm einigermaßen gelegt, denn die  Aufrührer waren beschäftigt, die Gefangenen nach dem Sitzungshause zu führen, das zwar außerhalb der Hauptmauern von Newgate lag, aber doch mit demselben zusammenhing, und der übrige Haufen war gleichfalls nicht laß, sie von hier aus durch die Straßen weiter zu schieben. Dennis war jedoch kaum mit seinem Zuspruche zu Ende gekommen, als das Rufen von Stimmen in dem Hofe klärlich bekundete, daß der Pöbel zurückkehrte und diese Richtung einschlug. Ein ungestümes Donnern gegen das Gitter unten lieferte den Beleg, daß endlich ein Angriff auf die Zellen, wie man sie nannte, gemacht wurde.

Vergeblich eilte der Henker von Thüre zu Thüre und bedeckte ein Gitter um das andere mit seinem Hufe, um das Schreien der vier Männer innen zu ersticken; vergeblich klopfte er mit seinem Stocke auf die ausgestreckten Hände, oder bedrohte sie mit neuen und langwierigen Peinigungen in Ausübung seines Amtes; die Gallerie hallte wieder von ihren Klagerufen. Dieß, zugleich mit dem Bewußtseyn, daß man jetzt noch die letzten aus dem Gefängnisse zu holen habe, wirkte als ein solcher Sporn auf die Belagerer, daß in unglaublich kurzer Frist das starke Gitter unten, welches aus zwei Zoll dicken Eisenstangen bestand, niedergeschlagen war; dann sprengten sie die beiden andern Thüren, als wären sie nur aus leichtem Tannenholz, und standen nun am Ende der Gallerie, nur noch durch einen oder zwei Querbalken von den Zellen getrennt.

»Hollah!« rief Hugh, der zuerst in den düstern Gang hineinschaute. »Dennis schon vor uns da? Brav, alter Knabe. Sputet Euch und öffnet hier, sonst erstickt uns der Rauch im Hinausgehen.«

»So geht lieber gleich hinaus,« versetzte Dennis. »Was wollt ihr hier?«

»Was wir wollen?« entgegnete Hugh. »Die vier Männer.«

»Vier Teufel!« rief der Henker. »Wißt Ihr nicht, daß sie am nächsten Donnerstag aufgeknüpft werden sollen? Habt Ihr keinen Respekt vor dem Gesetz – vor der Constitution – vor nichts? Laßt die vier Männer ungeschoren.«

»Ist das eine Zeit zu Possen?« erwiederte Hugh. »Hört Ihr sie? Weg da mit diesen Balken zwischen der Thüre und dem Boden und laßt uns ein.«

»Bruder,« sagte der Henker mit gedämpfter Stimme, indem er sich niederbeugte, als wolle er Hugh's Wunsch willfahren, dabei aber nur nach seinem Gesicht aufschaute. »Könnt Ihr nicht diese vier Menschen mir überlassen, auf die ich einmal versessen bin? Ihr thut, was Ihr wollt, und nehmt von Allem Euren beliebigen Antheil; gebt mir auch den meinigen. Ich will, daß man diese vier Männer in Ruhe läßt, sage ich Euch.«

»Reißt die Balken nieder, oder geht aus dem Wege,« lautete Hugh's Antwort.

»Ihr dürft nur wollen, so geht der Haufen wieder mit Euch zurück; Ihr wißt das recht wohl. Bruder,« sagte der Henker langsam. »Was? Ihr wollt wirklich herein, he?«

»Ja.«

»Ihr wollt also diese Männer nicht ungeschoren – wollt sie nicht mir überlassen? Ihr habt also vor gar nichts Respekt – vor gar nichts?« entgegnete der Henker, indem er sich nach der Thüre zurückzog, durch welche er eingetreten war, und seinem Kameraden, einen häßlichen Zornblick zuwarf. »Ihr wollt wirklich herein, Bruder?«

»Ich sage Euch, ja. Was zum Teufel ist Euch denn? Wohin wollt Ihr?«

»Gleichviel, wohin ich will,« erwiederte der Henker, wieder zu dem eisernen Pförtchen hereinschauend, das er beinahe schon geschlossen hatte, jetzt aber wieder halb öffnete. »Denkt lieber daran, wohin Ihr kommen werdet. Weiter sage ich nichts.«

Damit schüttelte er sein Porträt gegen Hugh, verzog sein Gesicht zu einer Fratze, dem gegenüber sein gewöhnliches Lächeln liebenswürdig genannt werden konnte, und verschwand, die Thüre hinter sich zuschlagend.

Hugh zögerte nicht länger, sondern, eben so sehr gespornt durch das Geschrei der Verurtheilten, als durch die Ungeduld der Menge, bedeutete er dem Manne unmittelbar hinter ihm – der Gang war nämlich so schmal, daß nur Einer Platz hatte, zurückzutreten; dann schwang er einen Schmiedehammer mit solcher Kraft, daß nach einigen Schlägen das Eisen wich, einbrach und freien Zutritt gestattete.

Wenn die oben erwähnten Söhne des einen der dem Tode geweihten Männer schon früher einen wüthenden Eifer zeigten, so arbeiteten sie jetzt mit dem Grimme und der Kraft von Löwen. Man rief Jedem in seiner Zelle zu, so weit als möglich zurückzuweichen, damit ihn die Axthiebe nicht durch die Thüre verwunden möchten; und dann arbeitete sich vor jeder Zelle ein Häuflein ab, mit rühriger Kraft darauf loschlagend, bis Querbalken und Schließhaken brachen. Aber obgleich die beiden jungen Menschen das schwächste und am schlechtesten bewaffnete Häuflein um sich hatten, deßgleichen auch später an die Arbeit kamen, als die Uebrigen, weil sie zuvor noch durch das Gitter mit ihrem Vater geflüstert, so war doch diese Zelle zuerst gesprengt und ihr Bewohner zuerst in Freiheit gesetzt. Als sie ihn in die Gallerie hinauszogen, um ihm die Fesseln abzuschlagen, sank er, eine bloße Kettenmasse, unter ihnen nieder, so daß man ihn in diesem Zustande und ohne alle Lebenszeichen auf den Schultern hinaustragen mußte.

Die Befreiung dieser vier Elenden, welche man jetzt, verwirrt und betäubt, in das lebenvolle Treiben der Straße hinausschaffte – ein Anblick, den sie nur dann wieder zu schauen hoffen durften, wenn sie aus ihrer stummen Einsamkeit ihre letzte Reise antreten sollten, wo die Luft schwer war von dem verhaltenen Athem vieler Tausende, und Straßen und Häuser nicht aus Steinen und Ziegeln, sondern aus menschlichen Gesichtern gebaut und gemacht schienen – setzte der Scene des Entsetzens die Krone auf. Ihre bleichen, hageren Gesichter und hohlen Augen; ihre unsicheren Füße und die ausgestreckten Hände, als wollten sie sich gegen das Fallen schützen; ihre unstäte und wirre Miene; die Art, wie sie, als sie unter das Gedränge kamen, nach Luft haschten, in's Wasser Gefallenen ähnlich – alles dieß bezeichnete sie als die Verurtheilten. Man brauchte nicht zu sagen: »Dieser war dem Tode geweiht;« es stand ihnen mit großer Schrift in die Gesichter gestempelt und eingebrannt. Der Pöbel wich zurück, als hätten sie schon im Sarge gelegen und sich mit ihren Leichentüchern wieder aufgerafft. Ja, man sah Viele schaudern, als hätten sie wirklich einen Todten berührt, wenn sie zufällig an ihren Kleidern vorbeistreiften.

Auf Befehl des Pöbels wurden in dieser Nacht alle Häuser illuminirt – von oben bis unten beleuchtet, wie zu einer Zeit öffentlicher Freude. Viele Jahre später erinnerten sich noch alte Leute, die in ihrer Jugend diesem Stadttheile nahe gewohnt hatten, eines großen Lichterglanzes innerhalb und außerhalb der Häuser, und sie wußten zu erzählen, wie sie damals, als schüchterne und furchtsame Kinder durch die Fenster schauend, ein Gesicht hätten vorbeigehen sehen. Obgleich die ganze Masse mit ihren sonstigen Schrecken ihrem Gedächtniß entschwunden war, hatte sich doch dieser Eine Gegenstand tief festgewurzelt – ausschließlich, bestimmt und lebhaft vor die Seele tretend. Selbst dem unerfahrenen Kindersinn war die vorbeihuschende Erscheinung eines dieser Verurtheilten ein Anblick, lebhaft genug, um das ganze übrige Getümmel in Schatten zu stellen und sich für immer der Erinnerung einzuprägen.

Nachdem dieses letzte Werk vollführt war, ließ das Gejubel und das Geschrei mehr und mehr nach. Das Klirren der Ketten, welches früher, als die Züchtlinge entsprangen, von allen Seiten wiedergehallt hatte, wurde gleichfalls nicht mehr gehört. Das Getümmel milderte sich zu einem heiseren, dumpfen Gemurmel, das sich in der Ferne verlor; und als die Menschenflut hinweggerollt war, bezeichnete nur ein trübseliger Haufen rauchender Trümmer die Stelle, wo sie kürzlich noch gebrüllt und getobt hatte.



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