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Dreiundsiebenzigstes Kapitel.

In dieser Freitagnacht – denn es war der Freitag in der Aufruhrwoche, als Emma und Dolly durch Joe's und Edward Chesters so gelegenen Beistand gerettet wurde – waren die Unruhen vollständig gedämpft und der erschreckten Stadt Friede und Ordnung wieder zurückgegeben. Den Vorgängen nach konnte man freilich unmöglich sagen, wie lange dieser bessere Stand der Dinge andauern mochte, oder wie plötzlich neue Gräuelscenen, die kürzlich erlebten sogar noch überbietend, losbrechen und die Straßen auf's Neue mit Verwüstung und Blutvergießen erfüllen konnten. Diejenigen, welche sich vor dem Aufruhr geflüchtet hatten, hielten sich daher immer noch ferne, und viele Familien, denen es bisher unmöglich gewesen, die Mittel zur Flucht beizuschaffen, benützten die damalige Windstille und zogen sich auf's Land zurück. Auch die Läden, von Tyburn an bis Whitechapel, blieben geschlossen, und an allen Orten für den größeren Handelsverkehr sah man nur wenig rühriges Leben. Demungeachtet aber, und trotz der trübseligen Prophezeiungen jener zahllosen Klasse der Gesellschaft, welche sogar bei dem klarsten Himmel in der Ferne die dunkelsten Wolken sieht, blieb die Stadt vollkommen ruhig. Die starke Militärmacht, die in die vortheilhaftesten Stadttheile gelegt war und an jedem bedeutenden Punkte ihre Posten hatte, hielt die zerstreuten Ueberreste des Pöbels im Zaum; die Verfolgung der Aufrührer wurde mit unerbittlicher Strenge fortgesetzt, und wenn auch hie und da rücksichtslose, verzweifelte Kerle geneigt waren, sich nach den durchlebten Schreckensscenen auf's Neue hervorzuwagen, so wurden sie durch diese entschlossenen Maßregeln so eingeschüchtert, daß sie sich wieder in ihre Schlupfwinkel verkrochen und an nichts dachten, als an ihre persönliche Sicherheit.

Mit einem Worte, der Aufstand war gänzlich unterdrückt. Ueber zweihundert waren in den Straßen erschossen worden. In den Spitälern lagen weitere zweihundertundfünfzig schwer Verwundete, von denen siebenzig oder achtzig im Verlauf von einigen Tagen gleichfalls starben. Hundert lagen bereits in Haft, und mit jeder Stunde wurden noch mehr aufgegriffen. Wie viele bei den Feuersbrünsten zu Grunde gingen oder Opfer ihrer eigenen Ausschweifung wurden, ist unbekannt; aber daß eine große Anzahl ein schreckliches Grab in der Gluth, die sie selbst angezündet, fand, daß Viele in Gewölbe und Keller krochen, um im Geheimen zu trinken oder ihre Wunden zu pflegen, und nie wieder an's Licht kamen das ist gewiß und bekundete sich deutlich durch die Spaten der Arbeiter, als man nach mehreren Wochen den schwarzen und erkalteten Schutt, den die Flammen zurückgelassen, wegräumte.

Zweiundsiebzig Privathäuser und vier feste Gefängnisse waren in diesen vier großen Tagen des Aufruhrs zerstört worden. Der Gesammtverlust betrug nach der Schätzung der Beschädigten einhundert und fünfundfünfzigtausend Pfund und überstieg sogar nach dem niedrigsten Anschlage unparteiischer Personen die Summe von hundert und fünfundzwanzigtausend Pfunden. In Folge eines Antrages des Hauses der Gemeinen wurde dieser ungeheure Schaden bald nachher aus öffentlichen Mitteln vergütet und die Summe auf die verschiedenen Stadttheile, wie auch auf den Bezirk und den Flecken von Southwark umgelegt. Lord Mansfield und Lord Saville jedoch, die bedeutend gelitten hatten, wiesen jede Entschädigung zurück.

Das Unterhaus, welches am Dienstag bei verschlossenen und bewachten Thüren seine Sitzung hielt, hatte einen Beschluß abgefaßt, des Inhalts, sobald der Aufruhr beschwichtigt sey, alsbald die von vielen protestantischen Unterthanen seiner Majestät eingereichten Petitionen zu berathen und dieselben in ernste Erwägung zu ziehen. Während diese Frage debattirt wurde, stand Herr Herbert, eines der anwesenden Mitglieder, entrüstet auf und machte dem Hause bemerklich, daß Lord George Gordon mit der blauen Kokarde (dem Zeichen der Rebellion) auf seinem Hute unter der Gallerie sitze. Er wurde durch die in der Nähe Sitzenden nicht nur genöthigt, sie herunter zu nehmen, sondern auch mit Gewalt in seinem Sitze zurückgehalten, als er sich erbot, auf die Straße hinauszugehen und den Pöbel durch die etwas unbestimmte Versicherung zu beruhigen, daß das Haus im Begriffe sey, ihnen »die verlangte Genugthuung« zu geben. Mit einem Worte, die Unordnung und Gewaltthätigkeit, welche draußen triumphirte, war auch in den Senat gedrungen; hier, wie allenthalben, herrschte Schrecken und Unruhe, und alle gewöhnlichen Formen waren zur Zeit vergessen.

Am Donnerstag unterbrachen die beiden Häuser ihre Sitzungen bis zum nächsten Montag über acht Tage, sich dahin erklärend, daß es ihnen unmöglich sey, ihre Berathungen mit der nöthigen Freiheit und Würde zu behandeln, so lange sie von bewaffneten Truppen umgeben wären. Und jetzt, nachdem die Empörer zerstreut waren, geriethen die Bürger in neue Angst; denn da sie die öffentlichen Straßen und die gewohnten Verkehrsplätze mit Soldaten, denen der freie Gebrauch der Feuerwaffen und des Schwertes überlassen war, angefüllt fanden, so liehen sie den Gerüchten, die über Einführung von Standrecht umgingen, und den jammervollen Erzählungen, daß man Gefangene in Cheapside und Fleet-Street an den Laternenpfählen habe hängen sehen, ein bereitwilliges Ohr. Sobald dieser Schrecken durch eine Proklamation, daß alle verhafteten Rebellen auf gesetzlichem Wege durch eine Specialcommission abgeurtheilt werden sollten, beschwichtigt war, verbreitete sich neue Besorgniß durch das Gerede, man habe bei einigen der Aufrührer französisches Geld gefunden; die Unruhen seyen daher durch fremde Mächte, welche den Umsturz und das Verderben von England herbeizuführen suchten, angezettelt worden. Dieses Gerücht, das noch durch die Verbreitung anonymer Zettel bekräftigt wurde, ohne Zweifel aber, wenn es überhaupt begründet war, wahrscheinlich seinen Ursprung in dem Umstande nahm, daß einige Münzen von ausländischem Gepräge nebst dem übrigen Raube ihren Weg in die Taschen der Insurgenten genommen hatten und nachher bei den Gefangenen oder Leichen aufgefunden wurden – erregte großes Aufsehen und wurde, wie denn einmal der menschliche Geist in einem solchen Zustande immer geneigt ist, sich jedem Schatten von Furcht hinzugeben, mit großem Fleiße weiter getragen.

Da jedoch während des ganzen Freitags und auch die Nacht über Alles ruhig blieb, ohne daß neue Entdeckungen gemacht wurden, so begann das Vertrauen zurückzukehren und sogar die Schüchternsten und Zaghaftesten athmeten wieder auf. In Southwark vereinigten sich nicht weniger als dreitausend Einwohner zu einem Wachcorps, das alle Stunden seine Patrouillen durch die Straßen schickte. Auch die Bewohner der City folgten diesem guten Beispiele; und da es die Weise der Spießbürger ist, nach dem Verschwinden der Gefahr recht keck zu seyn, so traf man auch hier auf große Bravour und Herzhaftigkeit, indem man ohne Bedenken den stämmigsten Spaziergänger auf's Strengste ausfragte und gegen Laufbuben, Dienstmädchen und Lehrlinge gewaltig dicke that.

Als der Tag in den Abend überging und sich die Dunkelheit in alle Winkel und Ecken der Stadt einschlich, als wollte sie im Geheim ihre Streitkräfte mustern und zusammenziehen, um dann in die offenen Straßen hinauszubrechen, saß Barnaby in seinem Kerker, verwundert über die Stille und umsonst auf den Lärm und das Getümmel horchend, die kürzlich immer die Boten der Nacht gewesen waren. Neben ihm, seine Hand mit der ihrigen umfassend, saß Eine, in deren Nähe er sich wohl und ruhig fühlte. Sie war abgezehrt und verändert, ihr Herz schwer und mit Gram erfüllt; aber gegen ihn war sie dieselbe, wie sonst.

»Mutter,« sagte er nach einem langen Schweigen, »wie lange – wie viele Tage und Nächte – wird man mich noch hier behalten?«

»Nicht viele, mein Lieber. Ich hoffe, nicht viele.«

»Ihr hofft? Ja, aber Euer Hoffen wird mir diese Fesseln nicht abnehmen. Ich hoffe auch, aber man kümmert sich nicht darum. Greif hofft, aber wer macht sich etwas aus Greif?«

Der Rabe antwortete mit einem kurzen, dumpfen, melancholischen Krächzen. Es lautete »Niemand« so deutlich, als dieß nur bei einem Krächzen möglich war.

»Wer kümmert sich um Greif, ausgenommen Ihr und ich?« sagte Barnaby, die zerzausten Federn seines Vogels mit der Hand glatt streichend. »Er spricht nie an diesem Orte; er sagt kein Wort im Gefängnisse; er sitzt den ganzen Tag traurig in seiner dunkeln Ecke, dost bisweilen und schaut hin und wieder nach dem Lichte, das durch die Eisenstangen hereinschleicht und aus seinen hellen Augen wiederstrahlt, als sey ein Funke von jenen großen Feuern in die Zelle hereingefallen und brenne noch fort. Aber wer macht sich etwas aus Greif?«

Der Rabe krächzte abermals – »Niemand«.

»Und dann,« sagte Barnaby, seine Hand von dem Vogel wegnehmend und sie auf die Arme seiner Mutter legend, welcher er angelegentlich in's Gesicht sah, »wenn sie mich umbringen – es wäre möglich, denn ich hörte sagen, daß sie es thun wollen – was wird aus Greif werden, wenn ich gestorben bin?«

Der Ton des Wortes oder vielleicht der Gang seiner eigenen Gedanken legte Greif seine alte Phrase in den Schnabel: »Nichts da von Sterben!« Aber mitten inne machte er Halt, zog einen entsetzlichen Stöpsel aus und ging dann in ein mattes Krächzen über, als gebräche ihm der Muth, auch nur den kürzesten Satz zu Ende zu bringen.

»Werden sie ihm eben so gut das Leben nehmen, wie mir?« fragte Barnaby. »Ich wollte, sie thäten's. – Wenn Ihr, ich und er mit einander sterben könnten, so würde sich doch Keines um das Andere grämen müssen. Doch, sie mögen thun, was sie wollen, ich fürchte sie nicht, Mutter!«

»Man wird dir kein Leides thun,« sagte sie, während Thränen ihre Worte erstickten. »Sie werden dir kein Leides thun, wenn sie Alles wissen. Gewiß, sie werden's nicht.«

»Oh! das dürft Ihr nicht für allzugewiß annehmen,« rief Barnaby mit einer seltsamen Freude über seinen Scharfsinn, welcher ausgefunden haben wollte, daß seine Mutter in einer Selbsttäuschung befangen sey. »Sie haben von Anfang an ein Augenmerk auf mich gehabt. Sie sagten dieß, als sie mich gestern Nacht hieher brachten, und ich glaube ihnen. Weint nicht um mich. Sie nannten mich kühn, und das war ich auch, und will es bleiben. Ihr mögt immerhin denken, daß ich thöricht sey, aber ich kann so gut sterben, als ein Anderer. – Ich habe ja nichts Unrechtes gethan, oder?« fügte er rasch bei.

»Im Auge des Himmels nicht,« antwortete sie.

»Wohlan denn,« sagte Barnaby, »so mögen sie ihr Schlimmstes thun. Ihr habt mir einmal gesagt – ja, Ihr – als ich Euch fragte, wie es mit dem Tod sey – daß man ihn nicht zu fürchten brauche, wenn man nichts Unrechtes gethan habe. – Aha! Mutter, meint Ihr, ich hätte das vergessen?«

Sein heiteres Lachen und sein scherzhaftes Wesen schnitten ihr in die Seele. Sie zog ihn näher an sich und bat ihn, nicht so laut zu reden und ruhig zu seyn, denn es dunkle bereits und ihre Zeit sey kurz; sie werde ihn bald für die Nacht verlassen müssen.

»Ihr kommt aber doch morgen wieder?« fragte Barnaby.

Ja. Und jeden Tag. Und sie wollten sich nie wieder trennen.

Freudig erwiederte er, dieß sey schön und sein einziger Wunsch; auch habe er vorher gewußt, daß sie so sprechen würde. Dann fragte er sie, wo sie so lange verweilt und warum sie nicht gekommen sey, um ihn zu sehen, als er ein großer Soldat gewesen. Er erging sich sofort in all' den wirren Entwürfen, die er sich für ihr Reichwerden und ihr Glück ausgeheckt hatte, und mit einer unklaren Vorstellung, daß sie traurig sey, und zwar wegen ihm, versuchte er sie zu beruhigen und zu trösten, indem er ihr von ihrem früheren Leben, von seinen alten Spielen und der heiteren Freiheit erzählte, freilich nicht entfernt daran denkend, daß jedes seiner Worte nur ihren Kummer vermehrte und daß ihre schneller fallenden Thränen der Erinnerung an ihren verlorenen Frieden galten.

»Mutter,« sagte Barnaby, als sie den Schließer sich der Zelle nähern hörten. »als ich vorhin mit Euch von meinem Vater sprechen wollte, rieft Ihr ›Bst!‹ und wandtet Euer Gesicht ab. Warum thatet Ihr dieß? Sagt mir mit einem einzigen Wörtchen, warum? Ihr meintet, er sey todt. Es thut Euch doch nicht leid, daß er lebt und zurückgekommen ist – zu uns? Und wo ist er? Hier?«

»Frage Niemanden, wo er ist, und sprich auch nicht von ihm,« lautete ihre Antwort.

»Warum nicht?« fragte Barnaby. »Weil er ein finsterer Mann ist und so rauh spricht? Nun, ich liebe ihn gerade nicht, und sehne mich auch nicht nach ihm; aber warum nicht von ihm sprechen?«

»Weil es mir leid thut, daß er noch lebt, leid, daß er zurück gekommen ist, und leid, daß ihr Beide euch je getroffen habt. Ach, lieber Barnaby, es war der heißeste Wunsch meines Lebens, daß ihr euch nie treffen möchtet.«

»Vater und Sohn sich nie treffen! Warum?«

»Er hat,« flüsterte sie ihm in's Ohr, »er hat Blut vergossen. Die Zeit ist gekommen, wo du es wissen mußt. Er hat das Blut eines Mannes vergossen, der ihn liebte, der auf ihn baute und der ihn nie, weder in Worten, noch in der That, beleidigt hat.«

Barnaby bebte entsetzt zurück, schielte für einen Augenblick nach dem Male an seinem Handgelenke und verhüllte es dann schaudernd in seinen Kleidern.

»Aber,« fügte sie hastig bei, als sich der Schlüssel im Schloß drehte, »obgleich wir ihn scheuen, mein Lieber, so ist er doch dein Vater und ich bin sein unglückliches Weib. Man verlangt sein Leben und er wird es verlieren. Aber es darf nicht durch uns geschehen; ja, und wenn wir ihn der Reue zurückgewinnen könnten, so wäre es unsere Pflicht, ihn sogar zu lieben. Gib dir nicht den Anschein, als ob du ihn weiter kenntest, es wäre denn als Einen, der mit dir aus dem Gefängniß floh; und wenn sie um seinetwillen Fragen an dich stellen, so gib keine Antwort. Gott sey dein Beschützer in dieser Nacht, mein lieber Sohn. Gott sey mit dir!«

Sie riß sich von ihm los und in wenigen Augenblicken war Barnaby allein. Er stand eine geraume Zeit wie in die Erde gewurzelt da und verbarg sein Gesicht mit den Händen; dann warf er sich schluchzend auf sein Lager.

Aber der Mond kam langsam herauf in all' seiner sanften Pracht, und die Sterne blickten nieder; durch den kleinen Raum des vergitterten Fensters, wie durch die enge Ritze einer einzigen guten That in einem schuldbefleckten Leben, leuchtete klar und erbarmungsvoll das Antlitz des Himmels. Er erhob das Haupt, schaute auf nach dem ruhigen Sternengewölbe, das traurig auf die Erde niederzulächeln schien, als schaute die Nacht, gedankenvoller als der Tag, sorgenvoll auf die Leiden und Sünden der Menschen herab, und er fühlte, wie ihr Frieden tief in sein Herz niederträufelte. Er, der arme Geistesverwirrte, eingekäfigt in seiner engen Zelle, war im Geiste jetzt, während er auf jenes milde Licht blickte, eben so frei zu Gott emporgehoben, als der glücklichste Mensch in der ganzen geräumigen Stadt, und in seinem halbvergessenen Gebete und in dem Bruchstücke des kindischen Hymnus, mit dem er sich in den Schlaf sang, lebte ein so ächter, frommer Sinn, als ihn nur je eine studirte Altarrede ausdrückte oder die Gewölbe einer alten Kathedrale wiederhallten.

Während seine Mutter beim Hinausgehen über einen Hof kam, sah sie durch eine Gitterthüre, welche nach einem zweiten Hofe führte, ihren Mann, der mit gesenktem Haupte und über der Brust gefalteten Händen im Kreise herumging. Sie fragte ihren Führer, ob sie nicht ein Wort mit diesem Gefangenen sprechen dürfe. Ja; aber sie müsse sich beeilen, denn das Thor werde jetzt geschlossen und er könne ihr nur eine Minute Zeit lassen. Mit diesen Worten riegelte er die Thüre auf und hieß sie hineingehen.

Die Thüre kreischte, als sie sich in ihren Angeln drehte, aber er blieb taub gegen den Ton, und ging immer rund in dem Hof herum, ohne den Kopf zu erheben oder seine Haltung zu ändern. Sie redete ihn an, aber ihre Stimme war schwach und versagte ihr. Endlich stellte sie sich in seinen Weg; als er in ihre Nähe kam, streckte sie die Hand aus und berührte ihn.

Er fuhr zurück, zitterte am ganzen Leibe, und als er sah, wer es war, fragte er sie, warum sie herkomme. Ehe sie noch antworten konnte, fuhr er fort:

»Soll ich leben oder sterben? Wollt ihr mich ermorden oder meines Lebens schonen?«

»Mein Sohn – unser Sohn,« entgegnete sie, »ist in diesem Kerker.«

»Was geht das mich an?« rief er, ungeduldig auf das Steinpflaster stampfend. »Ich weiß es. Er kann mir so wenig helfen, als ich ihm. Wenn Ihr gekommen seyd, um von ihm zu sprechen, so packt Euch von hinnen!«

Nach diesen Worten fing er wieder zu gehen an und eilte, wie zuvor, im Kreise herum. Als er auf's Neue an der Stelle anlangte, wo sie weilte, machte er Halt und sagte:

»Soll ich leben oder sterben? Bereut Ihr's?«

»Oh! – bereut Ihr?« antwortete sie. »Wollt Ihr Euch der Reue hingeben, so lang Ihr noch Zeit dazu habt? Glaubt nicht, daß ich Euch zu retten im Stande wäre, selbst wenn ich es wagte.«

»Sagt lieber, wenn Ihr wolltet,« antwortete er mit einem Fluche, indem er es versuchte, sich los zu machen und weiter zu gehen. »Sagt, wenn Ihr es wolltet.«

»Hört mich einen Augenblick an,« erwiederte sie; »nur einen Augenblick. Ich bin kürzlich erst von dem Krankenlager aufgestanden, von dem ich mich nie wieder zu erheben hoffte. Die Besten unter uns gedenken zu solchen Zeiten ihrer halbausgeführten guten Vorsätze und der unterlassenen Pflichten. Wenn ich seit jener verhängnißvollen Nacht je unterließ, für Eure Reue vor Eurem Hinscheiden zu beten – wenn ich es selbst damals unterließ, als mich das noch neue Entsetzen vor Eurem Verbrechen und alles Andere dazu hätte drängen sollen – wenn ich bei unserer kürzlichen Begegnung der mich bedrückenden Angst nachgab, und es vergaß, auf meine Kniee niederzufallen und Euch im Namen dessen, den Ihr so plötzlich vor den Richterstuhl Gottes schicktet, feierlichst zu beschwören, daß Ihr Euch vorbereiten solltet auf die Wiedervergeltung, die kommen mußte und die Euch jetzt an der Ferse klebt – so demüthige ich mich jetzt vor Euch und flehe Euch in meinen Todesängsten an, laßt Euch zur Buße und Sühne bewegen.«

»Was soll dieses Heuchlergeschwätz?« antwortete er rauh. »Sprecht so, daß ich Euch verstehen kann.«

»Das will und wünsche ich« antwortete sie. »Habt nur einen Augenblick mit mir Geduld. Die Hand dessen, der den Mörder mit seinem Fluche gebrandtmarkt hat, liegt jetzt schwer auf Euch. Ihr könnt darüber nicht im Zweifel seyn. Unser Sohn, unser unschuldiger Knabe, den Gottes Zorn schon vor seiner Geburt heimsuchte, ist hier gefangen und in Lebensgefahr – durch Eure Schuld hieher gebracht; ja, durch sie allein – davon ist der Himmel Zeuge – denn er wurde auf Irrwege geleitet durch die Umnachtung seines Verstandes, die schreckliche Folge Eures Verbrechens.«

»Wenn Ihr hergekommen seyd, um mich nach Weiberart mit Vorwürfen zu überhäufen –« murmelte er, indem er abermals versuchte, sich loszureißen.

»Das will ich nicht. Mein Zweck ist ein ganz anderer. Ihr müßt mich anhören. Ist es nicht heute, nicht morgen, nicht übermorgen, so doch ein andermal. Ihr müßt es hören, Mann, ein Entrinnen ist hoffnungslos – ist unmöglich.«

»Und das sagt Ihr mir?« erwiederte er, indem er die gefesselte Hand erhob und schüttelte. »Ihr?«

»Ja,« versetzte sie mit dem angelegentlichsten Ernste. »Doch zu welchem Ende?«

»Um es mir in diesem Kerker behaglicher zu machen. Damit mir die Zeit zwischen heute und meinem Tode recht angenehm entschwinde. Ha, ha! Zu meinem Besten, natürlich zu meinem Besten,« versetzte er, mit den Zähnen knirschend und einem grinsenden Lächeln auf seinem leichenfahlen Gesichte.

»Nicht um Euch mit Vorwürfen zu überhäufen,« entgegnete sie, »nicht um die Qualen des Elendes zu vermehren, nicht um auch nur ein einziges hartes Wort gegen Euch auszusprechen, sondern um Euch dem Frieden und der Hoffnung wieder zu geben, Mann, wenn Ihr nur dieses schreckliche Verbrechen eingestehen wolltet, wenn Ihr nur die Vergebung des Himmels und derjenigen, die Ihr auf Erden gekränkt habt, anflehen möchtet, wenn Ihr aufgeben würdet diese eitlen, unruhigen Gedanken, die nie verwirklicht werden können, um auf dem Boden der Reue und Wahrheit zu ankern – so verspreche ich Euch im Namen des Allmächtigen, dessen Ebenbild Ihr befleckt habt, daß Er Euch trösten und stärken wird. Und was mich betrifft,« rief sie, die Hände zusammen schlagend und aufwärts schauend, »so schwöre ich Euch bei Ihm, der mein Herz kennt und in meinem Innern liest,  daß ich Euch von Stunde an lieben und pflegen will; wie ich es in alten Tagen that; ich will in der Euch zugemessenen kurzen Frist Tag und Nacht nicht von Eurer Seite weichen, durch treue Liebe und Pflichterfüllung Eure Unruhe bekämpfen und mit Euch beten, damit wenigstens ein drohendes Gericht abgewandt werde und unser Knabe verschont bleiben möge, um nach seiner armen Weise im Lichte der Sonne und der freien Luft Gottes Namen zu preisen!«

Während dieser Worte wich er zurück,als flößte ihm ihr Benehmen für einen Augenblick eine heilige Scheu ein, und als wüßte er nicht, was er thun solle. Aber Grimm und Todesangst gewannen alsbald wieder über ihn die Oberhand und er stieß sie von sich.

»Fort mit Euch! Verlaßt mich! Ihr schmiedet ein Complott gegen mich! Ihr wolltet mit mir sprechen, um sie zu überzeugen, daß ich der Mann sey, für den man mich hält. Fluch über Euch und Euren Sohn!«

»Ach, der Fluch hat ihn bereits ereilt,« versetzte sie händeringend.

»Mag er noch schwerer auffallen. Mag er Einen und Alle treffen. Ich hasse euch Beide. Das Schlimmste kömmt über mich und der einzige Trost, den ich suche oder haben kann, liegt in dem Bewußtseyn, daß auch ihr darunter leidet. Fort!«

Auch jetzt noch würde sie von ihrem sanften Drängen nicht abgelassen haben, aber er drohte ihr mit seiner Kette.

»Fort! sage ich – ich wiederhole es zum letztenmal; führt mich daher nicht in Versuchung. Der Strick ist bereits um meinen Hals geschlungen, und das ist ein schwarzes Gespenst, das mich zu noch 'was Weiterem treiben kann, ehe es mir die Kehle zuschnürt. Hinweg! Fluch der Stunde, in der ich geboren wurde! Fluch dem Manne, den ich erschlug! und Fluch Allem, was da lebt auf Erden!«

In einem Anfalle von Wuth, Schrecken und Todesfurcht riß er sich von ihr los und stürzte in die Nacht seiner Zelle, wo er sich klirrend auf das Pflaster niederwarf und mit den gefesselten Händen an die Steine schlug. Der Mann kehrte zurück, um das Gitter zu schließen, und sobald dieß geschehen war, führte er sie fort.

In jener warmem balsamischen Julinacht gab es in allen Stadttheilen frohe Gesichter und leichte Herzen; der durch die Schrecken der letzten Zeit lange verscheuchte Schlaf kehrte doppelt willkommen zurück. In derselben Nacht machten sich die Familien lustig in ihren Häusern und wünschten sich Glück, der gemeinschaftlichen Gefahr entronnen zu seyn. Die so arg Bedrohten wagten sich wieder auf die Straßen und die Geplünderten konnten sich eines sicheren Obdachs erfreuen. Selbst der furchtsame Lordmayor, der in jener Nacht vor den Staatsrath berufen worden, um sein Benehmen zu rechtfertigen, kam ganz zufrieden wieder zurück und bemerkte gegen alle seine Freunde, daß er ganz gut mit einem Verweise davon gekommen sey, dabei mit ungemeiner Selbstgefälligkeit seine merkwürdige Vertheidigung wiederholend, »seine Verwegenheit sey so groß gewesen, daß er geglaubt habe, er werde sie mit dem Leben büßen müssen.«

Auch wurden in jener Nacht noch weitere zerstreute Ueberreste des Gesindels aus ihren Schlupfwinkeln gezogen und zur Haft gebracht; und in den Spitälern, und tief unter den Trümmern, die sie selbst gemacht, in Gräben und auf den Feldern lagen viele elende Todte ohne Leichentuch, beneidet von denen, die sich bei den Unruhen betheiligt hatten und ihre dem Tode verfallenen Häupter vor der Hand im Gefängniß niederlegten.

Und im Tower, in einem traurigen Gemach, wo dicke Steinmauern das laute Gesumme des Lebens ausschlossen und eine Stille verbreiteten, welche nur noch tiefer und nachdrücklicher wurde durch die Reminiscenzen, welche frühere Gefangene in die Wände eingegraben hatten – bittere Reue empfindend über alle die grausamen Handlungen und Schandthaten des schändlichen Pöbels, in dessen Verbrechen seine eigene Schuld erkennend und sich den Tod so Vieler vorwerfend – saß der unglückliche Urheber von all' diesem Elende, Lord George Gordon, dem bei solchen Betrachtungen sein Fanatismus oder sein eingebildetes »Berufensein« nur wenig Trost zu bieten vermochte.

Er war diesen Abend festgenommen worden.

»Wenn Ihr überzeugt seyd, daß ich es bin, dem Euer Auftrag gilt,« sagte er zu dem Beamten, der mit einem Haftbefehle wegen Hochverraths außen wartete, »so bin ich bereit, Euch zu begleiten –« was er denn auch ohne Widerstand that.

Er wurde zuerst vor den Geheimenrath und nachher vor die Kommandatur gestellt, von wo aus man ihn, um die Hauptstraßen zu vermeiden, über die Westminsterbrücke auf der rechten Seite der Themse nach der Londonbrücke und von da aus nach dem Tower brachte – wohl mit der stärksten Bedeckung, unter der je ein einzelner Gefangener die Thore dieser Veste betrat.

Von allen seinen vierzigtausend Mann war nicht ein Einziger übrig geblieben, um ihm Gesellschaft zu leisten. Freunde, Anhänger, Diener – Niemand war da. Sein fuchsschwänzender Sekretär hatte den Verräther gespielt; und er, dessen Schwäche von so Vielen in selbstsüchtiger Absicht gestachelt und angespornt worden, war jetzt verlassen und allein.



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