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Achtundsechzigstes Kapitel.

Während in der vorangehenden Nacht Newgate brannte, standen Barnaby und sein Vater, welche von Hand zu Hand weiter geschoben worden waren, in Smithfield hinter den äußersten Reihen des Pöbels und schauten den Flammen zu, wie Männer, die plötzlich aus dem Schlafe geweckt wurden. Es verging einige Zeit, ehe sie sich mit Bestimmtheit entsinnen konnten, wo sie waren oder wie sie hierher gekommen; deßgleichen vergaßen sie auch beinahe, während sie, wie ein paar sorglose Zuschauer, müßig dastanden, daß man ihnen hastig Werkzeuge in die Hand gesteckt hatte, womit sie selbst sich von ihren Fesseln befreien konnten.

Wäre Barnaby seinem ersten Gedanken gefolgt oder überhaupt allein gewesen, so würde er, trotz seiner schweren Ketten, wieder an Hugh's Seite zurückgekehrt seyn, da dieser seinem umwölkten Verstande jetzt in dem neuen Glanze eines Retters und des treuesten Freundes erschien. Sobald er aber die volle Ausdehnung der Angst seines Vaters begriff, ging auch dessen Schrecken, sich in offener Straße zu wissen, auf ihn über und flößte ihm dieselbe Begier ein, nach einem sichern Orte zu fliehen.

In einer Ecke des Marktes unter den Viehhürden kniete Barnaby nieder und fing an, seinem Vater die Eisen abzuschlagen, dabei nur hin und wieder inne haltend, um ihm mit der Hand über das Gesicht zu fahren, oder lächelnd nach ihm aufzusehen. Sobald er ihn als freien Mann aufspringen gesehen und dem Uebermaaße seines Entzückens über diesen Anblick Luft gemacht hatte, ging er an Lösung seiner eigenen Bande, die bald rasselnd auf den Boden niederfielen, so daß er gleichfalls fessellos dastand.

Nach Beendigung dieses Geschäftes schlichen sie gemeinschaftlich weiter, an verschiedenen Menschengruppen vorbei, die sich um irgend eine geduckte Person versammelt hatten, um sie vor den Vorübergehenden zu verbergen, ohne jedoch den schallenden Ton der Hämmer unterdrücken zu können, der auf eine ähnliche Arbeit, wie die kurz zuvor von ihnen abgefertigte, hinwies. Die beiden Flüchtlinge schlugen ihren Weg nach Clerkenwell ein, begaben sich von da nach Islington – dem nächsten Punkte, um aus der Stadt zu kommen – und waren bald auf freiem Felde. Nachdem sie geraume Zeit umhergewandert waren, fanden sie auf einem Waideplatz in der Nähe von Finchley einen armseligen Schuppen mit Lehmwänden, der mit Gras und Gesträuch bedeckt und für einen Kuhhirten gebaut worden war, jetzt aber leer stand. Hier legten sie sich nieder, um die Nacht über auszuruhen.

Als es Tag war, wanderten sie hin und her, und einmal begab sich Barnaby sogar nach einer zwei oder drei Meilen entlegenen Gruppe von kleinen Bauernhäusern, um Brod und Milch zu kaufen. Da sie jedoch kein besseres Obdach fanden, so kehrten sie wieder an den früheren Ort zurück, wo sie sich niederlegten, um die Nacht zu erwarten.

Der Himmel allein weiß, mit welchen wirren Begriffen von Pflicht und Liebe, mit welchen seltsamen Natureinflüsterungen, Barnaby eben so verständlich, als einem Manne von hellem Geiste und guten Fähigkeiten, mit welchen unklaren Rückerinnerungen, wie er einst als Kind mit Kindern gespielt, die von ihren Vätern, von der Liebe derselben und von ihrer Liebe zu ihnen gesprochen, mit wie vielen halbbewußten und träumerischen Rückblicken auf den Kummer, die Thränen und die Verlassenheit seiner Mutter – er diesen Mann pflegte und bewachte. Daß aber eine unklare und schattenhafte Masse von Ideen langsam in ihm auftauchte, daß sie ihn schmerzlich stimmte, wenn er ihm in's abgezehrte Gesicht sah, daß sie ihm Thränen in's Auge preßte, wenn er sich niederbeugte, um ihn auf die Wangen zu küssen, daß sie ihn wach erhielten in schmerzlich beklommener Heiterkeit, wenn er ihn gegen das Licht der Sonne schützte, ihm mit Blättern Kühlung zufächelte und ihn beruhigte, so oft er aus seinem Schlafe – ach! und aus welch' einem unruhigen Schlafe – auffuhr, dabei sich wundernd, wenn wohl sie kommen würde, um sich mit ihnen zu vereinigen und glücklich zu seyn – das ist Wahrheit. Er saß den ganzen Tag über an seiner Seite, glaubte in jedem wehenden Lüftchen ihren Tritt zu hören, sah sich in dem sanft wogenden Grase nach ihrem Schatten um und wand wilde Blumen zu Kränzen, um ihr, wenn sie käme, und ihm, wenn er erwachte, eine Freude zu machen; dabei bückte er sich von Zeit zu Zeit nieder, um auf sein Murmeln zu hören und sich zu wundern, warum er so unruhig sein könne an diesem stillen Orte. Die Sonne ging unter und die Nacht brach ein; er war noch immer ganz zufrieden und heiter, stets mit denselben Gedanken beschäftigt, als gäbe es keine weiteren Menschen auf der Welt, und als verbärge jene düstere Rauchwolke, welche in der Ferne über der ungeheuren Stadt hing, keine Laster oder Verbrechen, weder Leben noch Tod oder sonstige Anlässe zur Unruhe – nichts, als die reine Luft.

Aber nun war die Stunde gekommen, wo er allein fortgehen sollte, um den blinden Mann aufzusuchen – ein Auftrag, der ihn mit Wonne erfüllte – und ihn nach der Hütte zu bringen. Es wurde ihm indeß eingeschärft, er solle ja recht Acht haben, daß man ihn auf dem Rückweg nicht belausche oder ihm nachfolge. Er achtete aufmerksam auf die ihm ertheilten Weisungen und wiederholte sie zu öfteren Malen; dann kehrte er einige Male wieder zurück, um seinen Vater mit einem leichtherzigen Gelächter zu überraschen, bis er endlich seine Botschaft antrat, Greif, den er auf den Armen aus dem Gefängniß getragen, in der Hütte zurücklassend.

Trotz seiner flüchtigen Füße und seines ängstlichen Verlangens, bald wieder zurück zu seyn, erreichte er doch die Stadt erst, als die Feuer zu lodern begannen und die Nacht grimmig mit ihrem unheimlichen Glanze erhellten. Als er daselbst anlangte – war es vielleicht, daß er sich in einer andern Stimmung befand, weil seine früheren Kameraden nicht an seiner Seite waren und er nur einen harmlosen Auftrag zu besorgen hatte, oder daß die schöne Einsamkeit, in welcher er den Tag vollbracht, vielleicht auch die Gedanken, mit denen er sich beschäftigt, auf ihn eingewirkt – kurz, als er daselbst anlangt, schien sie ihm durch eine Legion Teufel bevölkert zu seyn. Dieses Fliehen und Verfolgen, dieses grausame Sengen und Verheeren, dieser betäubende Lärm und dieses schreckliche Geschrei – war das Alles die edle Sache des guten Lords?

Trotz der verwirrenden Scenen, die ihm beinahe die Sinne benahmen, fand er doch das Haus des Blinden auf. Es war verschlossen und unbewohnt. Er wartete lange Zeit, ohne daß Jemand kam. Endlich entfernte er sich. Er hatte inzwischen die Soldaten feuern hören und konnte sich wohl denken, daß viele Leute gefallen seyn mußten, weßhalb er nach Holborn hinunterging, wo, wie er hörte, sich die Menge befand, um zu sehen, ob er Hugh nicht auffinden und ihn bereden könne, der Gefahr auszuweichen und sich mit ihm zu flüchten.

War er aber zuvor schon erschüttert und betäubt, so steigerte sich sein Entsetzen auf das Tausendfältige, als er in diesen Wirbel des Aufruhrs gerieth und, ohne in dem schrecklichen Schauspiele eine Rolle zu spielen, das Ganze vor Augen hatte. Und dort, mitten darin, über Alle emporragend, und dicht vor dem Hause, das sie jetzt angriffen, saß Hugh zu Pferde, den Uebrigen zurufend.

Fast ohnmächtig von der Hitze, dem Lärm, dem Gewühl und dem Anblick rings umher brach er sich durch den Pöbel (unter dem ihn Viele erkannten, weßhalb sie mit Jubelrufen zurückwichen, um ihn durchzulassen) Bahn und befand sich schon ziemlich in Hugh's Nähe, welcher eben wilde Drohungen gegen Jemanden ausstieß; er konnte jedoch in der großen Verwirrung nicht unterscheiden, wem sie galten, oder was er überhaupt sagte. In demselben Augenblick hatte der Haufen die Thüre niedergebrochen, und Hugh stürzte köpflings zu Boden, ohne daß es möglich gewesen wäre, in dem Gewühl zu erkennen, was Anlaß zu diesem Falle gegeben hatte.

Barnaby war an seiner Seite, als er sich wieder auf die Beine half. Es war gut, daß er seine Stimme hören ließ, sonst würde ihm wohl Hugh mit der geschwungenen Axt den Schädel entzweigespalten haben.

»Barnaby – du? Welche Hand hat mich niedergeschlagen?«

»Die meinige nicht.«

»Welche? – Ich frage, welche,« rief er, zurücktaumelnd und wild umherschauend. »Was geht da vor? Wo ist er? Zeige mir ihn.«

»Du bist verwundet,« entgegnete Barnaby – dieß war in der That der Fall, sowohl in Folge des erhaltenen Schlages, als durch den Huf seines Pferdes. »Komm mit mir fort.«

So sprechend, ergriff er den Zügel des Rosses, wandte dasselbe um und schleppte Hugh mehrere Schritte mit sich. Dieß führte sie aus dem Bereich des Haufens, der von der Straße aus nach den Kellern des Weinhändlers strömte.

»Wo ist – wo ist Dennis?« fragte Hugh, indem er Halt machte und Barnaby mit seinem kräftigen Arm zurückhielt. »Wo hat er sich den ganzen Tag über aufgehalten? Was wollte er damit andeuten, als er mich gestern Nacht in dem Gefängniß verließ? Sage mir das – hörst du?«

Mit einer Schwenkung seiner gefährlichen Waffe fiel er jetzt plötzlich, einem Holzblock ähnlich, zu Boden. Eine Minute später, raffte er sich jedoch, obgleich fast wahnsinnig vor Betrunkenheit und der Wunde in seinem Kopf, auf, kroch nach einem Strome brennenden Weingeistes, der die Gosse hinablief, und begann daraus zu trinken, als ob es frisches Quellwasser wäre.

Barnaby zog ihn zurück und half ihm auf die Beine. Da indeß Hugh weder zu stehen, noch zu gehen vermochte, so wankte er maschinenmäßig seinem Pferde zu, kletterte auf seinen Rücken und klammerte sich daselbst an. Nach einigen vergeblichen Versuchen, das Tier seines klappernden Zierraths zu entkleiden, sprang Barnaby hinten hinauf, ergriff die Zügel, bog in das nahe gelegene Leather Lane ein und trieb das erschreckte Pferd zu einem schwerfälligen Galop an.

Er schaute noch einmal in die eben verlassene Straße zurück und ersah daselbst eine Scene, die sich wohl sein ganzes Leben über nicht wieder aus seinem Gedächtniß verwischen mochte.«

Des Weinhändlers Haus nebst einem halben Dutzend benachbarter Gebäude war nur eine große Flammenlohe. Den ganzen Abend über hatte keine Seele versucht, das Feuer zu löschen oder seinem Umsichgreifen Einhalt zu thun, aber jetzt war eine Abtheilung Soldaten beschäftigt, zwei alte Holzhäuser niederzureißen, die jeden Augenblick in Brand zu gerathen drohten, und, wenn man dieß nicht verhinderte, die Flammen unendlich weit verbreiten mußten. Das Niederstürzen der wankenden Mauern und der schweren Holzblöcke, das Fluchen und Toben des Gesindels, die Musketensalven der übrigen Soldatenabtheilungen in der Ferne, die entsetzten Blicke und Weherufe Derjenigen, deren Häuser in Gefahr waren, das Ab- und Zurennen der erschreckten Leute, welche ihre Habe retten wollten, allenthalben der tiefrothe Wiederschein auflodernder Flammen am Himmel, als wäre der jüngste Tag angebrochen und sollte das ganze All sich in Glut verzehren, der Staub, der Rauch und die sprühenden Funken, die überall zündeten und sengten, wohin sie fielen, der heiße, krankmachende Dampf, der Alles austrocknete, der ganze Himmel, der mit Mond und Sternen zu verschwinden schien – alles dieß bildete eine solche Summe von Jammer und Verheerung, daß es den Anschein gewann, als könne das Antlitz Gottes selbst nicht mehr niederschauen, und als wäre die Nacht mit ihrem sanften Lichte, mit ihrer Ruhe und ihrem Frieden für immer von der Erde vertilgt.

Aber es gab noch einen weit entsetzlicheren Anblick – weit schlimmer noch, als das Feuer, der Rauch oder sogar die unersättliche, tolle Wuth des Gesindels. Die Gossen, wie überhaupt jede Rinne oder jeder Spalt in dem Pflaster, strömte von brennendem Spiritus, der, von geschäftigen Händen eingedämmt, die Straßen und Trottoirs überflutete und einen großen Feuerpfuhl bildete, in welchen die Leute zu Dutzenden todt niederfielen. Sie lagen zu Tausenden um diesen schrecklichen Teich – Männer und Weiber, Väter und Söhne, Mütter und Töchter, Weiber mit Kindern in ihren Armen und Säuglingen an ihren Brüsten – und tranken, bis sie todt waren. Während Einige sich niederbeugten, um ihre Lippen an den Rand zu bringen, und ihre Köpfe nie wieder erhoben, sprangen Andere von ihrem Feuertranke wieder auf und tanzten, halb in tollem Triumph, halb in der Angst des Todes, bis sie niederfielen und ihre Leichen ganze Haufen bildeten in dem Branntwein, der sie getödtet hatte. Auch war dieß noch nicht die schlimmste oder schrecklichste Todesart, deren Zeuge diese verhängnißvolle Nacht war. Aus den brennenden Kellern, wo sie aus Hüten, Eimern. Gelten, Fässern und Schuhen tranken, wurden Einige herausgezogen, noch lebendig, aber von Kopf bis zu den Füßen in Flammen; in dem unerträglichen Schmerze stürzten sie auf Alles los, was wie Wasser aussah, und rollten sich zischend in dem gräßlichen See, flüssiges Feuer von sich spritzend, das allenthalben haftete, wohin es traf, an der Oberfläche herunterströmte und weder Lebendiges noch Todtes verschonte. In dieser letzten Nacht des großen Aufruhrs – denn es war die letzte Nacht – wurden die elenden Opfer einer sinnlosen Verhetzung selbst ein Raub der Flammen, die sie angezündet hatten, mit der eigenen Asche die Straßen von London bestreuend.

All' dieß mit seinem letzten Blick erfassend und unzerstörlich seiner Seele einprägend, eilte Barnaby aus der Stadt, die solche Schauer umschloß. Er senkte das Haupt, damit er nicht einmal den Wiederschein der Feuer in der ruhigen Landschaft schauen möchte, und befand sich bald auf der stillen Straße im Freien.

Er machte ungefähr eine halbe Meile von dem Schuppen, wo sein Vater lag, Halt, bewog Hugh, freilich nicht ohne Mühe, zum Absteigen, versenkte das Sattelzeug des Pferdes in einen stehenden Sumpf und ließ das Thier laufen. Sobald dieß geschehen war, unterstützte er seinen Gefährten, so gut es gehen wollte, und führte ihn langsam weiter.



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