Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

[Master Humphrey's Wanduhr III]

Fünfundvierzigstes Kapitel.

Während die schlimmsten Leidenschaften der verdorbensten Menschen also im Dunkeln brüteten und der Deckmantel der Religion, der die schändlichsten Laster verhüllen sollte, das Leichentuch alles Guten und Friedlichen in der Gesellschaft zu werden drohte, trat ein Umstand ein, der wieder einmal den Lebensweg zweier Personen kreuzte, welche lange nicht mehr in dieser Geschichte aufgetreten sind und zu denen wir jetzt zurückkehren müssen.

In einer kleinen englischen Landstadt, deren Bewohner sich durch Händearbeit ihren Unterhalt erwarben, indem sie das Stroh zubereiteten und für diejenigen zu Schnüren flochten, welche aus diesem Material Hüte, Putz- und Ziersachen verfertigten, lebten Barnaby und seine Mutter unter angenommenen Namen und in ruhiger, wechselloser Armuth dahin; und obgleich sie keine Freuden kannten, so lasteten doch auch nur wenige andere Sorgen, als die der schweren Arbeit um das tägliche Brod, auf ihnen. Ihre ärmliche Hütte war seit den fünf Jahren, als sie darin Schutz und Obdach gefunden hatten, von keinem fremden Fuße betreten worden, und eben so wenig hatten sie die ganze Zeit über irgend einen Verkehr mit der alten Welt gepflogen, aus der sie sich geflüchtet. Im Frieden zu arbeiten und ihr Leben nebst den Früchten ihres Fleißes ihrem armen Sohne zu weichen, war das einzige Streben der Wittwe; und wenn man von Glück sprechen kann, wo Jemand die Beute eines geheimen Grames ist, so war sie jetzt glücklich. Ruhe, Ergebung und aufopfernde Liebe zu dem, der derselben so sehr bedurfte, bildeten den kleinen Kreislauf ihrer stillen Freuden, und so lange dieser ununterbrochen blieb, war sie zufrieden.

An Barnaby dagegen war die entwichene Zeit wie der Hauch des Windes vorübergegangen. Der tägliche Sonnenlauf vieler Jahre hatte keinen lichteren Strahl in die düstere Nacht seines Geistes geworfen, aus der kein Morgenroth aufdämmern wollte. Er konnte zuweilen – oft Tage lang hinter einander – auf einer niedern Bank bei dem Feuer oder vor der Hüttenthüre sitzen und bei emsiger Arbeit (denn er hatte dieselbe Kunst gelernt, welche seine Mutter übte) auf die Geschichtchen hören, welche sie ihm immer wieder neu erzählte, um ihn zu vermögen, daß er ihr unter den Augen bleibe. Er hatte keine Erinnerung für diese kleinen Erzählungen, denn die Geschichte von gestern war ihm am Morgen wieder neu; aber für den Augenblick fand er Freude daran, und wenn es ihn ankam, so konnte er geduldig zu Hause bleiben und auf die Märchen seiner Mutter hören, wie ein kleines Kind, dabei wohlgemuth arbeitend von Sonnenaufgang, bis es zu dunkel war, um zu sehen.

Zu andern Zeiten – und dann war ihr spärliches Verdienst kaum hinreichend, sie auch nur mit der gröbsten Nahrung zu versorgen – wanderte er draußen umher vom Grauen des Tages an, bis das Zwielicht in die Nacht überging. Wenige Ortsbewohner, nicht einmal die Kinder, konnten müßig seyn, und so hatte er auch nicht Einen menschlichen Gefährten. Ueberhaupt wären auch unter einer ganzen Legion nur wenige aufzufinden gewesen, die auf seinen Streifzügen gleichen Schritt mit ihm hätten halten können. Statt dessen gab es aber ein paar Dutzend vagabundirender Hunde, die den Nachbarn angehörten und ganz gut in seinen Kram paßten. Mit zweien oder dreien, bisweilen mit einem ganzen Halbdutzend dieser bellenden Kameraden auf der Ferse, konnte er Tage lang herumschwärmen; und wenn die Hunde des Abends vor Müdigkeit ganz erschöpft und mit wunden Beinen heimgehinkt kamen, so war Barnaby bereits bei Sonnenaufgang mit einigen neuen Begleitern derselben Klasse wieder auf und davon, um sie Abends in einem gleichen Zustande zurückzubringen. An allen diesen Wanderzügen nahm Greif, der in dem kleinen Korbe auf dem Rücken seines Herrn saß, beharrlichen Antheil, und wenn sie bei schönem Wetter wohlgemuth aufbrachen, war kein Hund im Stande, es dem Raben im Bellen zuvorzuthun.

Ihre Vergnügungen bei derartigen Ausflügen waren einfach genug. Eine Kruste Brod und eine Fleischschnitte mit Wasser aus einem Bach oder einer Quelle reichten zu ihrer Erfrischung zu. Ueberhaupt war es Barnaby's größte Lust, zu gehen, zu laufen und zu springen, bis er müde war, dann sich in das lange Gras in ein Getreidefeld oder in den Schatten eines hohen Baumes zu legen, nach den lichten Wolken aufzusehen, wie sie an dem blauen Himmelsgewölbe hinschwammen, und auf den lieblichen Gesang der Lerche zu horchen. Da gab es wilde Blumen zu pflücken – den hochrothen Feldmohn, die liebliche Hyacinthe, die Schlüsselblume und die Rose – auch Vögel zu beobachten, Fische, Ameisen, Würmer, Hasen oder Kaninchen, die wie ein Blitz über den fernen Waldpfad huschten und im Nu ihm aus dem Gesichte kamen; Millionen lebender Wesen, für die er sich interessirte und auf die er lauerte, nur um die Hände zusammenzuschlagen und in einen Jubelruf auszubrechen, wenn sie verschwunden waren. In Ermangelung dessen, oder wenn er einer solchen Beschäftigung überdrüssig war, konnte er noch nach dem lustigen Sonnenlichte jagen, wie es sich schräge durch Blätter und Baumzweige wand und sich weit unten versteckte – in tiefen, tiefen Höhlen – oder einem silberhellen Teiche, in dem sich die bückenden Zweige zu baden und zu necken schienen; dann gab es auch die süßen Düfte der über Bohnen- und Kleefelder wehenden Sommerluft; den Wohlgeruch des feuchten Landes und Mooses; das Leben wehender Bäume und stets wechselnder Schatten. War er ermattet – bisweilen geschah es auch im Uebermaaße seiner Lust – so schloß er die Augen, um einzuschlummern inmitten aller dieser sanften Genüsse; der leise Wind murmelte wie Musik in seinen Ohren und die ganze Umgebung schmolz in einen einzigen entzückenden Traum zusammen.

Ihre Hütte – denn man konnte sie kaum etwas Anderes nennen – stand an dem äußersten Ende des Städtchens, in kurzer Entfernung von der Landstraße, aber so abgeschlossen, daß sich das ganze Jahr durch nur selten ein Spaziergänger dahin verlor. Sie hatte nebenan ein Stückchen Gartengrund, welches Barnaby, wenn er gerade seine Arbeitslaune hatte, besorgte und in Ordnung hielt. Aber in und außer dem Hause war seine Mutter für ihr gemeinschaftliches Fortkommen thätig, ohne daß sie sich hierin durch Hagel, Regen, Schnee oder Sonnenschein stören ließ.

Obgleich so weit entfernt von dem Schauplatze ihres vergangenen Lebens, den sie nie wieder zu besuchen gedachte, schien sie doch ein sonderbares Verlangen zu tragen, von dem, was in der geschäftigen Welt vorging, Kunde zu erhalten. Mit Gier griff sie nach jeder alten Zeitung, oder nach jedem Fetzen, welche Nachrichten von London enthielten. Die Aufregung, die sie dabei empfand, war keineswegs erfreulicher Art, denn in ihrem ganzen Benehmen drückte sich dann Angst und Beklommenheit aus; aber demungeachtet blieb ihre Hast darauf stets dieselbe. Bei solchen Gelegenheiten und den stürmischen Winternächten, wenn der Wind heulte und tobte, konnte sich wieder der alte Ausdruck in ihrem Gesichte zeigen und sie in ein krampfhaftes Zittern verfallen, als wandelte sie ein Fieberfrost an. Barnaby achtete jedoch wenig darauf, und da sie sich nach Kräften zusammennahm, so hatte sie sich gewöhnlich wieder gefaßt, ehe dieser Wechsel seine Aufmerksamkeit auf sich zog.

Greif war keineswegs ein müßiges oder unnützes Mitglied der bescheidenen Haushaltung. Unter Barnaby's Schule und zum Theil auch durch eine seinem Geschlecht eigenthümliche Art von Selbstbelehrung und fleißige Uebung seiner Beobachtungsgabe hatte er einen so hohen Grad von Scharfsinn erworben, daß er auf mehrere Meilen im Umkreise berühmt wurde. Sein Conversationstalent und seine überraschenden Leistungen waren in Jedermanns Munde; und da viele Leute kamen, um den wunderbaren Raben zu sehen, so floß hieraus ein nicht unbeträchtlicher Beitrag zu dem Gesammtverdienste, denn Niemand ließ seine Anstrengungen unbelohnt, sofern er sich nämlich herabließ, seine Geschicklichkeit zu zeigen, was übrigens nicht jedesmal der Fall war, denn ein Genie ist immer grillenhaft. In der That schien auch der Vogel seinen Werth recht gut zu kennen; denn obgleich er sich in Gegenwart von Barnaby und seiner Mutter vollkommen zwanglos und ungenirt benahm, so behauptete er doch vor den Leuten eine erstaunliche Gravität und entwürdigte sich nie durch andere unentgeldliche Kunststücke, als daß er Knaben in die Knöchel biß (eine Leistung, die ihm besonders viel Vergnügen machte), hin und wieder ein paar Stücke Geflügel tödtete, oder unterschiedlichen Nachbarshunden ihr Mittagessen wegstipizte, denn auch die kühnsten derselben hatten Respekt und Furcht vor ihm.

So entschwand die Zeit, ohne daß Etwas vorfiel, um sie in dieser Lebensweise zu stören oder einen Wechsel darein zu bringen; und sie befanden sich eines Abends (es war Juni) in ihrem kleinen Garten, um von der Mühe des Tages auszuruhen. Die Wittwe hatte ihre Arbeit noch auf dem Knie und auf dem Boden umhergestreut, während Barnaby, auf seinem Spaten gelehnt, den prächtigen westlichen Himmel betrachtete und leise vor sich hin sang.

»Ein schöner Abend, Mutter! Wenn nur ein Bischen von dem Golde, das dort am Himmel aufgehäuft ist, in unseren Taschen klimperte, so wären wir reich für unser ganzes Leben.«

»'s ist besser so, wie es ist,« versetzte die Wittwe mit einem ruhigen Lächeln. »Wenn wir zufrieden sind, so brauchen wir uns nicht darnach zu sehnen, oder uns auch nur darum zu kümmern, selbst wenn es flimmernd zu unseren Füßen läge.«

»Ei ja!« sagte Barnaby, die gekreuzten Arme auf seinen Spaten stützend und sehnsüchtig nach der untergehenden Sonne hinschauend; »das mag Alles wahr seyn, Mutter; aber Gold ist doch etwas Gutes, wenn man's hat. Es wäre mir lieb, wenn ich wüßte, wo man's finden kann. Greif und ich, wir beide würden wohl wissen, was wir damit anfangen müßten – gewiß.«

»Nun, und was würdet ihr anfangen?« fragte sie.

»Was? Oh, unendlich viel. Wir würden uns schön kleiden – Euch und mich, meine ich, nicht den Greif – Pferde und Hunde halten, herrliche Bänder und Federn tragen, nicht mehr arbeiten und ganz gemächlich und gut leben. Oh, wir würden's wohl anbringen können, Mutter, und es käme uns gut zu Statten. Ich wollte, ich wüßte, wo Gold begraben liegt. Wie wollte ich schaufeln und arbeiten, um es herauszukriegen!«

»Du weißt nicht,« sagte die Mutter, indem sie von ihrem Sitze aufstand und sanft ihre Hand auf seine Schultern legte, »was die Menschen schon alles gethan haben, um es zu gewinnen, und wie sie erst, als es zu spät war, finden mußten, daß es von ferne am hellsten glänzt, aber ganz trüb und dunkel wird, wenn man es in den Händen hat.«

»Nun ja; du sagst nur so und bildest dir's so ein,« antwortete er, noch immer begierig in dieselbe Richtung blickend. »Jedenfalls aber möchte ich's einmal versuchen, Mutter.«

»Siehst du nicht« sagte sie, »wie roth es ist? An Nichts kleben so viele Blutflecken, als an dem Golde. Hüte dich davor. Niemand hat mehr Grund, es zu hassen, als wir. Denke nicht so viel daran, mein Lieber. Wenige können sich denken, wie viel Elend und Leiden es über dein und mein Haupt gebracht hat, und gebe Gott, daß nur Wenige Aehnliches erleben müssen. Ich wollte lieber, wir wären todt und lägen im Grabe, als daß ich denken müßte, du kämest je so weit, es zu lieben.«

Barnaby wandte sich für einen Augenblick um und schaute seine Mutter verwundert an. Dann sah er von dem rothen Himmel auf das Mal an seinem Handgelenke, als wollte er Beides vergleichen, und war dann augenscheinlich im Begriff, seiner Mutter eine ernste Frage zu stellen, als ein neuer Gegenstand seine unstäte Aufmerksamkeit fesselte und ihn den früheren Gedanken ganz vergessen ließ.

Dieser war ein Mann mit staubigen Füßen und Kleidern, der mit entblöstem Haupte hinter der den Gartenzaun von dem Fußwege trennenden Hecke stand und sich demüthig vorwärts beugte, als wünschte er, sich in ihre Unterhaltung zu mischen, und ersähe er blos die Gelegenheit, einzufallen. Sein Gesicht war gleichfalls auf das glänzende Abendroth geheftet, aber das einfallende Licht bekundete, daß er blind war und es nicht sehen konnte.

»Gottes Segen über diese Stimmen!« begann der Wanderer. »Ich fühle die Schönheit des Abends weit eindringlicher, wenn ich solche Laute höre. Sie dienen mir statt der Augen. Wollt Ihr nicht wieder sprechen und das Herz eines armen Reisenden erfreuen?«

»Habt Ihr keinen Führer?« fragte die Wittwe nach einer kurzen Pause.

»Keinen als diese dort,« antwortete er, mit seinem Stab nach der Sonne deutend, »und hin und wieder des Nachts auch einen milderen; aber der ist jetzt unthätig.«

»Habt Ihr einen weiten Weg gemacht?«

»Wohl einen weiten und mühsamen,« versetzte der Wanderer mit einem Kopfschütteln. »Ja, einen mühevollen, sehr mühevollen Weg. Ich bin mit meinem Stock eben auf den Eimer Eures Brunnens gestoßen – wollt Ihr wohl so gut seyn, mich mit einem Trunk Wasser zu erquicken, Lady!«

»Warum nennt Ihr mich Lady?« entgegnete sie. »Ich bin so arm als Ihr.«

»Eure Sprache ist weich und sanft, und nach diesen richtet sich mein Urtheil,« erwiederte der Mann. »Der gröbste Stoff und der feinste Seidenzeug ist für mich ganz dasselbe, wenn ich nicht den Gefühlssinn zu Hilfe rufe. Ich kann Euch nicht nach Eurem Anzug schätzen.«

»Kommt hier herum,« sagte Barnaby, der zu dem Gartenthor hinausgegangen war und jetzt dicht neben dem Fremden stand. »Reicht mir Eure Hand. Ihr seyd blind und stets im Dunkeln, he? Fürchtet Ihr Euch nicht im Finstern? Seht Ihr jetzt nicht große Haufen von Gesichtern, die grinsen und die Zähne fletschen?«

»Leider sehe ich nichts,« versetzte der Andere, »weder im Wachen, noch im Schlafen.«

Barnaby betrachtete neugierig seine Augen, befühlte sie, wie ein neugieriges Kind, mit den Fingern, und führte ihn nach der Hütte.

»Wenn Ihr so weit herkommt,« sagte die Wittwe, indem sie ihn an der Thüre empfing, »wie habt Ihr's nur angegriffen, den Weg zu finden?«

»Gewohnheit und Nothwendigkeit sind gute Lehrer – die allerbesten, habe ich mir sagen lassen,« entgegnete der Blinde, indem er sich auf den Stuhl niederließ, nach welchem ihn Barnaby geführt hatte, und Hut und Stock auf den rothen Backsteinboden legte; »aber 's ist eine rauhe Schule. Gebe Gott, daß weder Ihr noch Euer Sohn je darin lernen muß.« –

»Auch seyd Ihr von der Straße abgekommen,« sagte die Wittwe im Tone des Mitleids.

»Kann seyn, kann seyn!« erwiederte der blinde Mann mit einem Seufzer, aber doch mit einer Art von Lächeln in seinem Gesichte; »'s ist leicht möglich. Wegweiser und Meilensteine sind freilich stumm gegen mich. Um so mehr danke ich Euch für die Ruhe, die Ihr mir gönnt, und für diesen erfrischenden Trunk.«

Mit diesen Worten erhob er den Wasserkrug zu seinem Munde. Der Inhalt war klar, kalt und frisch, schien aber demungeachtet nicht nach seinem Geschmacke zu seyn – wenigstens war sein Durst nicht sonderlich, denn er benetzte nur die Lippen und setzte ihn wieder nieder.

Er trug an einem langen um den Hals geschlungenen Riemen eine Art Tasche oder Felleisen, um Lebensmittel mitzuführen. Die Wittwe setzte ihm etwas Brot und Käse vor; er dankte jedoch und sagte, daß die Güte menschenfreundlicher Leute ihn heute schon einmal gespeist habe und er nicht hungrig sey. Dann öffnete er seine Reisetasche und nahm ein paar Pence heraus, aus denen ihr ganzer Inhalt zu bestehen schien.

»Darf ich mich wohl unterfangen, zu bitten,« sagte er, indem er sich in die Richtung wandte, wo Barnaby stand und zuschaute, »daß Jemand, der die Gabe des Gesichtes hat, mir für dieses Geld Brot auf meinen Weg kaufe? Des Himmels Segen auf die jungen Füße, die sich bemühen wollen, einem hülflosen, blinden Mann Beistand zu leisten.«

Barnaby sah seine Mutter an, welche ihm bejahend zuwinkte. Im nächsten Augenblicke war er fort, um diesen Auftrag der Barmherzigkeit zu erfüllen. Der blinde Mann horchte mit aufmerksamem Gesichte, bis die Fußtritte des sich Entfernenden der Wittwe nicht mehr hörbar seyn konnten, und sprach dann plötzlich mit ganz veränderter Stimme:

»Es gibt verschiedene Arten und Grade von Blindheit, Wittwe. Da ist die eheliche Blindheit. Ma'am, die Ihr vielleicht im Laufe Eurer eigenen Erfahrung kennen gelernt habt, und die eine Art von eigensinniger, sich selbst die Augen verbindender Blindheit ist. Dann die Blindheit der Parteisucht und der öffentlichen Meinung: diese ist die Blindheit eines tollen Stiers in der Mitte eines Regiments rothröckiger Soldaten. Dann die blinde Zuversicht der Tugend: sie ist die Blindheit eines jungen Kätzchens, wie es auf die Welt kömmt. Und endlich die physische Blindheit, Ma'am, von der ich, ganz gegen meinen Wunsch, ein sprechendes Beispiel bin. Fügt hier noch jene Blindheit des Verstandes bei, Ma'am, von der Ihr ein Pröbchen an Eurem interessanten Sohn habt, und der man kaum wie einer totalen Finsterniß trauen kann, da in ihr bisweilen ein Lichtblick oder Morgenroth auftaucht. Ich habe mir daher die Freiheit genommen, Ma'am, ihn für eine kleine Weile aus dem Weg zu schaffen, um mich mit Euch ungestört benehmen zu können. Ich weiß, Ihr werdet mich entschuldigen, Ma'am, da diese Vorsichtsmaßregel nur aus meinem Zartgefühl gegen Euch entspringt.«

Nachdem er sich dieser Rede mit vielen Gestikulationen entledigt hatte, zog er unter seinem Rocke eine flache, steinerne Flasche hervor, öffnete den Kork mit den Zähnen und goß eine reichliche Portion des darin enthaltenen Branntweins in seinen Wasserkrug, den er höflich auf ihre und aller Frauen Gesundheit mit einem Zuge leerte und, ungemein behaglich mit den Lippen schmatzend, wieder niedersetzte.

»Ich bin ein Weltbürger, Ma'am,« sagte der Blinde, die Flasche wieder zustöpselnd, »und wenn ich mich etwas frei zu benehmen scheine, so ist das nur so eine Mode in der Welt; Ihr möchtet wohl wissen, wer ich bin, Ma'am, und was mich herführt? Erfahrungen, wie ich sie in Bezug auf die menschliche Natur gemacht habe, führen mich zu diesem Schlusse, ohne daß ich der Augen dazu bedürfte, um in Euren weiblichen Gesichtszügen die Bewegungen Eurer Seele zu lesen. Ich will Eure Neugierde sogleich zufriedenstellen, Ma'am;sogleich,«

Dabei klopfte er auf die breite Fläche seiner Flasche, verbarg sie, wie zuvor, wieder unter seinem Rock, kreuzte die Beine, legte die Hände zusammen und machte sich's in seinem Stuhle bequem, ehe er fortfuhr.

Der Wechsel in seinem Benehmen war so unerwartet, sein verschmitztes und unverhülltes Wesen bei seiner Blindheit so befremdend – denn wir sind gewöhnt, an Menschen, die einen ihrer Sinne verloren haben, statt dessen fast etwas Göttliches zu sehen, und diese Umänderung versetzte die Angeredete so in Furcht, daß sie keine Sylbe hervorbringen konnte. Nachdem der Fremde, wie es schien, eine Zeitlang vergeblich auf eine Gegenrede oder Antwort gewartet hatte, fuhr er fort:

»Ma'am, ich heiße Stagg. Ein Freund von mir, der seit fünf Jahren nach der Ehre getrachtet hat, Euch wieder einmal zu sehen, hat mich beauftragt, Euch zu besuchen. Es soll mich freuen, Euch den Namen dieses Gentlemans in's Ohr zu flüstern. – Der Tausend, Ma'am, seyd Ihr taub? Hört Ihr mich denn nicht sagen, daß es mir eine Freude machen wird, Euch den Namen meines Freundes in's Ohr zu flüstern?«

»Ihr braucht ihn nicht zu nennen,« sagte die Wittwe mit einem erstickten Stöhnen; »ich sehe nur zu gut, wer Euch schickt.«

»Aber als Mann von Ehre, Ma'am,« entgegnete der Blinde, indem er sich auf die Brust schlug, »dessen Beglaubigung keinem Zweifel unterliegen darf, nehme ich mir die Freiheit. Euch zu sagen, daß ich den Namen dieses Gentleman nennen will. Ja, ja,« fügte er bei, indem er mit seinem raschen Ohr sogar die Bewegung ihrer Hand aufzufangen schien. »aber nicht laut. Mit Eurem Wohlnehmen. Ma'am, ich erbitte mir die Gunst, es Euch zuflüstern zu dürfen.«

Sie trat auf ihn zu und beugte sich nieder. Er sagte ihr ein Wort in's Ohr, worauf sie, händeringend und wie eine Verrückte, im Zimmer auf- und abging. Der Blinde brachte mit vollkommener Fassung seine Flasche wieder zum Vorschein, besorgte sich eine neue Mischung, steckte sie, wie zuvor, wieder ein und sprach von Zeit zu Zeit dem Getränke zu, dabei aber immer schweigend ihr mit dem Gesichte folgend.

»Ihr seyd eine flaue Gesellschafterin, Wittwe,« sagte er nach einer Weile, den Krug absetzend. »Wir werden zuletzt vor Eurem Sohne sprechen müssen.«

»Was wollt Ihr eigentlich von mir?« entgegnete sie, »Was könnt Ihr von mir verlangen?«

»Wir sind arm, Wittwe, wir sind arm,« erwiederte er, indem er seine Hand ausstreckte und den Daumen auf seiner Handfläche rieb.

»Arm?« rief sie. »Und was bin denn ich?«

»Vergleichungen sind gehässig,« sagte der blinde Mann. »Ich weiß es nicht und kümmere mich auch nicht darum. Ich sage, wir sind arm. Mein Freund ist in keinen günstigen Verhältnissen und ich deßgleichen. Wir müssen unsere Rechte haben, Wittwe, oder man muß sich mit uns abfinden. Aber Ihr wißt dieß so gut als ich; was braucht's da viel Redens?«

Sie ging noch immer in der äußersten Verwirrung hin und her. Endlich machte sie plötzlich vor ihm Halt und fragte:

»Ist er in der Nähe?«

»Ja. Ganz dicht bei der Hand.«

»Dann bin ich verloren!«

»Nicht verloren, Wittwe,« sagte der blinde Mann ruhig; »nur gefunden. Soll ich rufen?«

»Nicht um die Welt,« antwortete sie mit einem Schauder.

»Sehr gut,« versetzte er, die Beine wieder übereinanderlegend, denn er hatte sich bereits angeschickt, aufzustehen und nach der Thüre zu gehen; »ganz nach Eurem Belieben, Wittwe. Ich wüßte nicht gerade, wozu seine Gegenwart nöthig wäre. Aber er und ich, wir Beide müssen leben; um zu leben, müssen wir essen und trinken, und zum Essen und Trinken müssen wir Geld haben: – ich sage nicht weiter.«

»Wißt Ihr auch, wie elend und kümmerlich ich daran bin?« entgegnete sie. »Ich glaube nicht, daß Ihr es wißt oder wissen könnt. Wenn Ihr Augen hättet, um Euch in dieser armseligen Hütte umsehen zu können, so würdet Ihr Mitleid mit mir haben. Oh! möge Euer eigenes Unglück Euer Herz weicher stimmen, Freund, damit Ihr Erbarmen haben möget mit dem meinigen.«

Der blinde Mann schnippte mit den Fingern, indem er erwiederte:

»Darum handelt sich's jetzt nicht, Ma'am, ganz und gar nicht. Ich habe das weichste Herz von der Welt, aber ich kann nicht davon leben. Mancher Gentleman lebt wohl von einem schwachen Kopfe, aber ein Herz von gleicher Beschaffenheit würde ein gewaltiger Hemmstein für ihn seyn. Hört mir zu. Wir benehmen uns hier über eine Geschäftssache, bei der Mitleid und Gefühle nichts zu schaffen haben. Als Euer wechselseitiger Freund wünsche ich, die Sache so befriedigend als möglich zu arrangiren; und so steht einmal die Sachlage. – Wenn Ihr jetzt arm seyd, so habt Ihr selbst es so gewollt; denn Ihr habt Freunde, die für den Nothfall bereit sind, Euch zu helfen. Mein Freund ist in einer hülfloseren, verlasseneren Lage, als die meisten Menschen, und da Ihr Beide in einer gemeinschaftlichen Sache zusammengekettet seyd, so versieht er sich ganz natürlich Eures Beistandes. Er hat lange Zeit bei mir gewohnt und gegessen (denn wie ich vorhin sagte, ich habe ein sehr weiches Herz), und ich kann seiner derfallsigen Ansicht nur Beifall zollen. Ihr habt immer ein Dach über Eurem Haupte gehabt – er war stets ausgestoßen. Ihr habt Euren Sohn, um Euch zu trösten und beizustehen – er hat auf der ganzen Gotteswelt Niemand. Die Vortheile dürfen nicht blos auf der einen Seite liegen, Ihr seyd in demselben Boote, und wir müssen den Ballast ein wenig gleicher vertheilen.«

Sie wollte sprechen, er ließ sie jedoch nicht zum Worte kommen und fuhr fort:

»Die einzige Weise, dieß zu thun, besteht darin, daß Ihr hin und wieder für meinen Freund eine kleine Börse zusammenmacht, und dazu möchte ich Euch rathen. Ich wüßte nicht, Ma'am, daß er Euch einen Groll nachtrüge – so wenig sogar, daß ich wohl sagen kann, er hat, obgleich Ihr ihn mehr als einmal hart behandelt und aus dem Hause getrieben habt, noch so viel Liebe für Euch, daß ich glaube, er würde, selbst wenn Ihr ihn auch jetzt in seiner Noth stecken ließet, sich heranlassen, Euren Sohn in seine Obhut zu nehmen, um einen Mann aus ihm zu machen.«

Er legte einen großen Nachdruck auf die letzteren Worte und hielt jetzt inne, um sich zu überzeugen, welche Wirkung sie hervorgebracht hatten. Sie konnte blos durch ihre Thränen antworten.

»Der Junge würde für allerhand Dinge taugen,« sagte der blinde Mann nachdenkend, »und wenn ich nach dem urtheilen darf, was ich ihn diesen Abend sprechen hörte, so ist er auch durchaus nicht abgeneigt, sein Glück in ein wenig Wechsel und Rührigkeit zu versuchen. – Je nun, mit einem Worte, mein Freund muß durchaus zwanzig Pfund haben. Eine Person, die einen Jahrgehalt aufzugeben im Stande ist, kann nicht um diese Summe für ihn verlegen seyn. Es wäre Schade, wenn Ihr beunruhigt werden müßtet. Ihr scheint hier sehr gemächlich zu sitzen, und es ist wohl Geldeswerth, in einer solchen Lage zu verbleiben. Zwanzig Pfund, Wittwe, ist ein mäßiger Preis. Ihr wißt, wohin Ihr Euch darum zu wenden habt – die nächste Post wird's Euch bringen. Zwanzig Pfund!«

Sie wollte wieder etwas entgegnen, aber er kam ihr abermals zuvor.

»Sprecht nichts Uebereiltes; Ihr könntet es hintendrein bereuen. Denkt ein Bischen drüber nach – zwanzig Pfund – von andrer Leute Geld – wie leiht! Erwägt Euch die Sache reiflich, ich habe keine Eile. Die Nacht bricht herein, und wenn ich auch hier nicht schlafe, so finde ich doch ganz in der Nähe ein Unterkommen. Zwanzig Pfund! Ihr mögt Euch zwanzig Minuten darüber besinnen. Ma'am – für jedes Pfund eine Minute; das ist ein schönes Zugeständniß. Ich will mich inzwischen an der frischen Luft erholen, die gar mild und angenehm in dieser Gegend ist.«

Nach diesen Worten nahm er seinen Stuhl auf und tappte sich damit nach der Thüre. Dann setzte er sich unter einem Gaisblattstrauch nieder, streckte seine Beine quer über die Schwelle, so daß Niemand ohne sein Vorwissen ein- oder ausgehen konnte, nahm Pfeife, Stein, Stahl und Zünder aus der Tasche, und fing an zu rauchen. Es war ein lieblicher Abend und gerade jene Jahreszeit, wo die Dämmerung am schönsten ist. Hin und wieder hielt er inne, um die Rauchwolken hinschwinden zu lassen und den herrlichen Duft der Blumen zu athmen; und so machte er sich's bequem, als wäre die Hütte seine eigene Wohnung, die er sein ganzes Leben über unbestritten besessen – auf die Antwort der Wittwe und auf Barnaby's Rückkehr wartend.



 << zurück weiter >>