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Achtundsiebenzigstes Kapitel.

An demselben Tage und ungefähr um dieselbe Stunde saß Herr Joe Willet, der Aeltere, seine Pfeife rauchend, in einer Stube des schwarzen Löwen. Trotz des heißen Sommerwetters hatte er sich doch dicht neben das Feuer gemacht. Er war, wie er meinte, in einem Zustande tiefen Nachdenkens, und zu solchen Zeiten pflegte er sich gerne langsam zu schmoren, glaubend, dieser Kochprozeß sey dem Ausschmelzen seiner Ideen günstig, die, wenn sie einmal flüssig zu werden begannen, bisweilen so reichlich übersprudelten, daß er selbst darüber erstaunte.

Herr Willet hatte etliche tausendmale von seinen Freunden und Bekannten den Trost erhalten, daß der Verlust, den er bei Beschädigung des Maibaums erlitten, der Grafschaft anheim fallen dürfte. Da jedoch diese Phrase zufälligerweise eine unglückliche Aehnlichkeit mit dem populären Ausdruck »dem Kirchspiel anheimfallen« hatte, so sah Herr Willet darin keine erfreulicheren Aussichten, als eine Verarmung im ausgedehntesten Grade und den schrecklichsten Verfall. Er verfehlte daher nie, derartige Tröstungen mit einem kläglichen Kopfschütteln oder einem traurigen Glotzen hinzunehmen, wie er denn auch stets nach einem Condolenzbesuch weit melancholischer war, als zu jeder andern Zeit der vierundzwanzig Tagesstunden.

Es trug sich jedoch zu, daß, als er bei der genannten Gelegenheit neben dem Feuer saß – vielleicht, weil er, so zu sagen, halb gar war, vielleicht, weil er sich in einer ungemein hellen Geistesstimmung befand, vielleicht, weil er schon so lange über den Gegenstand nachgedacht hatte, oder vielleicht, weil alle diese Umstände zusammenwirkten – mit einem Worte, es trug sich zu, daß Herr Willet, als er bei diesem besondern Anlasse neben dem Feuer saß, weit ab und in den tiefsten Tiefen seines Verstandes eine Art von geheimem Wink oder eine schwache Andeutung erkannte, es könnten vielleicht die öffentlichen Kassen die Mittel vorschießen, um den Maibaum wieder in seine frühere hohe Stellung unter den Wirthshäusern der Erde zu versetzen. Und dieser unsichere Lichtstrahl verbreitete sich in seinem Innern, zündete und loderte endlich so hell auf, daß er ihm endlich eben so klar und deutlich wurde, als die Flamme neben ihm; und in der festen Ueberzeugung, daß diese Entdeckung von ihm zuerst gemacht werde und daß er eine vollkommen originelle Idee, die nie zuvor einem andern Manne, lebenden oder todten, eingefallen sey, aufgetrieben, gehetzt, erlegt und auf den Kopf geschlagen habe, legte er seine Pfeife nieder, rieb sich die Hände und kicherte hörbar.

»Ei, Vater!« rief Joe, der in diesem Augenblicke eintrat. »Ihr seyd ja heute recht guter Dinge!«

»'s ist nichts Besonderes,« sagte Herr Willet, abermals kichernd; »'s ist nichts Besonderes, Joseph. Erzähle mir Etwas von den Salvanners.«

Nachdem Herr Willet diesen Wunsch ausgesprochen hatte, kicherte er zum dritten Male – wirklich ungewöhnliche Demonstrationen von Herzensleichtigkeit – und steckte seine Pfeife wieder in den Mund.

»Was soll ich Euch erzählen, Vater?« fragte Joe, die Hand auf die Schulter seines Erzeugers legend und auf dessen Gesicht hinunterblickend. »Daß ich zurückgekommen bin ärmer, als eine Kirchenmaus? Das wißt Ihr. Daß ich heimkehrte, verstümmelt und zum Krüppel geworden? Auch das ist Euch nichts Neues.«

»Er wurde abgenommen,« murmelte Herr Willet, auf das Feuer blickend, »bei der Vertheidigung der Salvanners in Amerika, wo der Krieg ist.«

»Ganz recht,« entgegnete Joe lächelnd und den noch vorhandenen Ellbogen auf die Lehne von seines Vaters Stuhl stützend; »ich komme, um gerade über diesen Gegenstand mit Euch zu sprechen. Ein Mann mit Einem Arme, Vater, paßt nicht besonders in das geschäftige Treiben der Welt.«

Dieß war eine von jenen ungeheuren Behauptungen, über die Herr Willet noch keinen Augenblick nachgedacht hatte und daher einiger Zeit bedurfte, um darüber »anbinden« zu können. Er blieb daher vor der Hand die Antwort schuldig.

»Jedenfalls,« fuhr Joe fort, »stehen ihm nicht die Mittel zu Gebote, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, zu denen ein anderer Mann seine Zuflucht nehmen kann. Er kann nicht sagen: ›ich will es mit Diesem versuchen,‹ oder: ›ich will mich mit Jenem nicht befassen,‹ sondern muß eben nehmen, was er thun kann, und auch für das Geringste dankbar seyn. – Was habt Ihr gesagt?«

Herr Willet hatte nämlich leise und im Tone des Nachsinnens die Worte »Vertheidigung der Salvanners« vor sich hingesprochen, schien aber durch den Umstand, daß er gehört worden war, in Verlegenheit versetzt worden zu seyn und antwortete daher:

»Nichts.«

»Nun, schaut einmal, Vater. – Herr Edward ist aus Westindien nach England zurückgekommen. Als er England verließ (es geschah an demselben Tage mit mir, Vater), machte er eine Reise nach einer der Inseln, wo sich einer seiner Schulkameraden angesiedelt hatte, und nachdem er ihn aufgefunden, war er nicht zu stolz, sich auf dessen Besitzthum beschäftigen zu lassen; und – und mit einem Worte, es ging ihm gut; er befindet sich in glücklichen Verhältnissen und ist wegen eigener Geschäftsangelegenheiten,wieder nach England gekommen, kehrt aber bald wieder nach Westindien zurück. Unsere fast gleichzeitige Ankunft im Vaterlande und unser Zusammentreffen während der bürgerlichen Unruhen ist jedenfalls ein günstiger Zufall gewesen, denn er hat uns nicht nur in den Stand gesetzt, alten Freunden einen Dienst zu leisten, sondern auch mir einen Lebensweg geöffnet, den ich betreten kann, ohne Euch zur Last zu fallen. Offen gesprochen, Vater, er kann mich beschäftigen; ich habe mich überzeugt, daß ich ihm wirklich von Nutzen sein kann, und so will ich denn meinen Einen Arm weiter tragen und sehen, was ich mit ihm ausrichten kann.«

Nun war aber in Herrn Willet's geistigem Auge Westindien, wie überhaupt alle fremden Länder, von wilden Nationen bewohnt, die ohne Unterlaß Friedenspfeifen begruben, Tomahawks schwenkten und wunderliche Figuren auf ihre Haut punktirten. Er hatte daher kaum diese Ankündigung vernommen, als er sich in seinem Stuhl zurücklehnte, die Pfeife aus seinem Munde nahm und seinen Sohn mit einem solchen Entsetzen anglotzte, als stünde derselbe bereits an den Marterpfahl gebunden, um zur Unterhaltung einer lebenslustigen Bevölkerung gefoltert zu werden. In welcher Ausdrucksweise seine Gefühle sich Luft gemacht haben würden, vermögen wir nicht zu sagen. Auch ist dieß unnöthig, denn ehe noch eine Sylbe ihren Weg zu seinen Lippen fand, kam Dolly Varden, mit Thränen in den Augen, in das Zimmer geeilt, warf sich ohne weitere Einleitung an Joe's Brust und schlang ihre weißen Arme um seinen Nacken.

»Dolly!« rief Joe. »Dolly!«

»Ja, nennt mich so; nennt mich immer so,« rief des Schlossers Töchterlein; »sprecht nicht mehr so kalt und abgemessen mit mir. Tadelt mich nicht mehr für die Thorheiten, die ich längst bereut habe, oder es wird mein Tod seyn.«

» Ich Euch tadeln?« entgegnete Joe.

»Ja – denn jedes freundliche und ehrliche Wort, das Ihr ausspracht, schnitt mir durch's Herz. Daß Ihr, der Ihr so viel von mir ertragen habt – daß Ihr, der Ihr meiner Grillenhaftigkeit alle Eure Leiden und Schmerzen verdankt – daß Ihr so freundlich – so edel gegen mich sein könnt, Joe.«

Er konnte nichts darauf erwiedern – nicht eine Sylbe. Es lag übrigens eine eigenthümliche Art von Beredsamkeit in seinem Einen Arme, den er um ihren Leib schlang, obgleich seine Lippen stumm blieben.

»Wenn Ihr mich nur durch ein Wort – durch ein einziges kurzes Wort erinnert hättet,« schluchzte Dolly, sich inniger an ihn anklammernd; »ach, wie wenig verdiente ich um Euch diese nachsichtige Behandlung! Wenn Ihr nur ein einzigesmal in Eurem Triumph frohlockt hättet, so würde ich es leichter ertragen haben.«

»Triumph?« wiederholte Joe mit einem Lächeln, welches zu sagen schien: »ich hätte eine passende Figur dazu.«

»Ja, Triumph,« rief sie, und ihre Thränen strömten reichlicher, indeß ihr ganzes Herz und ihre ganze Seele in dem Tone ihrer Stimme lagen; »denn es ist ein Triumph. Ich freue mich der Ueberzeugung, daß es so ist. Ich würde nicht weniger gedemüthigt seyn, mein Lieber; ich könnte unserer letzten Unterredung an diesem Orte nicht vergessen – nein, und wenn ich die Vergangenheit zurückrufen und unsere Trennung zu einer von gestern machen könnte.«

Sah je ein Liebhaber aus, wie Joe jetzt aussah?

»Theater Joe,« sagte Dolly, »ich habe Euch immer geliebt – Ihr wohntet stets in meinem Herzen, obgleich ich so eitel und thöricht war. Ich hoffte, Ihr würdet denselben Abend zurückkommen. Ich war vollkommen überzeugt, daß Ihr wiederkommen müßtet, und betete auf meinen Knieen darum. Durch alle diese langen, langen Jahre habe ich nicht ein einzigesmal Eurer vergessen oder zu hoffen aufgehört, daß diese glückliche Zeit einmal eintreffen werde.«

Die Beredsamkeit von Joe's Arm übertraf die leidenschaftlichste Sprache; das Gleiche war auch mit seinen Lippen der Fall – obgleich sie keine Sylbe laut werden ließen.

»Und nun endlich,« rief Dolly, unter der Glut ihrer Worte erbebend, »wenn Ihr krank wäret und alle Eure Glieder verstümmelt; wenn Ihr siech, schwach und elend, wenn Ihr, statt was Ihr jetzt seyd, in aller Anderer Augen nur ein Trümmerhaufen, eine Ruine von einem Mann wäret, so würde ich doch mit weit größerem Stolz und mit innigerer Freude an Eurer Hand vor den Altar treten, als mit dem stattlichsten Lord in ganz England.«

»Was habe ich gethan,« rief Joe, »was habe ich gethan, um einen solchen Lohn zu verdienen?«

»Durch Euch habe ich mich selbst und Euren Werth kennen gelernt,« sagte Dolly, ihr hübsches Gesicht zu dem seinigen erhebend; »Ihr lehrtet mich besser zu werden, als ich war, und mich Eures treuen und männlichen Charakters würdiger zu machen. Ihr werdet in kommenden Jahren finden, theurer Joe, daß es wahr ist; denn ich will nicht nur jetzt in den Tagen Eurer Jugend und Hoffnungsfülle, sondern auch, wenn Ihr alt und gebrechlich werdet, Euer geduldiges, sanftes, nie ermüdendes Weib seyn. Ihr und der stille Frieden der Häuslichkeit soll mein einziger Wunsch, meine einzige Sorge seyn, und stets will ich mir Mühe geben, Euch mit der innigsten und aufopferndsten Liebe zu erfreuen. O gewiß, gewiß – das will ich!«

Joe konnte nur in seiner früheren Beredsamkeit fortfahren – doch diese war eben so sachgemäß.

»Man weiß zu Hause Alles« sagte Dolly. »Um Euretwillen wollte ich selbst meine Eltern verlassen; aber sie wissen es, freuen sich darüber und sind in ihrem dankerfüllten Herzen eben so stolz auf Euch, als ich es bin. – Du willst nicht zu mir kommen und mich als ein alter Freund besuchen, der mich kannte, als ich noch ein Mädchen war, nicht wahr?«

Nun, es liegt nicht viel daran, wie Joe's Antwort lautete; aber er wußte sehr viel zu sagen, und Dolly deßgleichen; und er schloß Dolly recht fest in seinen Einen Arm, natürlich, weil es nur ein einziger war, und Dolly leistete keinen Widerstand; und wenn zwei Leutchen auf dieser Welt – die, trotz aller ihrer Mängel, doch nicht so ganz zu verachten ist – glücklich waren, so können wir dieß mit aller Wahrscheinlichkeit von diesem Pärchen annehmen.

Wenn wir sagten, daß während dieser Vorgänge Herr Willet der Aeltere die höchsten Symptome des Erstaunens an den Tag legte, deren unsere Natur im Allgemeinen möglicherweise fähig ist – wenn wir sagten, daß er sich in einer vollkommenen Geisteslähmung befand, und daß er sich in die ungeheuersten und daher fast unerreichbaren Höhen der Verwunderung verstieg – so hieße dieß den Zustand seines Gemüths nur in den schwächsten und dürftigsten Abschattungen zeichnen. Wenn ein Vogel Roc, ein Adler, ein Greif, ein fliegender Elephant oder ein mit Schwingen versehenes Seepferd plötzlich erschienen wäre, ihn auf seinen Rücken genommen und ihn mit Haut und Haaren mitten in's Herz der »Salvanners« getragen hätte, so wäre das nur ein Alltagsbegebniß gewesen in Vergleichung mit dem, welches er jetzt erblickte. Ruhig da zu sitzen und all' dieß sehen und hören zu müssen: gänzlich vernachlässigt und hintangesetzt zu werden, während sein Sohn und eine junge Dame in der leidenschaftlichsten Weise mit einander sprachen, sich küßten und in jeder Hinsicht thaten, als ob sie zu Hause wären – dieß war eine so entsetzliche, unerklärliche und sein Begriffsvermögen so himmelweit überbietende Lage, daß er in eine eigentliche Lethargie von Verwunderung versank, aus der er sich eben so wenig aufzuraffen vermochte, als ein verzauberter Schläfer in dem ersten Jahre seines für ein Jahrhundert ausgesprochenen Feenbannes.

»Vater,« begann Joe, indem er Dolly vorstellte. »Ihr wißt, wer dieß ist?«

Herr Willet schaute zuerst sie, dann seinen Sohn und dann wieder Dolly an, worauf er einen erfolglosen Versuch machte, eine Wolke aus seiner Pfeife zu blasen, welche längst ausgegangen war.

»Sagt nur ein Wort, Vater, wäre es auch weiter Nichts, als ein ›Grüß Gott,‹« drängte Joe.

»Gewiß, Joseph,« antwortete Herr Willet. »O ja! Warum nicht?«

»Natürlich« sagte Joe. »Warum nicht?«

Und mit dieser Bemerkung, die er leise vor sich hinsprach, als beriethe er irgend eine ernste Frage mit sich selbst, bediente er sich des kleinen Fingers seiner rechten Hand – wenn man anders einen seiner Finger klein nennen konnte – als eines Pfeifenstopfers und verstummte abermals.

Und so blieb er mindestens eine halbe Stunde sitzen, obgleich Dolly mit den liebevollsten Geberden wohl ein dutzendmal ihre Hoffnung ausdrückte, er werde ihr doch nicht böse seyn. Diese ganze Zeit über war er ganz regungslos, auf und nieder wie ein großer Kegelkönig aussehend. Nach Ablauf dieser Periode brach er, zur großen Bestürzung der jungen Leute, plötzlich und ohne die mindeste Urkunde in ein sehr lautes und sehr kurzes Lachen aus, worauf er die Worte wiederholte: »Gewiß, Joseph. O ja! Warum nicht?« und dann die Stube verließ, um einen Spaziergang zu machen.



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