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Zweiundsechzigstes Kapitel.

Sobald der Gefangene allein war, setzte er sich auf seine Bettstelle nieder, stützte die Ellenbogen auf seine Kniee, das Kinn auf seine Hände und verblieb mehrere Stunden in dieser Haltung. Es würde schwer seyn, zu sagen, mit welcherlei Gedanken er sich beschäftigte. Sie hatten keinen bestimmten Gegenstand und, etwa einige aufzuckende Erinnerungen ausgenommen, auch keinen Bezug auf seine Lage oder die Verkettung der Umstände, die ihn hieher geführt hatten. Die Spalten in dem Pflaster seiner Zelle, die Ritzen in der Mauer, wo ein Stein sich in den andern fügte, die Stangen in dem Fenster, der Eisenring auf dem Boden – derartige Dinge, seltsam sich kreuzend und ein unbeschreibliches Interesse weckend, nahmen seinen ganzen Geist in Anspruch; und obgleich im Hintergrunde eines jeden Gedanken ein unruhiges Gefühl von Schuld und die Furcht vor dem Tode lauerte, so war sein Selbstbewußtseyn doch nicht klarer, als das eines schlafenden Kranken, seinen Leiden gegenüber. Sie verfolgen ihn durch seine Träume, nagen an dem Herzen aller seiner eingebildeten Freuden, rauben dem Festmahle seinen Hochgenuß, der Musik ihre Süßigkeit, machen die Wonne selbst zu einer Unlust und sind doch keine körperlichen Empfindungen, sondern nur ein formloses Phantom, ohne erkennbares Daseyn – Alles durchdringend, aber ohne eigentliche Existenz; allenthalben erkennbar, aber nirgends zu sehen, zu fühlen oder nahe tretend, bis der Schlaf vorüber ist und der wachende Schmerz zurückkehrt.

Nach einer geraumen Weile öffnete sich die Thüre seiner Zelle. Er schaute auf, sah den blinden Mann eintreten und sank wieder in seine frühere Haltung zurück.

Durch den Athem des Anderen geleitet, trat der Besucher näher, machte an seiner Seite Halt, streckte seine Hand aus, um sich zu überzeugen, daß er nicht irre und blieb lange schweigend stehen.

»Das ist schlimm, Rudge. Das ist schlimm,« sagte er endlich.

Der Gefangene scharrte, während er seinen Körper abwendete, mit den Füßen auf dem Boden, gab aber keine weitere Antwort.

»Wie seyd Ihr aufgegriffen worden?« fragte er. »Und wo? Ihr habt mir nie mehr, als die Hälfte Eures Geheimnisses mitgetheilt. Doch gleichviel; ich weiß es jetzt. Wie ging es zu, und wo, he?« fragte er wieder, noch näher herankommend.

»In Chigwell,« sagte der Andere.

»In Chigwell? Wie kamt Ihr dorthin?«

»Weil ich dem Manne, der mir in den Weg trat, ausweichen wollte,« antwortete er. »Weil ich dahin gehetzt und getrieben wurde durch ihn und das Schicksal. Weil mich ein stärkerer Wille, als mein eigener, dahin jagte. Als ich ihn Nacht für Nacht in dem Hause wachend fand, wo sie wohnte, wußte ich nie, wie ich ihm entkommen sollte – nie! Und als ich die Glocke hörte – –«

Er schauderte und murmelte, daß es sehr kalt sey. Dann ging er hastig in der engen Zelle auf und ab, setzte sich wieder nieder und verfiel in seine frühere Haltung.

»Ihr wolltet etwas sagen,« sprach der Blinde nach einer abermaligen Pause. »Was war's, als Ihr die Glocke hörtet?«

»Laßt das beruhen,« entgegnete er hastig. »Sie hängt noch dort.«

Der Blinde wandte ihm ein verschmitztes und fragendes Gesicht zu; er aber fuhr fort, zu sprechen, ohne seiner zu achten.

»Ich ging nach Chigwell, um den Volkshaufen aufzusuchen. Der Mann hetzte und bedrängte mich so, daß ich nirgends hoffen durfte, Sicherheit zu finden, als wenn ich mich jenen Leuten anschlösse. Sie waren bereits vor meiner Ankunft abgezogen; ich folgte ihnen, als sie aufhörte.«

»Als was aufhörte?«

»Die Glocke. Sie hatten den Ort verlassen. Ich hoffte, es möchten noch Einige unter den Ruinen weilen und suchte nach, als ich –« er athmete tief aus und wischte sich die Stirne mit seinem Aermel ab – »seine Stimme hörte.«

»Und was sprach er?«

»Gleichviel. Ich weiß es nicht. Ich war eben am Fuße des Thurmes, wo die That – –«

»Ja,« sagte der Blinde, indem er in vollkommener Ruhe mit dem Kopfe nickte, »ich verstehe.«

»Ich kletterte die Treppe, oder so viel von derselben übrig war, hinan und gedachte, mich zu verbergen, bis er fort wäre. Aber er hörte mich und folgte mir fast eben so schnell, als ich den Fuß auf die Asche setzte.«

»Ihr hättet Euch in der Mauer verstecken und ihn hinunterstürzen können. Auch ein Messerstich hätte gut gethan,« entgegnete der Blinde.

»Meint Ihr? Zwischen diesem Manne und mir stand Einer – er sah ihn nicht, aber ich – der ihn führte und eine blutige Hand über seinem Haupte erhob. Es war in dem Zimmer oben, wo Er und ich Angesicht gegen Angesicht gestanden hatten in der Nacht, wo der Mord geschah; gerade so erhob er seine Hand, und eben so war sein Blick, ehe er niederfiel. Ich wußte, daß hier die Jagd enden mußte.«

»Ihr habt eine lebhafte Einbildungskraft,« sagte der blinde Mann mit einem Lächeln.

»Belebt die Eurige nur mit Blut, und Ihr werdet sehen, wie weit sie's treiben wird.«

Er stöhnte, rückte hin und her und sah dann zum ersten Mal auf, mit dumpfer, hohler Stimme die Worte sprechend: »Achtundzwanzig Jahre! Achtundzwanzig Jahre! Er hat sich in dieser ganzen Zeit nie geändert, ist nicht älter geworden – ganz noch derselbe, wie damals. Er stand vor meinen Augen in dunkeln Nächten und an hellen Tagen, in der Dämmerung, im Mond- und Sonnenscheine, im Lichte des Feuers, der Lampe, der Kerze und in der schwärzesten Finsterniß. Stets derselbe – unter den Leuten, wie in der Einsamkeit, auf dem Lande, wie auf hoher See; bisweilen auf Monate verschwindend, bisweilen stets an meiner Seite. Ich habe ihn gesehen, wie er in tiefer Mitternacht bei den hellen Strahlen des Mondes durch die ruhigen Wellen des Meeres glitt – und habe ihn gesehen auf den Werften und Marktplätzen, die Hand erhoben und hervorragend über das geschäftige Gedränge, das nichts von der schrecklichen Gestalt ahnete, die schweigend in seiner Mitte stand. Einbildung! Seyd Ihr denn etwas Wirkliches? Bin ich es? Sind mir diese eisernen Fesseln wirklich durch den Hammer des Schmiedes angeschlagen worden, oder sind es blos Luftgebilde, die ich mit einem Hauche abschütteln kann?«

Der Blinde horchte schweigend zu.

»Einbildung! Ist's etwa eine Einbildung, daß ich ihn erschlug? Ist es nur ein Gebilde meiner Phantasie, daß ich, als ich die Stube verließ, wo er lag, das Gesicht eines Mannes durch eine finstere Thüre schauen sah, dessen scheue Blicke deutlich bekundeten, daß er argwöhne, was ich für eine That verübt? Ist's nur ein Traum, daß ich ihm schöne Worte gab – daß ich ihm näher – noch näher trat – das heiße Messer in meinem Aermel? Bilde ich mir blos ein, wie Er starb? Wankte Er nicht zurück in die Mauerecke, in welche ich ihn eingezwängt hatte, sich innerlich verblutend und stehen bleibend, nicht als eine Leiche vor mir niederfallend? Sah ich ihn nicht, wie ich Euch jetzt sehe, aufrecht und auf seinen Beinen – aber todt?«

Der blinde Mann, welcher merkte, daß der Andere aufgestanden war, winkte ihm, sich wieder auf seine Bettstelle niederzulassen; aber er achtete nicht auf seine Geberde.

»Damals war es, als ich zum ersten Mal daran dachte, den Mord auf ihn zu wälzen. Ich zog ihm meine Kleider an und schleppte ihn über die Hintertreppe nach dem Teiche hinunter. Ist es mir nicht, als hörte ich noch die Wasserblasen, die in die Höhe fliegen, nachdem ich ihn hineingerollt hatte? Erinnere ich mich nicht, daß ich mir das Wasser aus dem Gesichte wischte, und glaubte ich nicht, weil es die hinabfallende Leiche um sich gespritzt hatte, es müßte Blut seyn?

Ging ich nicht nach Hause, als es geschehen war? Und, o mein Gott, wie lange brauchte ich dazu! Stand ich nicht vor meinem Weibe und erzählte es ihr? Sah ich nicht, wie sie zu Boden stürzte; und als ich mich niederbeugte, um sie aufzuheben, stieß sie mich nicht mit einer Gewalt zurück, als wäre ich ein Kind gewesen und als beschmutze ich die Hand, womit sie mein Gelenk umfaßt hatte? Ist dieß Einbildung?

Sank sie nicht auf die Kniee nieder, um den Himmel zum Zeugen anzurufen, daß sie und ihr ungeborenes Kind von dieser Stunde an sich von mir lossagten? Und warnte sie mich nicht in so eindringlichen Worten, daß es mich kalt überlief – mich, der ich eben von dem Entsetzlichen herkam, das meine Hände verrichtet – zu fliehen, so lange es noch Zeit wäre; denn da sie mein unglückliches Weib sey, so wolle sie zwar schweigen, mir aber keinen Schutz verleihen? Ging ich nicht fort in jener Nacht, ausgestoßen von Gott und von Menschen und tiefgeankert in der Hölle, um auf meine Taulänge um die Erde zu wandern und am Ende sicher hinuntergerissen zu werden?«

»Warum kehrtet Ihr zurück?« fragte der blinde Mann.

»Warum ist Blut roth? Ich konnte eben so wenig anders, als ich ohne Luft zu leben vermöchte. Ich kämpfte gegen den innern Antrieb, aber ich wurde trotz aller Schwierigkeiten und widerlichen Umstände zurückgezogen, wie durch die Gewalt einer Maschine. Nichts konnte mich halten. Ich dachte nicht mehr an Tag oder Stunde. Schlafend und wachend hatte ich jahrelang unter den alten Schlupfwinkeln geweilt – hatte mein eigenes Grab besucht. Warum ich zurückkam? Weil dieses Gefängniß für mich seinen Mund aufthat und er an der Thüre stand, mir winkend.«

»Man kannte Euch nicht?« fragte der Blinde.

»Ich war ein Mann, der zweiundzwanzig Jahre todt gewesen. Nein, man kannte mich nicht.«

»Ihr hättet Euer Geheimniß besser bewahren sollen.«

» Mein Geheimniß? Das Meinige? Es war ein Geheimniß, das jeder Lufthauch nach Belieben weiter flüstern konnte. Die Sterne riefen es in ihrem Flimmern, das Wasser in seinem Strömen, die Blätter in ihrem Rauschen und die Jahreszeiten in ihrer Wiederkehr. Es lauerte sogar in den Gesichtern und Stimmen der Fremden. Alles hatte Lippen, auf welchen es immer zitterte – Mein Geheimniß!«

»Jedenfalls war es Eure eigene Schuld, daß es enthüllt wurde,« sagte der blinde Mann.

»Es war nicht meine Schuld. Ich gab Veranlassung dazu, aber es war nicht meine Schuld. Ich sah mich genöthigt, von Zeit zu Zeit um diesen Ort herumzuwandeln, rund herum. Hätte man mich in Ketten gelegt, wenn der Anfall über mich kam, so würde ich sie zerbrochen haben, um dahin zu gehen. Eben so sicher, als der Magnet Eisen anzieht, konnte der, der tief in seinem Grabe lag, mich in seine Nähe zwängen, wenn er wollte. War das Einbildung? Ging ich gerne hin, oder kämpfte ich nicht vielmehr, mich von der Macht loszuringen, die mich drängte?«

Der blinde Mann zuckte mit den Achseln und lächelte ungläubig. Der Gefangene nahm seine frühere Stellung wieder ein, und Beide verblieben eine lange Zeit stumm.

»Demnach muß ich vermuthen,« sagte der Besuch, endlich das Schweigen unterbrechend, »daß Ihr reuig und ergeben seyd; daß Ihr Frieden zu schließen wünscht mit Jedermann, namentlich aber mit Eurem Weibe, das Euch so weit gebracht hat, und daß Ihr nichts sehnlicher wünscht, als so bald als möglich nach Tyburn geführt zu werden? Wenn dieß der Fall ist, so thue ich besser, wenn ich mich verabschiede. Ich bin dann nicht gut genug, um ein passender Gesellschafter für Euch zu seyn.«

»Habe ich Euch nicht gesagt,« entgegnete der Andere heftig, »daß ich gekämpft habe, um mich von der Gewalt loszureißen, die mich hieher gebracht? Ist mein ganzes Leben nicht achtzehn Jahre lang ein einziges unablässiges Ringen, und Widerstreben gewesen, und denkt Ihr, ich verlange jetzt, niederzuliegen und zu sterben? Wenn schon jeder Mensch vor dem Tode zurückbebt, so muß ich es wohl am meisten vor Allen!«

»Nun, das lasse ich gelten. So sprecht Ihr besser, als Ihr jemals gesprochen, Rudge – doch ich will Euch nicht mehr so nennen,« entgegnete der Blinde in vertraulicherem Tone, indem er die Hand auf seinen Arm legte. »Schaut einmal, ich selbst habe nie einen Menschen umgebracht, denn ich befand mich nie in der Lage, wo etwas Solches der Mühe werth gewesen wäre. Ferner will ich dem Ermorden der Leute nicht das Wort reden, und ich glaube nicht, daß ich es empfehlen oder selbst thun möchte – denn es ist unter allen Umständen ein gefährliches Wagestück. Ihr habt aber das Unglück gehabt, in diese Verlegenheit zu gerathen, ehe ich Eure Bekanntschaft machte, und da Ihr mein Kamerad und mir lange Zeit von Nutzen gewesen seyd, so nehme ich's mit diesem Punkte nicht so genau, und es liegt mir blos daran, daß Ihr nicht unnöthiger Weise sterben sollt! Im gegenwärtigen Augenblick glaube ich aber, daß es das nutzloseste Ding von der Welt wäre.«

»Was bleibt mir anders übrig?« entgegnete der Gefangene. »Kann ich mich mit den Zähnen durch diese Mauern beißen?«

»'s gibt noch etwas Leichteres, als dieses,« erwiederte sein Freund. »Versprecht mir, daß Ihr nicht mehr von diesen Euren Einbildungen reden wollt – es sind eitle, thörichte Dinge, die einem Mann nicht ziemen – und ich will Euch meine Meinung sagen.«

»So sprecht,« sagte der Andere. '

»Eure würdige Ehefrau mit dem zarten Gewissen: Euer scrupulöses, tugendhaftes, pünktliches, aber nicht blind zärtliches Weib –«

»Was ist mit ihr?«

»Ist jetzt in London.«

»Fluch über sie, mag sie seyn, wo sie will!«

»Das finde ich begreiflich. Hätte sie, wie gewöhnlich, ihr Jahrgeld genommen, so befändet Ihr Euch nicht hier, und wir würden besser daran seyn. Doch das hat mit der Sache nichts zu schaffen. Sie ist in London. Eingeschüchtert, wie ich ohne Zweifel glaube, weil ich bei Gelegenheit meines Besuches ihr vorstellte, daß Ihr dicht zur Hand wäret (ich bediente mich natürlich dieser Mittheilung nur als eines Spornes, weil ich wußte, daß sie kein Verlangen tragen würde, Euch zu sehen), verließ sie den Ort und wanderte nach London.«

»Wie kommt Ihr zu dieser Kunde?«

»Von meinem Freunde, dem edlen Capitän – dem erlauchten General – dem aufgeblasenen Herrn Tappertit. Von ihm erfuhr ich, als ich ihn gestern zum letzten Mal sah, daß Euer Sohn, der – vermuthlich nicht nach seinem Vater – Barnaby heißt –«

»Tod und Teufel! Was soll das jetzt?«

»Ihr seyd ungeduldig,« sagte der Blinde ruhig. »Nein, das ist ein gutes Zeichen und sieht ein wenig nach dem Leben aus – daß also Euer Sohn Barnaby durch einen Kameraden aus Chigwell, den er von Alters her kannte, von ihm angelockt wurde, und daß er sich jetzt unter den Aufrührern befindet.«

»Und was soll das mir? Welchen Trost soll ich darin finden, wenn Vater und Sohn mit einander gehangen werden?«

»Halt – halt, mein Freund,« entgegnete der blinde Mann mit schlauer Miene, »wir kommen bald an das Ende der Geschichte. Gesetzt, ich spüre die verehrliche Dame auf und sage zu ihr: ›Ihr möchtet Euren Sohn haben, Ma'am – gut. Ich bin mit Denjenigen bekannt, die ihn verlocken, unter ihnen zu bleiben, und kann ihn Euch wieder zurückgeben, Ma'am – gut. Ihr müßt für seine Zurückerstattung einen Preis zahlen, Ma'am – wieder gut. Der Preis ist klein und leicht zu bezahlen – meine liebe Madame, das ist das Beste von Allem.‹«

»Was soll diese Possenreißerei?«

»Sehr wahrscheinlich wird sie mir dieß darauf entgegnen. ›Durchaus keine Possenreißerei,‹ antworte ich. ›Madame, eine Person, angeblich Euer Gatte (die Identität ist nach Abfluß vieler Jahre schwer zu beweisen), befindet sich im Gefängniß und sein Leben ist in Gefahr – die Anklage gegen ihn lautet auf Mord. Nun, Ma'am, ist Euer Mann schon so und so lange todt gewesen. Der Gentleman kann nie mit ihm verwechselt werden, wenn Ihr die Güte haben wollt, mit ein paar Worten eidlich zu belegen, wann und wie er starb, und daß diese Person, welche dem Vernehmen nach einige Aehnlichkeit mit ihm haben soll, eben so wenig Euer Gatte ist, als ich es bin. Ein solches Zeugniß wird die Frage ganz und gar bereinigen. Verpflichtet Euch dazu, Ma'am, und ich will es über mich nehmen, Euren Sohn, der ein hübscher Junge ist, vor allem Schaden zu wahren und ihn Euch gesund und wohlbehalten zuzustellen, sobald Ihr uns diesen kleinen Dienst geleistet habt. Solltet Ihr indeß nicht darauf einzugehen geneigt seyn, so fürchte ich, er wird verrathen und dem Gesetz überantwortet, das ihn dann ohne alle Frage zum Tode verurtheilt. Ihr habt jetzt da die Wahl zwischen seinem Leben und Tode. Sagt Ihr nein, so baumelt er. Willigt Ihr aber ein, so ist der Balken noch nicht gewachsen und eben so wenig der Hanf gesät, woran er Schaden nehmen soll.‹«

»Es ist ein Funke von Hoffnung d'rin,« rief der Gefangene aufspringend.

»Ein Funke?« entgegnete sein Freund. »Sagt lieber, eine Nachmittagssonne; ein volles und herrliches Tageslicht. Stille! Ich höre einen fernen Fußtritt. Baut auf mich.«

»Wann werde ich weiter hören?«

»So bald wie möglich. Ich dächte, morgen. Man kömmt, um uns zu sagen, daß unser Plauderstündchen vorüber ist. Ich höre die Schlüssel klirren. Jetzt keine Worte mehr davon; man könnte uns belauschen.«

Er hatte kaum ausgesprochen, als sich der Schlüssel umdrehte und einer der Gefängnißwärter an der Thüre erschien, um zu melden, daß Besuche jetzt das Gefängniß verlassen müßten.

»So bald?« fragte Stagg demüthig. »Doch das läßt sich nicht ändern. Nur den Muth nicht verloren, Freund. Dieß Mißverständniß wird bald beseitigt seyn und dann seyd Ihr wieder ein Mann! Wenn dieser barmherzige Herr einen armen Blinden, der ihn mit nichts, als mit Gebeten, zu belohnen vermag, nach dem Gefängnißportale führen und ihm das Gesicht gegen Westen kehren  will, so wird er ein wohlthätiges Werk thun. Ich danke Euch, guter Sir. Ich danke Euch von Herzen.«

So sprechend und an der Thüre noch einen Augenblick inne haltend, um das grinsende Gesicht seinem Freunde zuzukehren, entfernte er sich.

Nachdem ihn der Schließer nach dem Portale geführt hatte, kehrte er wieder zurück, entriegelte abermals die Zellenthüre, machte sie weit auf und theilte dem Gefangenen mit, er habe, wenn er wolle, die Erlaubniß, in dem anliegenden Hof eine Stunde lang spazieren zu gehen.

Der Bewohner der Zelle antwortete nur mit einem finstern Kopfnicken, und sobald er allein war, brütete er über dem Gehörten, sich den Hoffnungen hingebend, die das kürzliche Gespräch in ihm geweckt hatte; dabei blickte er zerstreut auf das Licht draußen und betrachtete die Schatten, welche die eine Mauer auf die andere und auf den gepflasterten Steinboden warf.

Es war ein öder, viereckiger Hof, so kalt und düster durch die hohen Mauern, daß selbst das Sonnenlicht hier zu erfrieren schien; die kahlen, starren und rauhen Steine erfüllten selbst ihn mit einer Sehnsucht nach den freien Wiesengründen und Bäumen, und weckten in ihm den brennenden Wunsch, wieder in Freiheit zu seyn. Er stand auf, lehnte sich gegen den Thürpfosten und schaute nach dem schönen blauen Himmel, der sogar auf diese traurige Heimstätte des Verbrechens niederlächelte. Einen Augenblick schien er sich zu erinnern, wie er vor langer, langer Zeit einmal an einem duftreichen Orte auf dem Rücken gelegen und durch die wehenden Zweige geblickt hatte.

Auf einmal wurde seine Aufmerksamkeit durch einen klirrenden Ton gefesselt – er wußte, was er zu bedeuten hatte, denn er war ja selbst über das gleiche Geräusch erschrocken, als er nach der Thüre ging. Unmittelbar darauf fing eine Stimme zu singen an und er bemerkte den Schatten einer menschlichen Gestalt auf dem Pflaster. Sie machte Halt, verstummte mit einemmale, als ob sie für einen Augenblick vergessen hätte, wo sie wäre, und sich jetzt wieder erinnerte – und mit demselben Geklirre verschwand der Schatten wieder.

Er trat in den Hof hinaus und ging auf und ab, mit dem rauhen Klimpern seiner Fesseln das Echo weckend.  In der Nähe befand sich eine Thüre, welche, wie die seinige, weit offen stand.

Er war noch kein halbdutzendmal in dem Hofe auf- und abgegangen, und er stand eben stille, um sich diese Thüre zu betrachten, als er den klirrenden Ton wieder vernahm. An dem vergitterten Fenster zeigte sich ein Gesicht – er sah es nur sehr undeutlich, denn die Zelle war sehr dunkel und die Eisenstangen dick dann trat ein Mann heraus und kam auf ihn zu.

Er fühlte sich so einsam, als wäre er bereits ein Jahr im Gefängniß gesessen. Die Hoffnung, auf einen Leidensgefährten zu treffen, beschleunigte seine Schritte, und er eilte dem Mann halb Weges entgegen –

Was war das? Sein Sohn!

Sie standen sich, Angesicht in Angesicht, gegenüber und stierten sich an. Er wich unwillkürlich schüchtern zurück, während Barnaby mit seinem unvollkommenen Gedächtniß kämpfte und sich wunderte, wo er doch diese Gestalt früher schon gesehen habe. Er blieb jedoch nicht lange im Unklaren, denn er legte plötzlich Hand an ihn, mühte sich, ihn zu Boden zu werfen, und rief:

»Ah! jetzt kenne ich Euch! Ihr seyd der Räuber!«

Dieser erwiederte Anfangs nichts, sondern senkte blos den Kopf und rang schweigend mit ihm. Als er jedoch fand, daß der jüngere Mann zu stark für ihn war, hob er das Gesicht in die Höhe, schaute ihm scharf in die Augen und sagte:

»Ich bin dein Vater!«

Gott weiß, welchen Zauberschlag dieser Name auf Barnaby's Ohr übte; aber er ließ ihn los, wich zurück und blickte ihn entsetzt an. Dann sprang er plötzlich auf ihn zu, schlang die Arme um seinen Nacken und drückte den Kopf an seine Wangen.

Ja, ja, er war es; er war überzeugt, daß er es war. Aber wo hatte er so lange geweilt; warum hatte er seine Mutter allein, oder, was noch schlimmer war, mit ihrem armen, geistesschwachen Knaben allein gelassen? Und war sie wirklich so glücklich, als man ihm berichtet? Und wo hielt sie sich auf? War sie in der Nähe? Konnte sie glücklich seyn, wenn er im Gefängniß war? Ach, nein. –

Der Andere antwortete mit keiner Sylbe; aber Greif krächzte laut und hüpfte um sie herum im Kreise und wieder im Kreise, als schlösse er einen magischen Zirkel und riefe alle finsteren Mächte herauf.



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