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Kapitel 22.
Der geheime Gang.

Der Gang, den der junge Mann von dem geheimen Gemach im Rathaus aus betrat, war tief unter der Erde gelegen und die Luft daselbst war feucht und warm. In alten Zeiten, da sich in Nürnberg manche blutige Scenen abspielten, war dieser Gang oft benutzt worden, um Verfolgte aus dem Bereich ihrer Feinde zu bringen. Ulrich hatte davon gehört, doch ihn nie zuvor betreten. Die Geschichten, die man sich diesbezüglich erzählte, wurden thatsächlich von der jüngeren Generation als Sagen aus grauer Vergangenheit erachtet. Nur Bernhard und etliche andere, die in seinem Alter standen, ließen sich's nicht nehmen, daß ein solch geheimer Gang existiere. Der Flüchtling hatte sich, gemäß Mariens Anweisungen, im Rathaus leicht zurecht gefunden. Die Schlüssel, die von Marie sorgfältig geölt worden waren, drehten sich leicht in den Schlössern. Ulrich zündete die Kerze an und blickte neugierig um sich. Er befand sich in einem niedrigen Gange, so niedrig, daß er nicht aufrecht stehen konnte. Die Mauern und die abgerundete Decke waren aus Stein, aber der Boden unter seinen Füßen bestand aus harter Erde.

»Ich muß mich beeilen,« murmelte er und schritt schnell vorwärts. Der Weg schien kein Ende nehmen zu wollen. Manchmal ging es rechts – oder links ab, dann schien es bergan zu gehen und dann wiederum ins Thal hinab. Die Luft wurde so dick und schwer, daß er nach Atem ringen mußte. Doch er ging vorwärts. Ein Zurückkehren war unmöglich. Irgend ein Tod war jenem schrecklichen Urteil vorzuziehen, das der grausame Herzog von Alba über ihn verhängt hatte.

Als er nach seinem Ermessen manche Meilen zurückgelegt hatte, kam ihm der Gedanke, bei dem seine Kniee zitterten. »Gesetzt den Fall, daß der Eingang am andern Ende ebenfalls verschlossen sein sollte! Was müßte ich anfangen?« Einen Augenblick sank er unter verzweifeltem Stöhnen zu Boden. Doch er befahl sich Gott an und gestärkt erhob er sich, entschlossen, einen Ausweg aus diesem schrecklichen, unterirdischen Gang zu finden, falls ein solcher vorhanden war. Bald tanzten fremde Gestalten um ihn und er hörte Wispern und Flüstern, die natürlichen Erscheinungen seines erregten Gemütes. Marie, unerfahren wie sie war, hatte ganz vergessen, daß Ulrich, dessen Körper durch wochenlange Gefangenschaft und schreckliche Foltern geschwächt war, nun vor allem der Nahrung bedurfte. Als sie sicher ihr Haus wieder erreicht hatte, dachte sie daran und das Versäumnis kostete ihr nicht geringe Seelenqual. Schlaflos lag sie auf ihrem Bett, wo sie sich mit bitteren Vorwürfen abquälte, daß Ulrich in dem dunkeln geheimen Gang vor Erschöpfung seinen Tod finden möchte.

Glücklicherweise besaß Ulrich eine eiserne Natur und seine Kräfte hielten aus bis er das andere Ende des Ganges erreicht hatte. Ein inniges »Gott sei Dank!« kam von seinen Lippen, als er ein mächtiges eisernes Thor vor sich erblickte, das an großen Angeln hing und mit schweren Nägeln beschlagen war. Dann überkam ihn die Furcht aufs neue und er eilte auf die Thüre zu. Wenn sie geschlossen war! Mit erstarrten Fingern suchte er nach dem Schloß, doch vergeblich. Er hielt die Kerze nahe zur Thüre und entdeckte endlich nach langem Suchen ein kleines Schlüsselloch. Aber was konnte ihn das nützen, wenn er den Schlüssel nicht hatte? Seine Kerze erlosch und die undurchdringliche Dunkelheit schien noch schwerer auf seinem Geist zu lasten. Vor Furcht und Schwäche fiel Ulrich in Ohnmacht. Schwer fiel sein Kopf gegen die eiserne Thüre. Es mochten Stunden, vielleicht auch nur etliche Minuten verflossen sein, als er wieder zu sich kam – er wußte es nicht. Mit dem zurückkehrenden Bewußtsein drang von der andern Seite der Thüre Gesang an sein Ohr. Er hörte das Intonieren von Männerstimmen und das Ganze erschien ihm wie ein Gottesdienst nach dem römisch-katholischen Ceremoniell. Den Geschichten zufolge, die er in seiner Kindheit gehört hatte, führte dieser geheime Gang unter der Stadt Nürnberg und unter den Mauern hindurch, weit in das Land hinaus zu einem kleinen Dorf; er vermochte sich indessen des Namens nicht zu entsinnen. Das mußte eine Kirche sein und der Gesang rührte ohne Zweifel von Mönchen her. Katholiken oder keine Katholiken, – Ulrich fühlte, als könnte er sie alle umarmen, wenn er nur das Tageslicht sehen und frei werden könnte.

»Soll ich an die Thüre klopfen?« frug er sich selbst und im nächsten Moment erhob er seine Hand und führte damit wuchtige Schläge gegen das Eisen, bis das Blut floß. Keine Antwort kam. Der monotone Gesang wurde schwächer und schwächer und es schien, als verliere sich derselbe nach und nach, während die Mönche in ihre Zellen im Kloster zurückkehrten.

Aufs neue enttäuscht, legte sich Ulrich abermals nieder und versank in Nachdenken. Was sollte er thun? Nach Nürnberg zurückkehren? Niemals! Dann blieb ihm nichts anderes übrig, als hier, der Freiheit so nahe, dem Hungertod zu erliegen. Ulrich zog ein solches Los den scharfen Messern der »Eisernen Jungfrau« vor. Er kniete nieder und betete ernstlich. »O Gott! Wie du einst einem Paulus und Silas die Thore des Gefängnisses geöffnet und wie Du Deinen Dienern zu allen Zeiten geholfen hast, so bitte ich Dich, Du wollest auch mir, einem Deiner schwächsten Kinder, Hilfe angedeihen lassen! Zeige mir den Weg, wie ich aus diesem schrecklichen Ort entkommen kann. Wie Du Deine Barmherzigkeit und Macht in den vergangenen Jahren erwiesen hast, so erweise sie jetzt an mir.« So bat er inbrünstig und in der festen Ueberzeugung, daß Gott ihm beistehen würde, lehnte er sich gegen die Thüre. Plötzlich sprang er auf. »Warum habe ich nicht früher daran gedacht!« rief er aus und versuchte eifrig, seine Kerze wieder anzuzünden. Doch sie versagte in der dumpfen, feuchten Luft. Es entstand bloß eine schwache, bläuliche Flamme, die sofort wieder erlosch. Doch bei dem Aufflackern dieses Lichtes hatte Ulrich das Schlüsselloch wieder entdeckt und den Schlüssel angesetzt, der die Thüre am anderen Ende des Ganges geöffnet hatte. Zu seiner großen Freude paßte derselbe ins Schloß und ächzend bewegte sich die Thüre in ihren verrosteten Angeln.

In der Befürchtung, daß dieses Geräusch die Aufmerksamkeit irgend eines Lebendigen erregt haben möchte, blickte er forschend umher in der Kirche. Die frische Luft, die er einatmete, ließ ihn zu neuem Leben erwachen. Der Ausgang des geheimen Ganges befand sich in einer unterirdischen Kapelle gerade unterhalb des Hochaltars. Es war in dem höher gelegenen Chor, wo die Mönche gesungen hatten. Niemand war in der Nähe und Ulrich kroch heraus, nachdem er die Thüre hinter sich zugezogen hatte. Es war eine kleine Kapelle, nach allem zu urteilen ein sehr alter Bau. Vor einem kleinen Fenster, das hoch in der Mauer angebracht war, lag die Gestalt eines Ritters, in Marmor ausgeführt. Sein Visier war gelüftet und seine Hände ruhten gekreuzt über dem Harnisch, der seine Brust bedeckte. Ulrich trat näher und betrachtete die Figur. Dann erst sah er unter seinen gefalteten Händen ein großes Kruzifix und unter dem Bilde war eine lateinische Inschrift angebracht. Er hatte den Kreuzzug unter Peter dem Hermiten mitgemacht und war im Kampfe gegen die Türken um den Besitz des heiligen Grabes gefallen.

In der höher gelegenen Kirche wurden auf dem Steinpflaster Schritte vernehmbar und Ulrich wandte sich eilig um in dem Bewußtsein, daß er keine Zeit zu verlieren hatte. Der Herzog von Alba mochte bereits von seiner Flucht gehört haben und nun auf ihn fahnden. Eine kleine steinerne Treppe führte nach oben; er erklomm dieselbe und fand sich an der Seite des Altars. Es war niemand dort, aber in geringer Entfernung konnte er Stimmen vernehmen. Von Säule zu Säule schlich er sich dem Schiff der Kirche zu und hielt öfters an, um zu lauschen. Plötzlich hörte er die Stimme in seiner Nähe und voll Schrecken sank er auf seine Kniee angesichts des Altars. »Gott vergieb mir,« kam es von seinen Lippen, »daß ich meine Kniee vor diesem Bilde beuge!«

Zwei Mönche traten eben durch eine Seitenthüre, welche ins Kloster führte, ein und der eine derselben trug schneeweißes Haar und einen milden Gesichtsausdruck. Seine langen, braunen Gewänder fielen wallend herab und an seiner Seite hing ein Rosenkranz. Um seine Hüfte war ein Strick gezogen und sein Haupt war zum Teil in eine Kapuze gehüllt, um als Schutz gegen den Luftzug zu dienen. Ein Jüngling in langem, schwarzem Gewand, der in Ulrichs Alter stehen mochte, begleitete ihn. Er trug eine Kerze in seinen Händen. Die zwei wandten sich dem Altar zu, wahrscheinlich um die Kerzen für die Messe anzuzünden, als sie Ulrich gewahrten.

»Es ist ein Wegfahrer,« sagte der ältere Mönch. »Er hat hier wohl angehalten, um ein Gebet zu verrichten. Wir wollen ihn nicht in seiner Andacht stören. Fahre in Deiner Arbeit fort, mein Sohn.«

»Er scheint krank zu sein,« sagte der junge Mönch. »Ohne Zweifel hat er einen weiten Weg hinter sich. Seine Kleidung ist zerlumpt, sein Bart und sein Haar struppig und ungepflegt.«

Mit einem neugierigen Blick auf den Fremden schritt der Jüngling nach vorne und begann eine Kerze nach der andern, die um ein großes Gemälde des sterbenden Christus gruppiert waren, anzuzünden. Der andere Mönch kniete auf dem Steinpflaster neben Ulrich nieder und fing an zu beten, während er von Zeit zu Zeit mitleidige Blicke auf das hagere Gesicht des jungen Mannes warf.

Das Haupt Ulrichs sank mehr und mehr auf seine Brust herab und die Thränen rollten über seine Finger. Sollte dies das Ende sein? Hatte Gott seine Flucht zugelassen, nur damit er aufs neue in die Hände derer falle, die ihn vernichten würden? Wie sollte er je aus dem Bereich dieser Mönche kommen? Es erschien ihm natürlich, daß sie ihn wieder dem Herzog ausliefern würden. Er war zu aufgeregt, als daß er hätte beten können, und seine leibliche Schwäche machte sich immer mehr geltend.

Dem Sonnenschein nach zu schließen, der durch ein farbiges Fenster der kleinen Kirche hereinflutete, mußte es nahezu Mittag sein und die Mönche strömten auf den Glockenschlag hin zur Messe herbei. Auch etliche andere Personen traten ins Gotteshaus; Bauern, die von der Arbeit auf dem Felde zurückkehrten, Männer und Frauen mit abgespannten, müden Gesichtern und etliche Mütter mit kleinen Kindern, die sich an ihre Röcke festgeklammert hatten.

Wie in einem Traum vernahm Ulrich den Gesang und das Spiel der großen Orgel, die in der Nähe des Altars stand; er hörte das Läuten des Glöckleins, als die Hostie vor den Knieenden erhoben wurde, und konnte den Weihrauch wahrnehmen. Mehr und mehr schienen die Töne zu verklingen und dann hörte alles auf. Er lag auf dem kalten Boden ausgestreckt. Der alte Mönch, Bruder Ambrosius, der während des ganzen Gottesdienstes kein Auge von ihm abgewandt hatte, erhob sich und winkte einem andern, in seiner Nähe stehenden Mönch zu, daß er ihm behilflich sei. Sie trugen den Fremden mit sanfter Hand durch den niedern Bogeneingang ins Kloster und durch eine Halle in ein geräumiges Gemach, das mit etlichen Fenstern versehen war. Hier standen reine, weiße Betten und sie legten ihn auf eins derselben.

»Gieb mir das Herzstärkungsmittel,« sagte Bruder Ambrosius Zu Bruder Martin in einem befehlenden Ton.

Während dieser die Flasche herbeiholte, löste der alte Mönch die Kleider Ulrichs und strich dessen Haar aus der Stirne zurück. »Ein feines Gesicht,« murmelte er. »Es wundert mich, wie er hieher, in unser kleines Dorf gekommen ist? Es liegt doch nicht an der Heerstraße.«

Er nahm die braune Flasche aus den Händen seines Begleiters und verabreichte dem bewußtlosen Mann einen Theelöffel voll von der kräftigen Arznei. Langsam nahm sie ihren Weg durch die Halsröhre des Kranken und dessen große blaue Augen öffneten sich. Es war ein stierer Blick, voller Verzweiflung. Um vor dem Mönch zu entfliehen, wäre Ulrich schreiend in den stillen Hausgang gelaufen, hätten ihn die Männer nicht an diesem Vorhaben verhindert.

»Laßt mich gehen!« schrie er. »Könnt ihr nicht sehen? Sie kommen, um mich zum Tode zu führen! O rettet mich! Rettet mich! O Gott! so jung sterben zu müssen, so jung!« Plötzlich veränderte sich sein Zustand und er fiel unter heftigem Schluchzen kraftlos zurück.

Bruder Ambrosius wechselte einen verständnisvollen Blick mit Bruder Martin. »Halte ihn einen Augenblick. Ich will einen beruhigenden Trank zubereiten. Armer Junge! Er muß viel gelitten haben.«

Er ging auf einen Schrank zu, der in einer Ecke des Zimmers stand, mischte verschiedene Medikamente und brachte Ulrich den Trank. »Trinke!« sagte er und Ulrich gehorchte ohne zu wissen, was er that. Er war sich nur bewußt, daß jemand in befehlendem Tone zu ihm gesprochen hatte.

So zart, wie es nur die eigene Mutter hätte thun können, zogen die Mönche den Jüngling aus. Als sie ihm ein reines, weißes Hemd anzogen, stieß Bruder Martin einen Ruf des Entsetzens aus. »Sieh!« sagte er mit lauter Stimme. Bruder Ambrosius fuhr bei diesen Worten auf und untersuchte die Gliedmaßen des Jünglings. Sie wiesen Schrammen und Quetschungen auf. Die Muskeln schienen in gewaltsamer Weise verzogen und verrenkt worden zu sein. An einer Stelle befand sich eine Wunde, als ob ein eiserner Ring tief ins Fleisch gepreßt worden wäre. Der Mönch blickte in die entsetzten Augen seines Begleiters und sagte dann in ernstem Tone: »Das sind keine Wunden, die man auf dem Schlachtfeld holt; solche empfängt man nur in der Folterkammer. Der arme Junge!« fügte er mitleidsvoll hinzu. Sie betteten ihn sachte und betrachteten dann lange den Ohnmächtigen. Die andern Brüder kamen durch die Halle zurück und begaben sich ins Refektorium.

»Was denkst Du von ihm?« frug flüsternd der jüngere Mönch.

»Ich denke, daß er schwer krank ist und sorgfältige Pflege nötig hat. Wo er herkommt und was er durchgemacht hat, weiß ich nicht und will es nicht wissen,« und dabei schaute der ältere durchdringend in Bruder Martins Augen. »Wir wollen ihn treulich pflegen. Sage den Brüdern im Refektorium, daß ich bei einem Kranken bin. Ich wünsche nicht gestört zu werden.«

Bruder Martin verneigte sich und eilte hinweg, um den andern Mönchen diese Mitteilung zu bringen, die ihm der Prior aufgetragen hatte. Die Neugierde der Mönche war aufs höchste gespannt und die Fragen über den Fremden wollten kein Ende nehmen. Bruder Martin blieb aber seinem Versprechen getreu und erwiderte einfach, daß er in Gemeinschaft mit dem Prior den Jüngling auf dem Steinpflaster der Kirche ohnmächtig vorgefunden habe. Sonst wüßten sie nichts über ihn. Am Abend war das Ereignis bereits in den Hintergrund getreten und niemand erkundigte sich nach dem Fremden im Krankenzimmer. Nur einer, Bruder Ambrosius, war Ohrenzeuge der Phantasien Ulrichs – er hörte, wie er von Elsa und dem Vater sprach, von dem Kurfürsten von Sachsen, dem Herzog von Alba und – der »Eisernen Jungfrau«. Nach und nach kam alles ans Licht, und als der Morgen graute, wußte der Prior, daß sein Pflegebefohlener ein Ketzer und flüchtig war. Und doch erlahmte die Hand des guten Mannes nicht in dem Werke der Barmherzigkeit. Er badete die heiße Stirne des fieberkranken Jünglings und netzte seine Lippen, als wäre er sein eigener Bruder. Als die Morgenröte durch die großen Fenster schimmerte, fiel Ulrich in einen erquickenden Schlaf. Leise schlich sich Bruder Ambrosius davon und betrat die Zelle Bruder Martins, den er im Gebet fand. »Geh und weile bei dem Fremden,« sagte er; »wenn er indessen erwachen sollte, so komm und rufe mich sogleich.«


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