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Der Krüppel von Nürnberg
Droben auf dem Schloß über Nürnberg war in der blanken Küche Elsa fleißig an der Arbeit. Während sie emsig scheuerte und reinigte, schaute sie oft durch die kleinen, viereckigen Fenster mit ihren seltsamen achteckigen Scheiben hinunter auf das vor ihren Augen sich ausbreitende Dächermeer. Da und dort zeigten sich viereckige Türme und viele lange niedere Ziegeldächer in mattroten Farben, mit wunderlichen kleinen Dachfenstern darinnen, welch sich Reihe an Reihe dahinzogen. Zur Rechten erhoben sich die stattlichen Türme der St. Lorenzkirche, und gerade unter dem Schloßthor konnte Elsa die wohnliche Heimat von Albrecht Dürer unterscheiden, der einer der berühmtesten Maler Deutschlands war. Heute war die Stadt mit Schnee bedeckt, denn es war mitten im Winter. Ein kalter Wind blies und Eiszapfen hingen von der Dachrinne des runden Turmes, der Elsas Heimat in sich barg.
»Ach ja!« seufzte das junge Mädchen, während es fleißig eine große Kupferpfanne spiegelblank scheuerte, die bald nachher den großen Holzschrank schmückte. »Ach ja!« seufzte Elsa aufs neue, »es ist so einsam, seitdem die Mutter fort ist; Ulrich ist jetzt zwei Jahre in der Fremde, und noch haben wir kein Wort von ihm gehört, und Vater –«
Erschrocken wandte sie sich plötzlich um, als die schwere Thür sich in ihren großen eisernen Angeln bewegte, und sie sah sich einem Jüngling in schmuckem Bart gegenüber. Zu ihrem Erstaunen ließ der Fremde sein Felleisen auf den mit Sand bestreuten Boden gleiten, schüttelte sich die Schneeflocken aus den Kleidern und, indem er sich auf die Bank vor dem Feuerherd warf, brach er in ein herzliches Lachen aus.
»Nur nicht so erschrocken dreingeschaut, kleine Elsa. Ich bin's blos, dein Bruder Ulrich, der von einer weiten Reise aus fremden Ländern zurückgekommen ist. Komm nur her, mein Liebchen, und gieb mir einen Kuß. Wo ist die Mutter?« fuhr er fort, und während sie ihn mit großen Augen verwundert anschaute, strich er das blonde Haar seiner Schwester mit weicher Hand zurück. Das war nicht der Bruder, der sie vor zwei Jahren verlassen hatte. Der war ein Knabe, jetzt stand ein kräftiger Mann vor ihr.
»Mutter!« wiederholte sie leise, »weißt Du's nicht, Ulrich? Sie liegt drüben am Fluß auf dem Gottesacker.«
»Tot!« rief Ulrich erbleichend aus; »die gute Mutter ist heimgegangen, und ich wußte nicht einmal, daß sie krank gewesen war. Fort ohne Abschiedskuß. Oh, warum bin ich nicht früher zurückgekehrt! Ist es schon lange her?«
»Nicht lange,« antwortete Elsa, bitterlich weinend, »vor drei Monaten. Früh im Herbst, das Laub fiel von den Eichbäumen und das trübe Wetter brach herein, da wurde sie krank. An einem Tage hat sie von uns Abschied genommen und dann schlummerte sie hinüber. Sie gab mir noch einen Kuß für Dich, Ulrich; ach, es war ihr sehnlichster Wunsch, Dich noch einmal zu sehen.« Die Thränen der armen Elsa tropften unaufhörlich über ihre Wangen und Ulrichs Lippen bebten.
»'st! da kommt der Vater. Er ist so ganz anders geworden,« fügte sie schnell hinzu, als die Schritte näher kamen, »er ist so verschlossen und so hart.«
Mehr vermochte sie nicht zu sagen, denn in diesem Augenblick schritt ein Mann von mächtiger Körpergestalt über die Schwelle. Sein Leib war von einem silbernen Plattenharnisch umschlossen; der Kopf trug einen breitkrämpigen Hut, geschmückt mit einer kühn herabwallenden Feder. Gebieterisch und streng waren die Gesichtszüge. »Elsa!« befahl er rauh, »flugs an die Arbeit, Kind. Wer ist der Fremde?«
»Ich bin's, – Ulrich,« antwortete der Jüngling, dessen ganzer Körperbau eine Aehnlichkeit mit dem des Vaters hatte. Die einzige Ausnahme darin bildete nur sein mildes, freundliches Gesicht.
»Ulrich!« rief der Vater mit einem höhnischen Anflug, »und was hat denn Ulrich hier zu thun? Ein Junge, der seinen Vater verlassen hat, um einem Ketzerhaufen nachzulaufen und gegen den alten Glauben seines Stammhauses zu kämpfen? Mein Wort steht fest, dies Haus bleibt Dir auch hinfürder verschlossen; zur Schande Deines Vaters kämpfst Du wie ein Narr gegen eine Macht, die Dich wie zwischen zwei Mühlsteinen zermalmen wird.« Eine dunkle Zornesröte übergoß unheimlich das Gesicht des Vaters und mit Donnerstimme kam es von seinen Lippen: »Noch einmal sage ich Dir, mach' Dich fort aus meinem Haus! Du bist nicht mehr mein Sohn!«
Elsa wagte sich heran und berührte wie bittend ihres Vaters Hand, die er aber heftig hinwegzog.
»Geh! sage ich. Auf was wartest Du noch?«
»Vater,« antwortete Ulrich gefaßt, »ich kam nur, um Dich zu begrüßen und zu erfahren, wie es der Mutter geht.« Ueber das Gesicht des Alten huschte ein leichtes Beben. »Ich gehe, aber ich kann Nürnberg vorerst noch nicht verlassen, da ich wichtige Botschaften zu überbringen habe. Lebe wohl, Vater; lebe wohl, teure Elsa. Vielleicht begegnen wir uns niemals wieder.«
Der strenge Burghauptmann ergriff nach einigem Zögern die ausgestreckte Hand seines Sohnes. »Um Deiner Mutter willen.« Die Erinnerung an sein Weib schien das kochende Blut besänftigt zu haben. Schnell aber fügte er hinzu, als ob diese Worte ihm wider seinen Willen entfallen: »Wenn Du Nachrichten zu überbringen hast, thu's schnell. Mögen sie sein, was sie wollen, sei hurtig und tummle Dich, wieder zurückzukommen zu Deinen Helfershelfern.« Der Zorn des Mannes war wie verflogen. Indem er den Sohn nach dem Fenster zog, sagte er im Flüsterton zu ihm: »Man hört munkeln, daß der Kaiser bald in höchsteigener Person kommen wird, um das hartnäckige Nürnberg zu beugen; dann gilt es entweder – oder, Protestant oder Kaiser.«
»Der Kaiser!« rief Ulrich und sein Gesicht wurde wie Kreide so weiß. »Dann muß ich mich wohl sputen.«
»Ich hätte es Dir nicht vertrauen sollen,« meinte der Alte mit besorgtem Blick. »Ich weiß nicht, ob die Nürnberger seinen Besuch ahnen. Wir Päpstlichen wissen es, daß er kommt. Er verhilft uns wieder zur Herrlichkeit unseres alten Glaubens und wehe den Anbetern jenes abgefallenen Mönches! Auch Du bist einer von ihnen, Ulrich; komm, oh komm wieder zurück in den Schoß der einen, wahren Kirche!«
Die Stimme des Alten zitterte vor Erregung, als er erwartungsvoll und mit sehnsüchtigem Blicke den prächtigen, hoffnungsvollen Jüngling neben sich betrachtete.
»Nimmermehr, Vater!«
»Dann gehe Deines Weges! Ich kann Dir nicht fluchen, denn Du bist der Sohn meines geliebten Weibes.« Nach einer Pause wandte er sich plötzlich gegen seine Tochter: »Elsa, wenn Ulrich hungrig ist, so tisch ihm etwas auf. Dann aber mach' Dich davon, Du Unglücksbote der Menschen, die unser Land ruinieren und Verräter an unserem Kaiser sind.«
Schweren Schrittes ging er durch die Halle und bald schlug die große eiserne Thür klirrend ins Schloß. Peter von Reuß war die Ehrlichkeit selbst. Religionssachen waren ihm heiliger Ernst. Seine Ahnen gehörten Geschlecht um Geschlecht der römischen Kirche an. Die Gattin, obwohl sie etwas mit der neuen Bewegung des Wittenberger Mönches sympathisiert hatte, starb in diesem Glauben und erhielt die letzte Oelung von einem der wenigen Priester, welche noch in Nürnberg walteten. Es war ein böser Tag für ihn gewesen, als sein einziger Sohn, der Stolz seines Herzens, vor ihn getreten war und ihn um die Erlaubnis gefragt hatte, sich den Truppen des Schmalkaldischen Bundes anschließen zu dürfen, um, wenn nötig, für die Sache der Reformation zu kämpfen. Unter Flüchen hatte er ihn hinweg geschickt und ihm die elterliche Schwelle auf immer verboten. Wie konnte er es nur wagen, sein Gesicht wieder im Nürnberger Schloß sehen zu lassen? Trotzdem, um der Mutter willen, hatte sich sein Herz für den Jungen erwärmt. Der war in diesen Jahren ein Mann geworden. Langsamen Schrittes ging Peter von Reuß durch den tiefen Schnee im Schloßhof und gab der Burghut die nötigen Befehle. Trotz allem aber konnte er die Besorgnis nicht los werden, daß seinem Sohne etwas widerfahren möchte, und im tiefsten Herzen beseelte ihn nur ein Wunsch, ihn in Sicherheit zu wissen.
Betrübt sahen Ulrich und Elsa dem Vater nach. »Wie sehr er gealtert hat,« unterbrach Ulrich das Schweigen, »er versucht, seinem Gewissen zu folgen und schickt mich in die Fremde, und doch kann er's nicht übers Herz bringen, seinen einzigen Sohn ganz zu verdammen. Erinnerst Du Dich noch, Elsa, an den Tag vor zwei Jahren, an dem ich von hier fortging?«
»Gewißlich,« antwortete das Mädchen, indem es den Arm des Bruders erfaßte. »Die Mutter und ich weinten jenen ganzen Tag und noch oft und viel späterhin, doch der Vater schwieg und sein Blick blieb streng und bitter.«
Ulrich lächelte. »Und doch ist er mir an dem Tag, da er mir so bitter gegenübertrat, den Burgweg hinab nachgelaufen und hat ein Goldstück in meine Hand gedrückt. ›Du magst es nötig haben‹, hat er gesagt und fort war er, ehe ich ihm zu danken vermochte.«
Während er so sprach, machte sich Ulrich wieder reisefertig. Elsa war ihm behilflich, das schwere Felleisen auf den Rücken zu schnallen. »Mußt Du gehen, Ulrich?« frug sie leise und ihre Augen standen voll Thränen. »Ich möchte so gerne noch mit Dir plaudern.«
Er bückte sich und küßte sie. »Ich muß fort, Elsa. Es thut mir leid, denn ich hatte gehofft, bei Dir und der Mutter zu bleiben.« Nach kurzem Schweigen fuhr er fort: »Es ist hier nicht geheuer. Meine Person kommt dabei nicht ins Spiel,« fügte er mit einer stolzen Bewegung des Kopfes hinzu, »denn ich komme als Bote des Herzogs von Sachsen und muß sofort der Versammlung des Bürgerrats wichtige Nachrichten überbringen. Für den Augenblick vertrete ich daher den Kurfürsten. Lebe wohl, teure Schwester. Ich sehe Dich wieder, wenn immer möglich, doch sage niemandem, daß ich hier war, selbst nicht Deiner Freundin Amalie, der Du doch alles ausplauderst.« Schalkhaft zwickte er ihre rosigen Wangen und fügte dann ernst hinzu: »Es könnte Deinem Bruder teuer zu stehen kommen, Elsa.«
Das Mädchen schaute stolz zu ihm auf und sagte: »Kein Wort soll über meine Lippen kommen, Ulrich.«
Er küßte sie auf beide Wangen und ging still hinaus. Vor der Küche zog sich ein gepflasterter Hof hin, in dessen Mitte stand ein großer Lindenbaum. In der Nähe führte eine kleine hölzerne Treppe zu einem niedern Steinhaus hinauf, wo auf den Fenstersimsen etliche Landsknechte sich lehnten, die miteinander lachten und spaßten. Neugierig musterten sie den jungen Fremden, ohne ihn indessen aufzuhalten, und dieser passierte schnellen Schrittes einen niedern Durchgang und betrat den größern und prächtigen Schloßhof. Aus diesem ging er durch das Thor auf die Zugbrücke, welche über den Festungsgraben führte. Hier standen vier mit Hellebarden bewaffnete Söldlinge in voller Kriegstracht. In dem einen erkannte Ulrich sofort Jakob Engel, den nächsten im Rang nach dem Burghauptmann, einen großen Mann mit hagern Gesichtszügen, der ihm schon als Knabe nicht hold gewesen war. Er war ein verbitterter Päpstling und ein verschmitztes Gesicht zeigte die grausame Katzennatur dieses Menschen an. Die Söldlinge musterten Ulrich mit scharfen Augen. Dieser holte mutig aus, obwohl nicht zu verkennen war, daß ihn ein leises Zittern überkam. Es war das eine unsichere Zeit in Deutschland. Niemand konnte für seinen Hals gut stehen, und wenn es bekannt geworden wäre, daß Ulrich als Bote des Herzogs von Sachsen gekommen, so möchte es ihm hier oben auf dem Schloß schlecht ergangen sein. In der Stadt selbst, die überwiegend protestantisch war und der neuen Lehre huldigte, war man mit Leib und Leben sicher.
Ulrich eilte den steilen Burgweg hinunter und hielt nur einmal an, um auf das stattliche Schloß zurückzuschauen. Die Grundmauern zu diesem massiven Bau waren vor vielen Jahrhunderten gelegt worden, und seit undenklichen Menschenaltern hatten die Markgrafen von Nürnberg hier gehaust. Von Zeit zu Zeit hatten sie den Anlagen einen Turm oder eine kleine Kapelle hinzugefügt. Der Markgraf von Nürnberg hatte nunmehr jedoch seinen Hauptsitz auf ein anderes Schloß verlegt, und nur eine kleine Burgwache mit Peter von Reuß als dem Burghauptmann war zurückgeblieben.
Herrlich spiegelte sich die Sonne im schimmernden Schnee wieder und die Luft war scharf und klar. Ulrich war vertieft in traurige Gedanken, denn er hatte sich mit ganzem Herzen gesehnt, seine Mutter noch einmal zu sehen, um ihr teures Angesicht zu küssen, nur einmal noch, und sie um Vergebung zu bitten, wenn er sie betrübt haben sollte. Aber jetzt war nicht die Zeit, seinen Sorgen nachzuhängen; der Jüngling erinnerte sich, daß er sich eines wichtigen Auftrags zu entledigen hatte, und er begann, diesbezügliche Pläne zu schmieden. »Das erste, was ich thue,« sagte er halblaut vor sich hin, »besteht darin, mir ein Gasthaus zu suchen, wo ich bleiben kann; beim Vater auf der Burg ist's unmöglich. Doch erst will ich beim alten Meister Sachs vorsprechen und dann nach dem ›Goldenen Löwen‹ gehen, wo ich als Bote des Herzogs von Sachsen ein sicheres und achtbares Quartier finden werde.« Mit diesen Worten verließ er den Burgweg und ging frischen Schrittes durch die krummen Straßen der Stadt. Nürnberg stand in jener Zeit auf der Höhe seines Wohlstandes und viele und prächtige Bürgerhäuser und Kirchen zierten seine Straßen. Aus den Erkerfenstern, verziert mit reichen Schnitzereien, schauten manche schöne junge Augen herab auf die hohe, wohlgebaute Gestalt des Fremden, der vorüberging. Wie froh wären sie gewesen, etwas über die Ereignisse in der großen Welt draußen zu erfahren, wovon sie so selten hörten. Ulrich war indessen so in Gedanken verloren, daß er weder die Häuser, noch die ihn betrachtenden Augen bemerkte. Er bog in die enge Mehlgasse ein, wo die Häuser mit ihren niederen Dächern und weiten Fenstern sich fast berührten und mit ihren überhängenden Altanen beinahe den klarblauen Himmel verdeckten. Hier hielt er vor einem großen, einladenden Hause an. Ueber der Thüre hing ein eisernes Schild, wie solche vor drei Jahrhunderten in der Mode waren, mit großen schwarzen Rosen und mächtigen Blättern verziert. Darauf stand in goldenen Buchstaben zu lesen: »Hans Sachs, Schuhmachermeister.« Drinnen, in der Nähe der Thüre, saß der Meister selbst, hämmerte lustig drauf los und sang mit reicher Baßstimme eine seiner eigenen rhythmischen Weisen leise vor sich hin. Ulrich lächelte vor Freude über das Willkommen, das ihm hier zum voraus sicher war, legte die Hand an die Thürklinge, öffnete rasch, so daß die kalte Luft nicht hineindringen konnte, und trat getrost ein.