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Orlando war nicht mehr auf dem Schloß gewesen, seitdem der Herzog von Alba daselbst eingetroffen war. Er hatte kein Verlangen, unter diesen Höflingen zu weilen, die sich nicht entblödeten, höhnische Bemerkungen bezüglich seiner Mißgestalt zu machen. Das war aber nur der eine Grund. Der andere und triftigere war der: Orlando fürchtete sich, daß er einmal unverhofft im Umgang mit diesen Päpstlichgesinnten seinen Glauben verraten möchte, den er tief in seinem Innern barg. Vergebens las er in dem alten, in Pergament gebundenen Buch von den bewährten Gottesmännern, wie sie in Zeiten der Anfechtung und Verfolgung durch eine höhere Kraft erhalten wurden. Die Märtyrer der ersten christlichen Zeit, die mit einem Lobgesang auf den Scheiterhaufen stiegen oder in den Löwengraben gingen, standen wie anklagende Geister vor seinem Gemüt. Orlando zitterte bei dem Gedanken und sein Mut erstarb ihm im Herzen.
Der Pater beobachtete den Knaben täglich mit Argusaugen. Er hatte gar bald die Entdeckung gemacht, daß dieser Krüppel, mit seinem wundervoll schönen Gesicht, der Herr und Eigentümer dieses vornehmen Hauses und der darin enthaltenen Reichtümer sei. Der alte Nürnberger Kaufmann hatte seine liebenswürdige junge Frau geradezu verehrt; weil er indessen kein Vertrauen in den Geschäftstakt der Frauen setzte, so hinterließ er ihr nur ein mäßiges Einkommen, während der ganze Rest Orlando in seinem achtzehnten Lebensjahre zufallen sollte. In der Zwischenzeit war das Eigentum den Händen zweier treuer Nürnberger anvertraut, von denen weder die Schlauheit eines Priesters, noch die Schönheit einer Frau auch nur einen Groschen mehr herausbekommen konnte, als sich mit Recht und Ehrlichkeit vertrug.
An einem Nachmittag begab sich der Priester in die Turmstube hinauf. Er trat geräuschlos auf wie eine Katze, denn Orlando war ausgegangen und er wollte mit eigenen Augen sehen, was in dem Lieblingszimmer des Knaben sei. Leise drückte er die Klinge, doch zu seiner Enttäuschung fand er die Thüre verschlossen. Nur den Gesang der Vögel konnte er hören, die sich der Nachmittagssonne freuten, doch die Thüre blieb verschlossen. Als er sich umwandte, stand Anita vor ihm mit einem großen Korb frischgewaschenen Linnens auf ihrem Kopf. Sie trat respektvoll auf die Seile, um den Priester vorbei zu lassen.
»Hast Du den Schlüssel zu dieser Stube?« frug er kurz.
»Nein,« antwortete sie und es blitzte in ihren Augen, als wollte sie sagen, auch wenn sie denselben hätte, würde sie ihn nicht aus der Hand geben. Ihre Anhänglichkeit an Orlando war sehr groß, größer als ihre Furcht vor dem Priester.
»Schließt Orlando die Thüre immer, wenn er ausgeht?«
»Ja, und auch, wenn er darinnen ist,« fügte sie hinzu, obwohl sie sich hätte auf die Zunge beißen mögen, weil sie das gesagt hatte, denn sie sah sofort den Wechsel im Blicke des schleichenden Menschen. »Was er wohl da drinnen will?« murmelte sie, während sie mit ihrer Last auf die Dachbühne ging. Der Pater schlich sich zurück auf sein Zimmer, ein bequem eingerichtetes Gemach im ersten Stockwerk, und er sagte zu sich selbst: »Immer geschlossen, auch wenn er darinnen ist! Ich muß wissen, was dort drinnen geheim gehalten wird.«
Eine Nürnberger Gasse.
Am nächsten Tage schloß sich Orlando in sein Zimmer ein und nahm sein Neues Testament wieder einmal aus seinem Versteck. Diesmal las er in den Briefen Pauli, als er ein Gefangener in Rom war, um vor den Kaiser Nero gebracht zu werden. Es waren köstliche Worte voller Hoffnung, voller Gottvertrauen und voller Selbstaufopferung. »Es sei aber ferne von mir rühmen, denn allein von dem Kreuz unseres Herrn Jesu Christi, durch welchen mir die Welt gekreuziget ist und ich der Welt.« Orlando blickte horchend auf. Waren das Schritte draußen? Hastig steckte er den Band in die Tuchumhüllung und verschloß es in seinem Schrank. Es klopfte, Orlando öffnete die Thüre und war überrascht den Pater vor sich stehen zu sehen. Ohne einen Augenblick zu zögern, öffnete er die Thüre weit. »Ihr thut mir zu viel Ehre an, ehrwürdiger Vater,« sagte er, »wollt Ihr nicht eintreten und Platz nehmen?«
Sein schwarzes Kleid zusammenfassend, schritt der Priester noch eine Stufe höher und betrat das Zimmer. Orlando zog den einzigen bequemen Stuhl herbei, der hübsch geschnitzt und mit einem Samtkissen versehen war, den er noch soeben eingenommen hatte, doch der Priester wehrte mit einer leichten Bewegung ab. »Ich komme mit einem Auftrag,« sagte er, aber seine scharfen Augen überflogen das Zimmer und mit einem Kennerblick beobachtete er jeden Gegenstand in demselben.
Orlando entging das nicht und er bebte mit seiner ganzen Seele. Konnte dieser Mann mit seinen durchbohrenden Augen auch in verschlossene Schränke schauen und verbotene Bücher entdecken? Die Vögel sangen dem Gast zu Ehren ihre schönsten Lieder und die Katze schmiegte sich an ihn, doch er schob sie hinweg. Der Pater hatte kein Herz für solche Lieblinge. Etwas Verdächtiges vermochte er nicht zu erspähen. Und doch glaubte er, das Rauschen von Papier gehört zu haben, als er vor der Thüre stand.
»Ich stattete heute morgen der Burg einen Besuch ab und hatte die Ehre mich mit Seiner Majestät zu unterhalten. Er hat Dich nicht vergessen und befahl mir, Dich heute nachmittag um vier Uhr zu ihm zu begleiten. Nun kleide Dich aufs beste,« fügte er mit seinem üblichen Lächeln hinzu, »ich werde hier auf Dich warten.« Orlando warf einen unruhigen Blick über das Zimmer, doch wagte er nicht zu widersprechen. »Du hast manche ausgezeichnete Bücher hier,« fuhr der Priester fort und betrachtete eine Reihe in Leder gebundene Schriften. »Es soll mich freuen, sie durchzublättern. Beeile Dich. Es ist bereits nach drei.« Die letztere Mahnung wäre nicht nötig gewesen, denn Orlando dachte nicht im geringsten daran, den Priester länger in seinem Zimmer zu lassen, als durchaus notwendig war. Vater Antonio nützte die Zeit gut aus. Er schielte unter den Tisch und in die Schubfächer eines großen Schrankes. Er untersuchte Papierschnitzel, welche umherlagen, ging nach den Schränken, die auf jeder Seite des Feuerherdes standen, und probierte die Thüren. »H'm. Noch mehr Schlösser und Schlüssel!« murmelte er und blickte in ein Schlüsselloch, um zu sehen, ob dasselbe kompliziert sei. »Eines Tages muß ich auch noch da hinein schauen.« Er trat ans Fenster und überblickte die wunderschöne Stadt mit ihren mächtigen Gebäuden und großen Kirchtürmen. »Dieser Krüppel darf nicht für die Protestanten gewonnen werden,« dachte er, »er ist über alle meine Erwartungen reich und klug dazu.«
»Ich bin bereit, Vater,« ließ sich Orlandos Stimme vernehmen.
Kaiser Karl befand sich in einer der großen Hallen des Schlosses, als der Priester und Orlando bei ihm angemeldet wurden. »Komm hierher, mein Junge. Ich konnte gestern nur einen flüchtigen Blick auf Dich werfen, als Du neben Deiner schönen Mutter standest. Nein, kniee nicht! Wir brauchen hier keine solche Formalitäten.«
Einer Bewegung des Kaisers gehorchend, setzte sich Orlando auf einen niederen Schemel, der in der Nähe Seiner Majestät stand, während der Pater etwas weiter entfernt Platz nahm. Es waren eine Anzahl Knappen im Zimmer; etliche hielten sich in der Nähe ihres königlichen Herrn auf, andere unterhielten sich leise bei einem hohen, spitz zulaufenden Fenster, durch das man weit über die Ebene schauen konnte. Der Kaiser richtete an Orlando viele Fragen über seine Heimat und seine Studien. Obwohl er selbst kein Gelehrter war, so ehrte Karl der Fünfte diejenigen doch, die in der Litteratur, in den Sprachen und in den Künsten wohl bewandert waren, und er that alles, was in seiner Macht stand, um sie zu ermutigen und ihnen zu helfen. Zum Erstaunen des Priesters, der in ihm wohl einen klugen, aber stillen Knaben vermutete, sprach Orlando, durch die Gegenwart des Kaisers begeistert, in beredter Weise.
»Der Herzog von Alba,« meldete ein Knappe und alle, mit Ausnahme des Kaisers, erhoben sich, als der Feldherr in vornehmer Haltung eintrat. Er stand in hoher Gunst beim Kaiser, der ihm verdienterweise manche seiner jüngsten Siege zuschrieb.
»Setzt Euch hier nieder,« sagte Seine Majestät, die sehr gut aufgelegt war, »und hört diesem jungen Herrn zu. Es ist geradezu merkwürdig,« erklärte er dem Herzog mit unterdrückter Stimme.
»Wenn Euer Majestät mir etliche Augenblicke gewähren wollten,« sagte er, »wäre ich dankbar.«
»Hier bin ich, was ist's? Wohl nichts Geheimes, wie ich vermute. Nichts, um deswillen wir den guten Vater Antonio und seinen jungen Schützling entlassen müßten?«
»Nein, Euer Majestät. Es handelt sich blos um einen Rädelsführer, der vor einigen Wochen auf meinen Befehl hin in den runden Turm geworfen wurde.«
»Ich habe gehört, daß es Euch gelungen ist, seit Eurer Ankunft etliche in den runden Turm zu werfen,« antwortete der Kaiser mit einem vergnügten Lachen.
Der Herzog lächelte zuvorkommend. »Keiner derselben ist der kaiserlichen Beachtung würdig, nur einer.«
Orlando hörte nicht auf die Unterredung zwischen dem Kaiser und dem Herzog. Seine Augen ruhten mit großem Interesse auf den verschiedenen Gegenständen im Zimmer. Nie zuvor war er in diesem Teil des Schlosses gewesen, denn diese Räumlichkeiten wurden nur bei der Gelegenheit eines kaiserlichen Besuches geöffnet. Inmitten dieser Zerstreuung fing er aber die nächsten Worte auf.
»Es ist ein junger Mann, ein Protestant,« fuhr der Herzog fort.
Der Kaiser erhob seine Augenbrauen. »Ihr müßt gerade jetzt sehr vorsichtig mit den Protestanten umgehen; ein kleines Zugeständnis mag uns viel Blut ersparen.«
»Ich weiß es, doch dies, Euer Majestät, ist ein Ausnahmefall. Der Jüngling ist ein Bote Johann Friedrichs von Sachsen, der den Rat von Nürnberg um Truppen anging, um gegen Euch zu kämpfen.«
Zwei große Adern schwollen drohend auf der Stirne des Kaisers an. »Wagt er es, eine solche Bitte an meine Stadt zu richten?« frug er mit heiserer Stimme.
»Das hat er gewagt,« antwortete der Herzog, dessen Worte sichtbarlich den gewünschten Erfolg erzielt hatten. »In der Nacht vor meiner Ankunft war der ganze Rat versammelt, um die Botschaft dieses jungen Mannes zu hören. Als sie unsere Truppen kommen hörten, stoben sie auseinander, wie das trockene Laub im Herbst vor einem Windstoß.« Der Herzog stieß ein kurzes, harsches Lachen aus. »Ist es der Wille Eurer Majestät, daß dieser Bote in Freiheit gesetzt werde?« frug er und sein Blick streifte den des Priesters.
»Nicht im geringsten!« donnerte der Kaiser. »Werft ihn ins Verließ und belaßt ihn da.«
»Er ist sicher dort, das versichere ich Euer Majestät, im tiefsten Kerker des runden Turmes.«
»Hat der Gefangene meine Dienste nötig?« frug der Pater.
»Euer Ehrwürden vergessen, daß er ein Protestant ist,« antwortete der Herzog, und fügte dann bezeichnend hinzu, »er mag Eure Dienste ehelang bedürfen.«
»Wie heißt der Mann? Habe ich je von ihm gehört?« frug der Kaiser.
»Es ist möglich, denn es wird gesagt, daß er in mancher heißen Schlacht an der Seite des Kurfürsten sich schlug. Sein Name ist Ulrich von Reuß.«
»Von Reuß? Das ist der Name des Burghauptmanns hier. Ich sah ihn diesen Morgen.«
»Es ist sein Sohn, Euer Majestät.«
»Und ein Protestant?«
»Ja, ich habe mich gewundert –« dann hielt der Herzog inne.
»Peter von Reuß hat jahrelang hier gedient,« sagte der Kaiser kühl. »Ich zweifle nicht an seiner Treue.«
Der Herzog verbeugte sich. »Euer Majestät wissen das am besten.«
Orlando überkam es eiskalt und er war einer Ohnmacht nahe, als er diese Worte vernahm. Daß der strenge Blick des Paters auf ihn gerichtet war, wußte er wohl. Konnte es möglich sein, daß Ulrich trotz allem nicht aus Nürnberg entkommen war, sondern seit zwei Wochen im runden Turm schmachtete? Der Gedanke war schrecklich. Er mußte heimgehen und darüber nachdenken. Konnte nichts gethan werden, um Ulrich vor den Folgen seiner Unüberlegtheit zu retten, mit der er an jenem Tage nach dem Schloß gegangen war? Der Kaiser lehnte sich zurück in seine Kissen, während er den Pater und den Krüppel vergaß, und gab sich gänzlich seinen eigenen Gedanken hin. Diese fluchwürdige Reformation! Welche Berge von Sorgen hatte sie über ganz Deutschland gebracht!
Er fuhr auf, als der Priester auf ihn zutrat. »Ich glaube, mein junger Freund fühlt unwohl, Euer Majestät; erlaubt Ihr, daß wir uns zurückziehen?«
»Gewißlich.« Der Kaiser hielt dem Knaben herablassend die Hand zum Kusse dar und empfing den Segen des Priesters.
Als die beiden das Schloß verließen, frug der Pater Orlando: »Kennst Du diesen protestantischen Verräter?«
Orlandos Stimme bebte. »Ich habe ihn vor Jahren gekannt,« antwortete er, »als er in Nürnberg lebte.« Dann kam er sich vor, wie ein Verbrecher, wie ein Mann, der seinen Freunden untreu geworden ist, beinahe wie Petrus, als die Magd im Palast ihn fragte: »Und Du warst auch mit dem Jesus von Nazareth?« und er ihn mit einem Schwur verleugnete.