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Auf der gepflasterten Gasse, die vom Schloß herabführte, ertönte der Hufschlag von Pferden und Hans Sachs trat auf die Seite, um drei Reiter passieren zu lassen, die rasch auf ihn zukamen. Er hatte auf seinem Rundgang keinerlei Neuigkeiten gehört. Nürnberg schien sich in das Unvermeidliche zu schicken. Der Herzog von Alba war da, die Stadt war in den Händen seiner Soldaten – was war da weiter zu thun? Ermutigt durch das friedliche Angehen der Fremden, so kriegerisch ihr Aussehen auch war, öffneten die Bürger wieder ihre Werkstätten und gingen ihrer gewohnten Beschäftigung nach. Die Reiter kamen näher und näher und der Meister gewahrte, daß ihr Anführer ein noch junger Mann von nicht mehr als fünfunddreißig Jahren war, mit einem dunkeln, hübschen Gesicht. Er trug einen leichten Panzer, reich mit Gold eingelegt. Es waren keine Waffen an ihm zu sehen, blos das kurze, dicke Schwert, welches die Ritter jener Zeit immer zu tragen pflegten. Er hielt neben dem Bürger an, grüßte ihn freundlich und frug in gebrochenem Deutsch, ob er ihm sagen könne, wo die Witwe Weber wohne.
»Die Witwe Weber,« antwortete Hans Sachs, indem er sich verbeugte, »wohnt in der sogenannten ›Casa d'Oro‹. Ihr, die Ihr aus dem Süden kommt, werdet das Haus sofort erkennen. Folgt dieser Straße bis zu dem Gasthaus, dessen Schild von hier aus zu sehen ist und wendet Euch dann zur Linken. Das Haus ist nicht unweit der St. Lorenzkirche gelegen.«
Die St. Lorenzkirche zu Nürnberg.
Der Fremde berührte mit seiner schwer behandschuhten Rechten seinen breitkrämpigen Hut und ritt hinweg, nur um plötzlich sein Pferd aufs neue anzuhalten. »Ich glaube, sie hat einen Sohn,« sagte er.
»Ja, mein Herr; Orlando, ein armer, verwachsener Knabe.«
»So habe ich gehört; gehabt Euch wohl!«
Der Marchese di San Marzano ritt eilend davon und betrachtete voll Erstaunen, ja selbst mit Bewunderung diese Stadt, die im sechszehnten Jahrhundert weit und breit rühmlichst bekannt war. Ihre großen Kirchen, im vollendeten gothischen Stil erbaut, ihre zahlreichen Brunnen mit ihren merkwürdigen Steinfiguren, ihre breiten Straßen, die von malerischen Häusern umsäumt waren, vor allem aber der offenbare Wohlstand ihrer Bürger machten einen tiefen Eindruck auf den jungen Mann, der zum ersten Male im Norden weilte. Er winkte dem Reiter, welcher gerade hinter ihm ritt, heranzukommen. »Dies ist eine wunderschöne Stadt, Vater Antonio,« sagte er und wies auf etliche interessante Punkte hin.
»Sicherlich,« antwortete sein Gefährte, »doch hält sie keinen Vergleich aus mit unseren italienischen Städten mit ihrem sanften Licht und Schatten und ihren Gärten voll Rosen.« Es fröstelte ihn in der kalten Winterluft.
»Es giebt kein zweites Italien,« erwiderte der Marchese voll Stolz. Sie hatten jetzt das Gasthaus erreicht, von welchem der Meister gesprochen hatte, und nach dessen Weisung wandte der Führer sein Pferd zur Linken. »Dort drüben muß das Haus sein. Ein venedischer Palast in Nürnberg!« Als sie näher kamen, erblickte der Priester an der Façade des Gebäudes das Mosaikbild der Madonna mit seinem immer brennenden roten Licht und bekreuzte sich ehrfürchtig. »Die Signora hat weder ihre Heimat, noch ihren Glauben vergessen,« sagte er laut.
Der Marchese di San Marzano war bereits von seinem Pferde abgestiegen, warf die Zügel in die Hand eines Bedienten und eilte vorwärts, um Orlando zu begrüßen, der in demselben Augenblick die Thüre erreichte. Das gewandte Auge des älteren Mannes hatte sofort die verkrüppelte Gestalt des Knaben, aber auch die auffallende Ähnlichkeit mit seiner Mutter bemerkt. »Bist Du Orlando, mein Vetter?« frug er, indem er ihm seine Hand freudig zum Gruße bot.
»Ich bin Orlando Weber,« antwortete der Krüppel, »und Ihr müßt der Herr sein, den meine Mutter so sehnlich erwartet, der Marchese di San Marzano.«
»Nenne mich lieber Vetter Alberto, Orlando. Nur keine Formalitäten zwischen uns.«
Der Knabe errötete vor Freude über diese warme Begrüßung. In Wahrheit hatte er dieser Begegnung mit Bangen entgegengesehen, weil er fürchtete, daß sein Vetter, den er nie zuvor gesehen, vor seiner Mißgestalt zurückschrecken möchte.
»Und dies ist Vater Antonio,« fuhr der Marchese fort, indem er auf den Pater deutete, der den Knaben voll Interesse beobachtet hatte. Orlando sprach etwas gezwungen mit dem Priester, aber doch in aller nötigen Höflichkeit. »Meine Mutter wird Euch wohl erwarten,« sagte er. In demselben Augenblick öffnete sich die Thür des Hauses und da stand Carlotta Weber, deren schönes Angesicht voll freudiger Erregung glühte.
Der Marquis eilte auf sie zu. »Cousine Carlotta, viele Jahre sind verflossen, seitdem ich Dich nicht mehr gesehen habe. Damals warst Du noch ein junges Mädchen von sechzehn Jahren.«
»Und jetzt siehst Du in mir eine alte Frau,« antwortete sie mit einem Aufleuchten ihrer dunklen Augen.
»Doch finde ich die Frau schöner, als das Mädchen,« meinte schelmisch der Vetter mit einer leichten Verneigung und schickte sich an, ihre Hand zu küssen.
Der Priester stand etwas weiter unten und Frau Weber reichte ihm ihre Hand. »Ist das der Vater Antonio, von dem Du geschrieben hast?« frug sie.
»Verzeiht, ehrwürdiger Vater, daß ich Euch vergessen habe in dem Augenblick der Begrüßung meiner Cousine, die ich so lange nicht gesehen hatte. Es ist Vater Antonio, Carlotta, einer unserer beliebtesten Priester in Rom. Er könnte längst einen Bischofsstuhl inne haben oder mit dem Kardinalshut geziert sein, wäre er nicht allzu bescheiden.«
Der Pater lächelte und verbeugte sich dann mit den Worten: »Der Marchese di San Marzano erweist mir zu viel Ehre.«
Anita, die wartete, führte die Gäste in ein großes Gesellschaftszimmer hinauf, das nur bei besonderen Gelegenheiten gebraucht wurde. Der Boden war mit schweren Teppichen belegt und die Möbel waren nach dem kostbarsten Muster verfertigt, viele davon mit Ebenholz und Perlmutter eingelegt. Auf den Sofas lagen schwere Kissen von Damast und Samt, mit feinen Spitzen besetzt, während auf niederen Tischen seltenes Porzellan und fein geschliffene Glaswaren standen. Der Priester hielt mit wohlgeübtem Auge Umschau. Hier mußte Gold in Fülle vorhanden sein! Und der Marchese murmelte leise: »Der alte Nürnberger muß sie angebetet haben! Ob dieses Haus ihr oder ihrem Sohne gehören mag?« Und wieder suchte sein Blick nach den sanften dunklen Augen der Frau, zu welcher er auf Besuch gekommen war. Nur selten hatte er eine weibliche Gestalt gesehen, – und er war mit den ersten Schönheiten von Rom, Bologna und Venedig bekannt geworden, – die ihn so angesprochen hatte. Carlotta Weber schwärmte besonders für Purpur. In jedem Kleid, das sie trug, war diese prächtige Farbe mehr oder weniger zu finden, welche so harmonisch mit ihrer olivenfarbigen Haut und ihrem seidenen Haar sich verschmolz. Heute trug sie ein schwarzes Kleid, das von einer purpurnen Taille herabwallte, und letztere selbst war nach der herkömmlichen Mode mit köstlichen Steinen besetzt. Ueberall waren die Zeichen großen Reichtums wahrzunehmen und ihr Vetter war darüber voll Bewunderung. Er hatte nicht erwartet, seine Verwandte in einer solchen Umgebung zu finden. Lange sprachen sie zusammen, während Vater Antonio zuhörte und gelegentlich etwas zu dem hinzufügte, was sein junger Freund sagte. Orlando saß in der Nähe und war über seinen neuen Vetter ganz entzückt. Er war ein blühender, kraftvoller Mann, dessen Angesicht sich mit jedem vorübergehenden Gefühl wechselte und dessen klare Augen glänzten und spielten, wie die einer Frau. Anita trug Erfrischungen für die Gäste auf und die Zeit verging so schnell, daß die große Glocke auf dem Wachtturme die Mittagsstunde ankündigte, ehe sie das, was sie einander sagen wollten, nur halb vollendet hatten. Frau Weber erkundigte sich eingehend nach Personen, die sie einst gekannt hatte. Sie folgte in atemloser Spannung den Ausführungen ihres Vetters, als er das lustige Leben jener Städte beschrieb, welche sie so lange nicht mehr gesehen. Die Glocke kündigte die Mittagsstunde an und der Marchese erhob sich. »Ich hatte keine Idee, daß es schon so spät sei! Verzeiht, Vater Antonio, ich möchte gerne noch einen Augenblick mit meiner Cousine ein Wort allein reden.«
Der schöne Brunnen.
»Gerne,« antwortete der Priester. »Ich werde ein wenig mit diesem jungen Herrn sprechen, der sich so für unsere Unterhaltung zu interessieren schien. Möchtest Du gerne nach Italien gehen oder gar nach Rom, wo der heilige Vater wohnt?« Orlandos Gesicht verfinsterte sich, was dem scharfsichtigen Blick des Priesters nicht entging. Da mußte etwas verkehrt sein.
»Ich würde mich sehr freuen, wenn ich fremde Länder bereisen könnte,« erwiderte ausweichend Orlando.
»In Rom könntest du die heiligen Reliquien sehen und vor den kostbarsten Altären knieen. Wie ich höre, haben hier in Nürnberg die Ketzereien des Wittenberger Mönches großen Anhang gefunden. Doch das wird sich mit der Zeit wieder ändern. Die Feinde unseres Glaubens müssen durch Gewalt bezwungen und zurückgebracht werden unter den Hirtenstab des heiligen Vaters. Wenn nicht –« und bei diesen Worten nahm das Angesicht des Priesters einen so scharfen und drohenden Ausdruck an, daß Orlando zitterte – »so wird der Fluch der Kirche in Ewigkeit auf ihnen ruhen, sie werden verworfen von der Erde, gehaßt von allen Menschen und ausgerottet werden wie die Rotte Korah!« Der Pater war ein Mann von hohem Wuchs und er schaute nun, zu seiner vollen Höhe aufgerichtet, auf den Krüppel herab. Plötzlich aber änderte sich sein Ausdruck und er legte seine Hand sanft auf das Haupt des Knaben. »Wir haben nichts zu fürchten, mein Sohn, denn wir sind treu und aufrichtig in unserer Gesinnung.«
Die Lippen des Krüppels bebten, so daß er kaum zu sprechen im stande war. Wer war dieser fürchterliche Mann? Er konnte seinen Blick kaum ertragen! In seinen Augen hatte es unheimlich aufgeblitzt, als er diese Worte gesprochen hatte. Orlando sagte sich in seinem Herzen: »Auch ich bin ein Protestant,« doch er besaß noch nicht den Mut, das frei und offen zu bekennen.
Der Marchese trat aus der tiefen Fensternische, wo er und seine Cousine sich in leiser Stimme unterhalten hatten. »Frau Weber läßt Dich durch mich einladen, während Deines Aufenthaltes in Nürnberg in ihrem Hause Quartier zu nehmen, Vater Antonio. Sie fühlt die Notwendigkeit eines geistlichen Ratgebers und Du wirst es hier viel bequemer haben, als droben bei uns.«
»Es ist ein Zimmer für Euch da, Vater, wenn Ihr Euch entscheiden könnt, es zu bewohnen,« fügte die Dame hinzu. »Ich werde es mir zur Ehre anrechnen, wenn Ihr bei uns verbleibt.«
»Ich danke Euch, verehrte Frau,« antwortete der Priester mit einer tiefen Stimme; »ich werde mich freuen, Eure Einladung anzunehmen, und hoffe zuversichtlich, daß mein geringer Dienst für das Heil Eurer Seele und derjenigen Eures geliebten Sohnes von Wert sein wird.« Orlando schrak zurück, als hätte ihn ein eisiger Luftzug getroffen. »Doch ich muß auf etliche Stunden zum Herzog. Er hat mich auf diesen Nachmittag zu sich befohlen. Wenn es Euch angenehm ist, so komme ich etwa um fünf Uhr zurück.« Es wurden Abschiedsworte ausgetauscht und dann ritten die zwei hinweg. Der Marchese wandte sich um und winkte mit der Hand nach seiner Cousine, die aus einem Erkerfenster ihnen nachschaute.
Orlando schlich sich auf sein Zimmer und warf sich dort in einen Stuhl in der Nähe des Tisches. Die Angorakatze schlich an ihn heran, doch er sah sie nicht. Die Vögel sangen ihre schönsten Lieder, doch er hörte sie nicht. Es schien seiner empfindsamen Seele, als ob die durchbohrenden Augen des Priesters noch auf ihm ruhten und als ob er noch immer das Echo seiner Worte hörte: »Sie werden verworfen von der Erde, gehaßt von allen Menschen und ausgerottet werden wie die Rotte Korah!« Sollte das sein Schicksal sein? Wie konnte er in der Gegenwart dieses Mannes in seinem Heim leben? Und er sollte noch diese Nacht kommen, sollte am Tische neben ihm sitzen und ihn jede Stunde des Tages beobachten. Es würde sicherlich nicht lange währen, bis diese durchdringenden Augen tief auf den Grund seiner Seele gesehen und dort gelesen haben würden: »Abtrünniger! Ketzer!«