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Kapitel 20.
Man passiere den Träger.

Der Kaiser empfing den Krüppel aufs freundlichste. Die Langeweile plagte Seine Majestät. Mit Sehnsucht schaute er dem Tage entgegen, da er dem alten spießbürgerlichen Nürnberg den Rücken kehren konnte. Karl der Fünfte war ein Mann der That. »Hierher, Orlando,« rief er aus. »Du bist gerade zur rechten Zeit gekommen, denn Vater Antonio will sich soeben verabschieden und der Herzog von Alba ist unsichtbar geworden. Selbst Dein Vetter Alberto ist verschwunden.«

Der Priester hatte sich bereits erhoben, um das Gemach zu verlassen. »Du bist spät, mein Sohn,« sagte er in freundlichem Ton, »und es ist eine stürmische Nacht.«

»Ich werde bald kommen, Vater,« erwiderte Orlando. »Bitte, sagt meiner Mutter, daß sie sich um meinetwillen keine Sorge machen soll. Ich bin's ja gewohnt, in der Dunkelheit diese Straßen zu gehen.«

»Gute Nacht denn, wenn Du nicht mit mir gehen willst.«

»Das wird er gewißlich nicht thun!« unterbrach ihn der Kaiser im gnädigen Humor. »Er wird hier bleiben und mir im Schachspiel Gesellschaft leisten, bis dieses Wetter sich verzogen und der Regen aufgehört hat.«

Orlando war froh, als er die langen Gewänder des Priesters in der Thüre verschwinden sah, und nicht minder, daß sein kaiserlicher Herr bei so guter Laune war. Der Page, der den Krüppel angemeldet hatte, holte das Schachbrett herbei und setzte dasselbe auf den runden Tisch zwischen dem Kaiser und dem Knaben. Orlando, der manche lange Stunde beim Schachbrett verbracht hatte, war ein Meister im Spiel. Doch er hütete sich wohl, den Kaiser ja nicht zu oft schachmatt zu setzen. Karl der Fünfte war nicht gewohnt, daß er den kürzeren zog. Orlando sah bald ein, daß er sein Ziel am besten erreichen konnte, wenn er den Kaiser in guter Stimmung hielt, und so ließ er ihn denn Spiel nach Spiel gewinnen. Es hatte aufgehört zu regnen und die schwarzen Wolken jagten dem Osten zu. Orlando erhob sich und schaute hinaus. Der Mond schien die Wolken durchbrechen zu wollen. »Wenn es Eurer Majestät gefällig ist, so werde ich mich nun auf den Heimweg machen,« sagte er. »Das Gewitter hat sich verzogen.«

Der Schloßhof auf der Burg.

Der Kaiser unterdrückte ein Gähnen. »So geh', Orlando. Wir haben einen angenehmen Abend miteinander verbracht und hoffentlich werden wir einander noch oft so Gesellschaft leisten. Vater Antonio sagt mir, daß Deine Mutter einverstanden ist, Dich mit mir ziehen zu lassen, und daß Du selbst ob dieser Aussicht nicht unglücklich bist.« Er zwickte mit freundlicher Herablassung die weiße Wange des Krüppels.

»Eurer Majestät Einladung gereicht mir zur großen Ehre, doch glaube ich, daß Ihr meine geringen Fähigkeiten überschätzt.«

»Laß mich darüber sorgen,« gab der Kaiser lachend zurück. Als er sah, daß Orlando immer noch zögerte, frug er freundlich: »Hast Du noch etwas auf dem Herzen?«

Der Krüppel erhob seine großen, dunkeln Augen zum Kaiser und ein schwerer Atemzug entwand sich seinen Lippen. Jetzt war die Zeit gekommen.

»Wollten Euer Majestät mir erlauben, Euch um eine Gefälligkeit zu fragen?«

»Bis zur Hälfte meines Reiches,« erwiderte Karl scherzhaft. »Und worin besteht diese große Gefälligkeit, Orlando? Fürchte Dich nicht.«

Die beiden befanden sich so gut wie allein an dem einen Ende des großen Gemachs. Etliche Männer, die zu warten schienen, standen etwas abseits und unterhielten sich miteinander.

»Es befindet sich ein Gefangener hier auf dem Schloß, Euer Majestät, ein Jüngling, etwas älter als ich. Ich bin mit ihm bekannt gewesen und er hat mir einst eine Gefälligkeit erwiesen.«

»O, Du meinst Ulrich von Reuß?«

»Ja, Euer Majestät. Morgen früh soll er sterben.«

»Ich weiß es und freue mich nicht sonderlich darüber,« sagte der Kaiser, mehr zu sich selbst, als zum Krüppel. »Diese brutalen Handlungen sind nicht nach meinem Geschmack, doch ist dies eine Angelegenheit des Herzogs von Alba. Ich gab ihm volle Autorität, nach bestem Ermessen zu handeln.«

»Wenn es Eurer Majestät gefällig ist, möchte ich ihn heute nacht gerne sehen.«

Der Kaiser zögerte. Persönlich hatte er nichts dagegen, daß dieser schwächliche Krüppel seinem unglücklichen Freund einen Besuch abstatte, doch möchte der Herzog sich darüber aufhalten. Orlando erriet die Gedanken des Kaisers. »Wollen Euer Majestät mir nicht erlauben, nur etliche Augenblicke in dessen Zelle zu verweilen? Ich möchte ihn so gerne sehen und ihm vielleicht etwas Trost zusprechen. Es muß schwer sein, so jung sterben zu müssen, Euer Majestät.«

Der Kaiser blickte freundlich in das schöne Gesicht des verkrüppelten Knaben. »Das ist wahr, mein Junge. Was hat dieser Jüngling gethan, daß Du ihm so zugethan bist?«

Dann erzählte Orlando, wie Ulrich ihn, den armen Krüppel, in Schutz genommen habe.

»Ich wünschte, daß jedermann sich so dankbar für erwiesene Gefälligkeiten zeigen würde, wie dies bei Dir der Fall ist,« sagte der Kaiser, der ihm aufmerksam zugehört hatte. Dann nahm er am Tische Platz und schrieb etliche Worte. Der Krüppel empfing hocherfreut das Papier aus des Kaisers Hand und entfernte sich, nachdem er ihm in ehrerbietiger Weise gute Nachtruhe gewünscht hatte. Im Vorzimmer hielt er an und las im Scheine des Lichtes, was auf dem Zettel stand. »Man passiere den Träger. Karl, Rex.« Orlandos Gedanken jagten sich förmlich. »Man passiere den Träger!« Der Kaiser hatte sicherlich nicht allzu überlegt gehandelt, als er diese so vielsagenden Worte niederschrieb.

Er ging durch die verschiedenen Höfe, die bereits stille und verlassen waren – denn es war schon spät in der Nacht –, und erreichte schließlich den offenen Platz, wo der runde Turm gelegen war. Es war dies in Wirklichkeit ein Anbau des Schlosses, obschon kein Teil des letzteren selbst. Der Turm grenzte an ein anderes großes Gebäude innerhalb der von dem Festungsgraben umzogenen Mauern, an die Kaiserstallung. Ursprünglich war hier Korn aufgespeichert worden, wenn indessen ein Kaiser mit großem Gefolge in Nürnberg eintraf, so wurden die Pferde da untergebracht. Zwei große Türme ragten an jeder Seite des Gebäudes empor. Der eine davon, der sogenannte fünfeckige Turm, ist der älteste in Nürnberg und vielfach von Sagen umwoben. Die Stadtmauer berührt bei diesem alten Turm beinahe die Mauer des Schlosses. In 1348 wurde in einem Verließ daselbst ein Raubritter gefangen gehalten. Dieser, Appolonias von Gailingen, war ein schlimmer Geselle gewesen und wehe den reichen Kaufleuten, die mit kostbaren Waren vom Süden herkamen und in seine Hände fielen. Die Bürger freuten sich über die Maßen, als es ihnen gelang, des Gauners habhaft zu werden. Er bat, daß man ihm sein Lieblingspferd belassen möchte, und dieser Wunsch wurde ihm von den guten Nürnbergern gewährt. Wie groß war am nächsten Morgen ihr Erstaunen, als sie die Entdeckung machten, daß ihr Vogel entflohen war. Er hatte im Sattel seines Pferdes vom Fenster aus über die Stadtmauer gesetzt und so seine Flucht bewerkstellig:. Zwei Hufeisen, die an der Mauer angenagelt sind und angeblich von dem fliegenden Pferd herrühren sollen, werden heute noch als ein Beweis für dieses tollkühne Wagnis gezeigt.

Es war in dem runden Turm, am andern Ende des Kornhauses, wo Ulrich jetzt nach den unendlichen Leibes- und Seelenqualen ruhig schlief. Orlando betrat den Thorweg des Turmes und der Wachtposten rief:

»Halt, wer da?«

»Ein Freund. Ich wünsche Ulrich von Reuß zu sehen.«

»Mein junger Herr, zu dem findet niemand Zutritt. O, Ihr seid es, Herr Orlando,« fuhr der Mann fort. »Ich habe Euch nicht gleich erkannt. Es thut mir leid, aber das sind meine Instruktionen.«

»Ich komme soeben vom Kaiser,« sagte Orlando, »und auf sein Wort hin kann ich passieren.«

Die Wache nahm den Zettel und las dessen Inhalt. Dann salutierte sie. »Passiert, mein Herr! Die Wache dort hat den Schlüssel. Ich bitte um Verzeihung, daß ich Euch warten ließ. Ich wußte nicht, daß Ihr kaiserliche Vollmacht hattet.«

Es war Franz Ritter, der heute nacht auf Wache stand. Er berührte Orlando leicht und raunte ihm ins Ohr: »Wenn Ihr nur etwas für den Jungen thun könntet! Ich schlich heute früh am Tage zu seiner Zelle und horchte an der Thüre. Er schluchzte wie ein Kind. Sein Vater kann ihn nicht mehr besuchen. Er ist nun allein mit seinem Schmerz.«

Orlando schaute den Mann prüfend an. »Habt Ihr ihn gern, Franz?«

»Wie meinen eigenen Sohn. Aber ich kann nichts für ihn thun. Ich bin nur ein armer Burgwächter. Ihr aber – man sagt, daß der Kaiser Euch besonders ehrt. Könnt Ihr nicht etwas thun?«

»Würdet Ihr ihm zur Flucht verhelfen, Franz?«

»Wenn dies anginge. Doch ich habe eine Familie, die auf mich angewiesen ist. Sollte ich mich gegen den Herzog von Alba vergehen, so würde ich gar bald von jenem Turm herab im Winde baumeln und meine Kinder ständen vaterlos da.«

Orlando erwiderte darauf nichts mehr, sondern betrat den schmalen Gang und schritt der Treppe zu, die in den Turm hinab führte. Er wies der Wache seinen Paß vor und sie bat ihn, ihm zu folgen. Orlando glaubte sich einer Ohnmacht nahe. Es herrschte in diesem Kellergewölbe eine feuchte, faule Luft. Das Wasser tropfte von den Wänden und Asseln und andere Untiere suchten ihre Schlupfwinkel auf, als das Fackellicht die Finsternis verscheuchte. Der Krüppel bot alles auf, um seine Kräfte zusammenzuhalten, und mußte sich zwingen, der Wache weiter zu folgen. Er durfte jetzt seiner Schwäche nicht zum Opfer fallen. Noch hatte er keine bestimmten Pläne, wie die Flucht Ulrichs zu bewerkstelligen. Er vertraute auf Gott, daß er alles zum besten lenken würde. So trat er in die Zelle ein und vernahm noch, als ob er in einem Traum befangen sei, die Stimme der Wache:

»Ich zünde eine neue Fackel an und dieselbe wird fast bis zum Morgen währen. Ich befürchte, mein Herr, daß Ihr heute nacht nicht mehr nach Nürnberg zurückkehren könnt, denn die Thore sind alle geschlossen.«

»Das hat nichts zu sagen. Ich habe einen Paß von des Kaisers Hand.«

»Nehmt Euch die nötige Zeit, mein Herr; die Wache wird um zehn Uhr heute nacht gewechselt werden.«

»Ich danke,« antwortete der Krüppel.

Die Wache zog sich zurück und die Thüre fiel so schwer hinter ihr ins Schloß, daß Ulrich, der auf seinem Lager fest geschlafen hatte, entsetzt auffuhr. Er stand aufrecht da und verdeckte seine Augen vor dem Schein der Fackel. »Ist es schon Zeit?« frug er mit geisterhafter Stimme.

Orlando war über alle Maßen erschrocken über die Veränderung, die mit seinem Freunde vorgegangen war. Er trat näher auf ihn zu und ergriff dessen Hand. »Ulrich,« sagte er, »kennst Du mich nicht mehr, Orlando?«

Ulrich sank erschöpft nieder.

»Bist Du es, Orlando? Ich dachte, meine Zeit wäre gekommen. O! Orlando, bete für mich, daß mich meine Kraft nicht verläßt, daß ich nicht in den letzten Augenblicken, da ich dem Tode ins Angesicht blicken muß, widerrufe. Bete! Bete, Orlando!«

»Du sollst nicht sterben, Ulrich,« erwiderte der Krüppel, indem er den Gefangenen liebend streichelte.

»Ich muß sterben, Orlando. Hast Du es nicht gehört, daß morgen früh um acht Uhr –« Sein Gesicht nahm wieder einen wilden Ausdruck an.

»Ich habe das alles gehört, aber ich versichere Dich, daß Du nicht sterben sollst.«

Ulrichs Augen irrten ziellos umher und Orlando blickte ihn forschend an, indem er sich zu voller Höhe erhob.

»Hörst Du mich, Ulrich? Du sollst nicht sterben! Doch es hängt von Dir ab. Du mußt Dich zusammen nehmen. Gott hat Dir bisher geholfen, dem Verrat und den Folterqualen zu widerstehen. Er wird Dich jetzt nicht verlassen. Der Heiland, der für uns alle gestorben ist, wird mit Dir sein.«

Diese Trostesworte von Orlandos Lippen zündeten in Ulrichs Seele und vor seinen Augen schien es wieder zu tagen. »Ich will thun, was Du sagst,« sagte er so folgsam wie ein Kind, »aber Du kannst mich vor diesen Männern nicht retten, Orlando. Der Priester –« die Gestalt des Jünglings bebte und zitterte wie im Schüttelfrost.

»Ja, es ist mir alles bekannt. Doch der Priester ist jetzt nicht hier.«

Orlando stand tief in Gedanken versunken da. O, daß Gott ihm doch einen Weg zeigen würde, wie die Flucht Ulrichs zu ermöglichen! Plötzlich leuchtete sein Gesicht auf. »Hast Du einen Mantel hier, Ulrich?« frug er.

Dieser antwortete nicht. Sein Kopf war auf seine Brust gesunken, ein Bild völliger Hilflosigkeit. Orlando sah ein, daß es zwecklos war, sich diesbezüglich an ihn zu wenden, und so suchte er unter dem Bündel Kleider, das in einer Ecke der Zelle lag, nach einem Mantel, aber ohne Erfolg. »O, ich Thor! er soll den meinen tragen, um so besser,« sagte er zu sich selbst. »Jetzt, Ulrich, hülle Dich in diesen Mantel und nimm diesen Zettel. Sprich kein Wort, sondern zeige blos den Zettel vor, wenn Dich jemand anhält.«

Sorgfältig hüllte er Ulrich in den schweren Mantel ein, als ob er dessen Mutter gewesen wäre. »Verstehst Du?«

Der Jüngling nickte, doch konnte Orlando bemerken, daß er kaum seiner Sinne mächtig war.

»Weise den Zettel vor, wenn Dich jemand anhält,« wiederholte Orlando in langsamem und eindringlichem Tone.

Ulrich erhob sich. »Komm mit mir, Orlando.«

»Ich kann nicht, wenigstens jetzt noch nicht. Du mußt allein gehen. Ulrich, tritt nur mutig auf, gehe durch das Hauptthor und dann stracks den Weg hinunter auf das Rathaus zu. An der Thüre im südöstlichen Teil des Rathauses wirst Du Marie finden und sie wird Dir weiter helfen. Hörst Du?«

»Ich verstehe. Aber Du, Orlando?«

»Ich sage Dir, daß ich bald kommen werde,« erwiderte der Krüppel ungeduldig. »Beeile Dich! Morgen früh mußt Du außerhalb der Mauern Nürnbergs sein.«

»Morgen früh! Dann sollte ja die ›eiserne Jungfrau‹ –«

»Geh'!« unterbrach ihn der Krüppel; »hier hast Du Geld, Ulrich. Das Gold bahnt überall den Weg.«

Der Krüppel geleitete Ulrich zur Thüre und klopfte.

Die Fackel brannte nur spärlich und verbreitete wenig Licht. Die Wache öffnete die Thüre und Ulrich trat ins Freie, ohne indessen recht zu wissen, was er that oder wohin er ging. Die Wache war von dem abgelösten Posten unterrichtet worden und ließ ihn daher ohne weiteres in die frische Luft hinaustreten. Ulrich stand nun im Schloßhof und blickte um sich.


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