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Der Morgen fand die Stadt voller Verwirrung. Verzagt, erschrocken und besorgt versammelten sich die Bürger in entlegenen Winkeln und besprachen die Situation. Was sollte gethan werden? Sie hatten sich nicht mit dem Schmalkaldischen Bunde vereinigt, nicht mit den Waffen in der Hand für die neuen Gedanken und Glaubenslehren gekämpft, obwohl Nürnberg tatsächlich eine protestantische Stadt war. Sie hatten versucht, sowohl dem Kaiser, als auch ihrem Gewissen die Treue zu bewahren. Warum wurden diese Truppen in ihre friedliche Stadt entsandt, als wäre sie ein feindliches Lager? Unwille beherrschte alle anderen Gefühle und es wäre für die meisten Sprecher sehr gefährlich gewesen, hätten die Fremden manche ihrer Bemerkungen überhört.
Während der dem Donnerstag folgenden Nacht schlief kein Auge in Nürnberg. Die Bürger waren gezwungen, den Einmarsch der fremden Truppen zu sehen, und wie im Siege zogen diese hinauf zum Schloß, wo die Offiziere einquartiert wurden. Die gemeinen Soldaten nahmen Besitz von großen Sälen, Lagerräumen und selbst Kirchen, wo sie ihre Waffen aufpflanzten. Kein Bürgerhaus erhielt Einquartierung und die Frauen, welche hinter ihren Vorhängen auf die Menge in den durch den Glanz von lodernden Fackeln erleuchteten Straßen herabschauten, wurden nicht belästigt und konnten sich gegenseitig ihre angsterfüllten Herzen ausschütten. Was wird wohl das nächste sein? so frugen sich alle begierig, als der neue Morgen hereindämmerte. Allem Anschein nach schien sich nichts sehr Schreckliches vorzubereiten, denn alles war still.
Vor Frühstück begab sich Hans Sachs ins Freie, um Umschau zu halten. Die Nacht zuvor hatte er sein Haus nicht verlassen. Er war ein Mann, der den Frieden liebte, ein Mann der Feder und nicht des Schwertes. Seine kühnen, feurigen Worte hatten in ganz Deutschland einen tiefen Widerhall gefunden; doch zu Hause beobachtete er gemächlich das lärmende Treiben des Lebens. Ulrich blickte an diesem Morgen ängstlich und abgehärmt in die Welt. Er wußte jetzt, daß das Schicksal der Protestanten an einem Faden hing. Von Nürnberg war unter den obwaltenden Umständen keine Hilfe für den Kurfürsten zu erwarten. Je schneller er die Stadt verließ, desto besser war es für alle.
Die Familie saß bereits um den Frühstückstisch, als er herunterkam. »Guten Morgen, mein Junge,« sagte der Meister in herzlichem Ton. »Setze Dich und trinke Deinen Kaffee und ich will Dir sagen, was ich bei meinem Spaziergang heute morgen gesehen habe.«
Mit einem Wort des Dankes nahm Ulrich seine Tasse Kaffee aus der Hand der Hausfrau und begann, schwarzes Roggenbrot hineinzubrocken. »Wie sieht es heute in unserm Nürnberg aus, Meister Sachs?«
»Es scheint kaum möglich zu sein, daß in einer Nacht eine solche Veränderung vor sich gehen konnte. Die Straßen sind verlassen, die Werkstätten geschlossen. Geharnischte, kräftig aussehende Männergestalten machen die Runde in den Straßen. Das Schlimmste von allem ist, daß unsere eigenen Wachen nicht mehr auf Posten stehen, sondern durch Spanier und Italiener ersetzt worden sind.«
»Ist das auf Befehl des Kaisers geschehen?« frug Ulrich.
»So wird gesagt. Einem Befehl des Herzogs von Alba zufolge haben der Bürgermeister und die leitenden Ratsmänner heute morgen um zehn Uhr auf dem Schloß zu erscheinen. Ich sah vor einer Weile den Bürgermeister, wie er um eine Straßenecke schlich.« Trotz der Niedergeschlagenheit konnte sich Hans Sachs bei der Erinnerung daran nicht eines herzlichen Lachens erwehren. »Wie hat sich doch der Mann verändert! Gestern war er voll ehrfurchtgebietender Würde; heute sieht er aus, als ob ihm der Schrecken in alle Knochen gefahren wäre.«
»Drohte Dir keine Gefahr dort draußen, lieber Hans?« frug die Gattin besorgt.
»Nicht im geringsten, Kunigunde. Wer wollte einem armen, friedfertigen Schuhmacher etwas zu leide thun?« Seine Augen blitzten lustig, als er seiner Frau Mut einflößte, und Ulrich lächelte.
»Ich befürchte, er ist nicht so harmlos, wie er aussieht, Meister. Der Sänger der ›Nachtigall von Wittenberg‹ kann mit seiner Feder so viel ausrichten, als andere mit dem Schwert.«
Das Gesicht des Meisters verfinsterte sich. »Ich werde nicht zu den Waffen greifen,« sagte er, »noch mich in Sachen des Kaisers mischen; doch wenn sie den Versuch machen, mir das Schreiben zu verbieten, so sollen sie den alten Hans Sachs zur Genüge kennen lernen. Jetzt, Ulrich, mußt Du von hier fort. Es sind Männer im Stadtrat, die nicht zögern werden, Dich vor dem Herzog von Alba zu verklagen, und er ist kein Mann, der in solchen Dingen Spaß versteht. Er verfügt über einen eisernen Willen und kennt kein Mitleid. Wenn Du in seine Hände fallen würdest, Du, der dem Kurfürsten von Sachsen so nahe stand, Du könntest keine Gnade erwarten. Er ist den Protestanten gram.«
»Ich weiß das wohl,« antwortete Ulrich, der schnell in das blasse Gesicht des Mädchens aufschaute, als die Tasse Maries Hand entglitt. »Ihr braucht Euch keine unnötige Sorge zu machen, Fräulein Marie. Der Herzog von Alba wird den Protestanten in Nürnberg kein Leids anthun. Mich, den Gesandten des Schmalkaldischen Bundes, möchten sie gerne abfangen und an eine Dachzinne droben am Schlosse aufhängen.« Er folgte dem Mädchen mit verwundertem Blick; es hatte seinen Worten keine Aufmerksamkeit geschenkt, sondern war in die Küche geeilt und hatte die Thür mit mehr Kraft hinter sich zugeworfen, als nötig war.
»Kehre Dich nicht daran,« bemerkte lächelnd der Meister. »Sie ist eine kleine Närrin; der Anblick der bunten Röcke hat ihr den Kopf verdreht. Die Frage ist nun die, Ulrich: Nicht, willst Du fort, sondern, kannst Du fort? Die Stadt wird bewacht von den Kreaturen des Kaisers, mit dessen Feinden Du im Bunde stehst. Wie kannst Du da entkommen, selbst wenn Du wolltest?«
»Das verursacht mir wenig Sorge, Meister Sachs,« entgegnete Ulrich stolz. »Ich bin in viel gefährlicheren Lagen gewesen, als die gegenwärtige es ist, und mein Kopf ist noch immer sicher auf meinen Schultern. Wißt ihr nicht, daß ich mit jedem Zoll dieser alten Mauer vertraut bin? Ich kenne ihre schwachen Punkte.«
Hans Sachs schüttelte ernst sein Haupt. »Es wird nicht so leicht sein, als Du denkst; doch Du mußt den Versuch machen. Es ist zu gefährlich für Dich hier.«
»Und ich befürchte, es dürfte auch Euch in Schwulitäten bringen, weil Ihr mich in Eurem Hause beherbergt habt, Meister Sachs. Es ist wohl besser, wenn ich sofort von hier Abschied nehme; mein längeres Verweilen in Eurem Hause bringt Euch sonst in Unannehmlichkeiten.«
»Ich kenne keine Furcht, Ulrich. Ich bin mir nicht bewußt, etwas Ungeschicktes gethan zu haben, doch bin ich um Dich besorgt.« Ulrich ergriff die Hand des alten Mannes. »Dann ist es auch Deine Pflicht, dem Kurfürsten sobald als möglich die Nachricht von der Verstärkung des kaiserlichen Heeres zu überbringen und ihn über dessen Stärke aufzuklären.«
»Ihr habt recht,« bemerkte Ulrich nach etlichen Augenblicken des Nachdenkens. »Ich kann hier nichts mehr thun. Es ist leicht einzusehen, daß von Nürnberg keine Hilfe zu erwarten ist. Wenn unser Kurfürst doch nur etwas entschiedener, ein klein wenig unternehmender wäre! Er wurde von seinen Räten bestürmt, ja beinahe gezwungen, Truppen nach Innsbruck hinunterzuschicken, um dieser Armee den Weg durch die Pässe zu verlegen. Es wäre dies eine verhältnismäßig leichte Sache gewesen, doch er schien den Nachrichten vom Vorrücken dieser Armee keinen Glauben zu schenken, oder, wenn dies doch der Fall war, schien es ihm nicht darum zu thun gewesen zu sein, sie in ihren Operationen zu hindern.«
»Jetzt ist's zu spät,« sagte Meister Sachs.
»Ich will mich während des Tages ruhig verhalten und heute nacht werde ich meine Flucht aus der Stadt bewerkstelligen.«
»Thue das. Ich gehe wieder hinaus, um zu sehen, was vorgeht.« Mit diesen Worten wagte sich der Meister, trotz den ernsten Bitten seines Weibes, noch einmal auf die Straßen der Stadt.
Ulrich stand am Fenster und schaute hinaus. Nur eine enge Gasse bot sich seinen Blicken, doch standen da und dort Gruppen von Männern, die aufgeregte Worte wechselten und in einer Weise gestikulierten, wie dies für die nüchternen und kaltblütigen Nürnberger etwas ganz Ungewöhnliches war. Ein leichter Schlag traf seinen Arm und, als er sich umwandte, schaute er in das Angesicht Maries. Obwohl sie eine große, stattliche Jungfrau war, überragte Ulrich sie doch um ein bedeutendes. Ihre Augen standen voll Thränen, so daß Ulrich unwillkürlich seine Hand über die ihre legte. Mit einer hastigen Bewegung entzog sie ihm dieselbe.
»Kannst Du einen Augenblick in das Holzhaus herauskommen?« fragte sie zurücktretend, so daß ihr Gesicht vom Vorhang beschattet wurde, »Orlando ist da und wünscht Dich dringend zu sehen, doch will er nicht hier hereinkommen.«
Sie schritt voran durch die Küche und trat in einen rauhen, unvollendeten Anbau an der Seite des Hauses, von dem eine Thüre in eine Gasse führte. An den drei Wänden war Holz aufgebeugt, manches lang, anderes dick, anderes kurz, für den großen Feuerherd im Wohnzimmer bestimmt. Da stand das Spinnrad, auf welchem die Meistersfrau und Marie ihren Flachs zu spinnen pflegten und der Webstuhl, auf dem sie ihre gewöhnlichen Kleider, ihr Linnenzeug und ihre Bettdecken woben.
Der Krüppel saß auf einem großen Holzhaufen und schaute sehr angegriffen und trübselig in die Welt.
»Ich habe Dich letzte Nacht überall gesucht, Ulrich,« sagte er, indem er aufstand und den kraftvollen jungen Mann begrüßte, »doch konnte ich Dich nirgends finden.«
»Ich war unter dem großen Haufen,« antwortete Ulrich mit einem gefälligen Lächeln, »und betrachtete den Herzog und seine Gesellen, wie sie auf das Schloß marschierten. Sie trugen die schönsten Rüstungen, die ich je gesehen habe.«
»Ich habe sie auch gesehen,« entgegnete Orlando. »Einer meiner Verwandten war unter ihnen, der Marchese di San Marzano, der Vetter meiner Mutter.«
»Wirklich!« sagte Ulrich interessiert, »dann wirst Du fortan wohl noch öfters auf dem Schloß verkehren.«
»Ich befürchte, nur zu viel. Ach, Ulrich, wenn ich nur wüßte, was zu thun! Die ganze Nacht habe ich darüber nachgedacht. Ich weiß wohl, daß ich nun öfters mit Botschaften nach dem Schloß geschickt werde. Ich weiß auch, daß meine Mutter unterrichtet bleibt über die Pläne und Bewegungen dieser Fremden. Auch ich kann dieselben erfahren, falls es mein Wunsch ist. Es werden mir Nachrichten anvertraut, welche die Evangelischen wissen sollten; aber wie kann ich dies mit Ehren thun, ohne das in mich gesetzte Vertrauen schmählich zu mißbrauchen? Ich kann sie nicht verraten.«
»Wäre es nicht besser, Du würdest ihnen offen bekennen, daß Du ein Protestant bist?« sagte Ulrich, indem er voll Mitleid den schwachen Krüppel betrachtete.
»Ich wage es nicht, Ulrich. Ach, habe Mitleid mit mir, denn ich bin so schwach wie ein Rohr im Wind! Meine Mutter würde mich verachten; letzte Nacht kam sie mir mit so viel Liebe entgegen und behandelte mich so ausnehmend zart.« Es war eine aufrichtige Seelenangst im Gesicht des Knaben zu lesen, während er die Zweifel in sich selbst niederzukämpfen suchte, wie er es so oft zuvor gethan hatte.
»Der Herr wird Dir Kraft geben,« sagte Ulrich leis.
»Kraft! Kraft!« wiederholte Orlando, »o Gott, gieb mir Kraft!«
»Bitte darum und sie wird Dir gegeben werden.« Ulrich strich sanft über des Knaben Haupt und es herrschte Totenstille im alten Holzhaus. Marie schien ihre Sorgen vergessen zu haben und sang lustig ein altes Volkslied vor sich hin. Sie hatte die Gabe des Gesanges von ihrem Vater geerbt und es bereitete diesem großes Vergnügen, sie darin zu unterrichten. Die Worte klangen hinein, wo die beiden Jünglinge sich besprachen, und unterbrachen die tiefe Stille, die eben eingetreten war.
Orlando erhob sich. »Ich bin nur für einen kurzen Augenblick gekommen. Meine Mutter erwartet heute morgen den Besuch ihres Vetters und ich muß auch zugegen sein. Sie würde meine Abwesenheit bemerken und sich darüber verwundern. Wirst Du Nürnberg sofort verlassen, Ulrich?«
»Heute nacht.«
»Das ist gut. Ich habe Dir den andern Tag gesagt, daß es für Dich hier nicht geheuer ist; heute ist dies wahrer denn je. Meine Mutter sprach letzte Nacht von Dir. –«
»Deine Mutter! Die Frau Weber!« unterbrach ihn Ulrich erstaunt. »Ich hätte nicht gedacht, daß sie etwas von meinem Hiersein wüßte.«
»Als kurfürstlicher Bote bist Du jetzt eine wichtigere Persönlichkeit,« antwortete der Krüppel mit einem gelinden Lächeln. »Sie sagte, daß Du ein Thor seist, weil Du Nürnberg nicht früher verlassen hättest; sie hätten Dich jetzt wie die Maus in der Falle.«
»Mich abfangen?« Die Adern auf Ulrichs Stirn schwollen an. »Die Söldner des Herzogs von Alba werden vergebens die Falle stellen.«
»Sei nicht zu sicher,« erwiderte der Krüppel betrübt. »Wenn es irgend möglich ist für Dich, die Stadt zu verlassen, so versäume keine Minute.«
»Wer sagte Deiner Mutter, daß ich hier bin?«
»Jakob Engel.«
»Jakob und ich sind also noch nicht quitt,« sprach Ulrich, indem seine Hand unwillkürlich den Griff seines kurzen Schwertes, das an seiner Seite hing, suchte. Ueber seine Gesichtszüge huschten tiefe Schatten.
»Das Beste, das Du thun kannst, ist, die Stadt zu verlassen, sobald Du kannst,« antwortete Orlando und schritt auf die Thüre zu.
»Doch ich muß zuerst Elsa noch einmal sehen,« bemerkte Ulrich, nicht wissend, daß er laut gesprochen hatte.
Orlando drehte sich mit heftiger Gebärde um. »Wenn Dir Dein Leben lieb ist, so begieb Dich nicht auf das Schloß,« rief er. Willst Du mit offenen Augen Deinen Kopf in die Schlinge stecken? Ich bitte Dich, Ulrich, setze Dich nicht blindlings der Gefahr aus. Verlaß dieses Haus sofort und suche bis heute nacht irgend einen Schlupfwinkel auf. Es ist ihnen wohl bekannt, daß Du Dich hier aufhältst. Verkleide Dich und versuche beim Anbruch der Nacht aus der Stadt zu entkommen. Die Wachtposten sind verdoppelt worden.«
Orlando war verschwunden und Ulrich stand in tiefes Nachdenken versunken. Dann warf er entschieden sein Haupt zurück. Komme, was da wolle, er war entschlossen, Elsa – das arme, mutterlose Kind – noch einmal zu sehen.