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Der Wachtposten am Eingang des runden Turmes trat zur Seite und präsentierte, als Peter von Reuß kam. Mit einem Blick voll Mitleids betrachtete der Wächter den alten Mann. Es war Franz Ritter, ein Mann in fast demselben Alter wie der Schloßhauptmann selbst; er hatte in manchem Strauß an seiner Seite gekämpft und liebte Ulrich wie seinen eigenen Sohn. Es war ihm wohl bekannt, daß der Jüngling jetzt im Verließ schmachtete, wie dies denn alle Nürnberger auf der Burg, dank der Schwatzhaftigkeit Jakobs, schon etliche Tage gewußt hatten; niemand hatte es aber gewagt, Ulrichs Vater davon in Kenntnis zu setzen. Franz Ritter sah jetzt an der Weise, wie der Hauptmann mit dem Schlüssel die schwere eiserne Thür öffnen wollte, daß ihm jemand die traurige Neuigkeit überbracht haben mußte. Nach einer oder zwei vergeblichen Anstrengungen bewegte sich die Thür in ihren Angeln und fiel bald wieder mit lautem Krächzen ins Schloß, während Peter von Reuß langsam durch den engen Gang schritt. Er kannte den Turm sehr gut. Auf dem untern Boden waren zwei Zellen; in dem Stock darüber waren wohnliche Stuben, wo bevorzugte Gefangene oder solche, die nur eines leichten Vergehens angeklagt waren, untergebracht wurden – luftige Kammern mit langen, engen, in die Mauer gehauenen Oeffnungen, durch welche man die schöne Landschaft draußen genießen konnte. Hier wurde Ulrich, der Bote des Kurfürsten von Sachsen, der abtrünnige Sohn der Kirche, nicht gefangen gehalten. Jakob hatte ja gesagt: »Im untersten Verließ des runden Turmes.«
Der Burghauptmann beeilte seine Schritte etwas. Wie würde er wohl seinen Sohn wiederfinden nach einer mehr als zweiwöchentlichen Einkerkerung in diesem fürchterlichen Orte? O, wenn er es nur schon früher gewußt hätte! Die ungleichen Tritte führten in immer tiefere Finsternis. Der Hauptmann hielt eine Fackel hoch in seiner Hand, die er aus einem Ringe an der Mauerwand gerissen hatte. Er ging weiter und weiter in der düsteren Stille des unterirdischen Ganges, bis er an eine eiserne Thüre kam, die mit schweren Nägeln beschlagen und mit gewaltigen Stangen verriegelt war. Er drehte den Schlüssel und stand im nächsten Augenblick in Ulrichs Zelle. Trotz der Fackel vermochte er eine Zeit lang nichts zu entdecken; das Gefängnis schien ihm, wie oft zuvor, als ein kleines, niederes und von dumpfer Feuchtigkeit durchzogenes Loch.
»Bist Du hier, Ulrich?« rief er. Konnte es möglich sein, daß der Herzog von Alba dem Leben des Jünglings bereits ein Ende gemacht hatte? »Ulrich!« rief er aufs neue, doch es kam keine Antwort. Er schaute sorgfältiger umher, und da sah der alte Mann in einer Ecke einen Haufen Kleider. Indem er die Fackel in einen eisernen Griff an der Wand steckte, ging er auf den Gegenstand zu. Da lag zusammengeknäuelt, als ob er sich vor etwas Schrecklichem fürchte, sein Sohn. Doch welche Veränderung war mit ihm vorgegangen seit jenem Tage, da er voller Leben und Kraft über die Schwelle seiner Heimat getreten war! Große, heiße Thränen rollten bei diesem Anblick über das vernarbte Gesicht in den grauen Bart des alten Hauptmanns. Die Augen des Jünglings waren weit offen, doch schien er nichts wahrzunehmen. Er rührte sich mit keinem Gliede, als sein Vater ihn mit starkem Arm aufhob.
Der runde Turm.
»Ulrich, bin ich zu spät gekommen und bist du wirklich schon tot?« murmelte er. Aus seiner Tasche zog er eine Flasche und schüttete, so gut er konnte, etwas von dem Branntwein zwischen die geschlossenen Zähne seines Sohnes, und rieb dessen starre Beine. Mit einem tiefen Seufzer öffneten sich wieder die Augenlider, die starren Glieder belebten sich und, vor Schrecken auffahrend, sprang Ulrich auf seine Füße.
»Bist Du wiedergekommen?« schrie er. »Ich sage Dir, daß ich nichts offenbaren werde. Ihr könnt mich auf dem Folterrad in Stücke zerreißen, mir meine Augen mit euren glühenden Eisen aus den Höhlen brennen, wenn Ihr wollt. Das alles wird meinen Mund nicht öffnen. Ich werde kein Verräter.«
So schnell sprach er diese Worte, daß sein Vater ihn nicht unterbrechen konnte. Sobald Ulrich innehielt, sagte der Vater ganz langsam, so daß der verwirrte Geist des Sohnes es fassen sollte: »Ulrich, ich bin es, Dein Vater. Fürchte Dich nicht. Es ist niemand hier, der Dir ein Leids thun will.«
Erstaunt wandte sich Ulrich um und schaute in das Angesicht seines Vaters. Mit einem leisen Aufschrei, der an das Gestöhn eines verwundeten Tieres erinnerte, das sich vor seinen Verfolgern flüchtet, warf er sich in seines Vaters Arme und brach in Thränen aus.
Der riesige Mann beruhigte nach und nach seinen Sohn gleich einem kleinen Kind, und indem er ihn zu der Steinbank zog, die in die Wand eingemauert war, warf er seinen schweren Mantel um ihn. Kaum wissend, was er that, summte er ein Lied, welches seine vielgeliebte Gattin vor vielen, vielen Jahren zu singen pflegte. Bald ruhte Ulrich stille in den Armen seines Vaters. Wie gut that ihm das! Wie sicher war es ihm nun zu Mute, daß sein Vater ihm nahe war!
»Was haben sie Dir gethan, mein Sohn?« fragte der Hauptmann mit blutendem Herzen. Katholik oder Protestant, was kehrte er sich daran. Es war sein eigener Sohn, arm, schwach und im Gefängnis.
»Die Folter, die Folter, Vater,« antwortete Ulrich mit schwacher Stimme. Der Vater setzte sich aufrechter auf der steinernen Bank und preßte seinen Sohn fester an sich. »Haben sie es gewagt, Dich zu foltern,« rief er aus und seine tiefliegenden Augen blitzten. »Der Sohn des Burghauptmanns, der so viele Jahre treu gedient hat? Und ich wußte nichts davon! Und wenn ich es gewußt hätte, was hätte ich thun können? Mein Wort gilt nichts beim Herzog von Alba; und was den Kaiser anbetrifft, so ist es wohl nutzlos, an ihn zu appellieren … Jakob Engel hat jetzt die Macht,« fuhr er bitter fort.
»Es war Jakob Engel, der mich abgefangen hat, Vater. Er und der Priester waren es, die mich in der Folterkammer aufs unmenschlichste quälten.«
»Vater Antonio! Das ist der italienische Priester, der direkt von seiner Heiligkeit, dem Papst zu Rom, kommt. Ich habe ihn etliche Male gesehen. Er scheint doch ein guter, frommer Mann zu sein. Was hat er gethan?«
»Er drängte mich, zu widerrufen und alles zu sagen, was ich vom Kurfürsten von Sachsen wüßte. Sie versuchten Auskunft von mir zu bekommen über die Verbündeten, doch ich sagte ihm nichts, Vater, gar nichts.«
»Ich freue mich über Deinen Mut, mein Sohn, doch ich glaube, Du könntest ihnen soviel sagen, ohne dem Kurfürsten irgendwie zu schaden, daß sie befriedigt wären.«
»Und sie lachten, Vater, als sich meine Beine über dem Rad drehten.« Ulrich stöhnte aufs neue, so schwach und erschöpft war er.
Der Burghauptmann biß die Zähne zusammen. Sie spotteten über seinen leidenden Sohn! Er blickte in Ulrichs Angesicht; es war ruhig und bleich und er lag wieder bewußtlos. »Der Hunger plagt ihn,« dachte der Vater, als er versuchte, ihn zu beleben. »Armer Junge! Ich muß ihm etwas bringen.« Dann erinnerte er sich, daß er vorsichtig zu Wege gehen müßte. Jakob würde ihn scharf beobachten, und der Herzog war ihm nicht hold. So mochte er Ulrich mehr schaden, als nützen. Dieser öffnete wieder die Augen. »Bist Du noch immer hier, mein Vater? Gott sei Dank, es ist so finster hier und so schrecklich. Fast wird es mir leichter ums Herz, wenn sie mich nach der Folterkammer führen. Dort ist es licht und hell. Ich verscheuche alle Angst und Furcht aus meinem Herzen und denke an die Worte, welche der gute Meister Sachs an jenem Morgen gelesen hat: »Der Herr ist mein Licht und mein Heil; vor wem sollte ich mich fürchten? Der Herr ist meines Lebens Kraft; vor wem sollte mir grauen? … Herr, höre meine Stimme, wenn ich rufe; sei mir gnädig und erhöre mich!«
»Das sind Trostworte,« sagte der Vater, während er beobachtete, wie das blasse Angesicht seines Sohnes sich verklärte. »In welchem Buche stehen sie?«
»In der Bibel, Vater.«
Peter von Reuß, ein guter Katholik, bekreuzte sich. »Die Bibel ist aber nicht für uns, sondern für die Priester.«
»Gelobt sei Gott, sie ist für seine Kinder!« rief Ulrich freudig.
»Nun, nun,« erwiderte der Vater, ihn beruhigend, wie er es vor Jahren gethan hatte, »wenn die Worte dich trösten, um so besser. Du hast Trost nötig, armer Ulrich. Nun höre; kannst du mich verstehen?«
»Ja, Vater.«
»Ich muß jetzt gehen. Ich bin bereits zu lange geblieben; man wird das draußen wahrnehmen. Um Mitternacht will ich wiederkommen – hörst du? – und ich will dir etwas Kräftiges mitbringen. Hier ist ein Talglicht und ein Feuerstein. Der Mann, der den Turm bewacht, ist kein Freund dieses düsteren Ortes und hält sich lieber oben auf. Wenn Du seine Schritte hörst, so blase das Licht aus. Ich komme wieder.«
Als er sich zum Gehen anschickte, rief Ulrich: »Vater, bitte, gieb Elsa einen Kuß.«
»Ich will es thun, mein Junge. Gute Nacht.«
Es dunkelte über Nürnberg. Elsa wartete mit dem heißen Abendessen in der schmucken Küche und stand still am Fenster, als der Vater eintrat. Das Licht fiel voll auf des alten Mannes Angesicht und sie wunderte sich. Es hatte einen viel sanfteren, milderen Ausdruck, so wie vor vielen Jahren, ehe der Vater mit Ulrich verschiedener Meinung wurde und ehe die Mutter gestorben war. Dann redete er auch in so freundlicher Weise, daß ihr die Thränen in die Augen traten. Nach dem Abendessen fiel er lange Zeit in ein tiefes Sinnen; er saß so still, daß sie befürchtete, er möchte krank sein.
»Wo fehlt's, Vater?« frug sie zaghaft, beinahe eine scharfe Antwort befürchtend.
»Ich kann es Dir nicht sagen, Elsa,« kam es aus des Vaters Mund. »Ein Sorgenstein liegt mir auf dem Herzen. Ist etwas zu essen im Schrank?« frug er plötzlich.
Elsa öffnete die schweren Thüren. »Hier ist Kalbfleisch und etwas Schinken,« antwortete sie.
»Sehr gut, das hält Leib und Seele zusammen. Ich muß die ganze Nacht auf den Beinen sein und mag etwas nötig haben.« Das kam übrigens so häufig vor, daß Elsa weiter nichts davon dachte. »Nun gehe zu Bette, Elsa, und schlafe wohl. O Du Glückliche, Du brauchst Dir keine Vorwürfe zu machen über Unfreundlichkeiten denen gegenüber, die Dich lieb haben,« fügte er mit leiser Stimme hinzu. Dann schloß er sie zu ihrer Verwunderung in seine Arme und küßte sie herzlich.
»Das schickt Dir Ulrich,« sagte er.