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»Bist Du es, Vater?« frug Ulrich mit schwacher Stimme, als er in dem Gang außerhalb seiner Zelle das Klirren eines Schwertes und den Tritt schwerer Stiefel vernahm.
»Ich bin es, Ulrich. Wie befindest Du Dich heute morgen, mein Sohn?«
»Ich bin sehr schwach, Vater; so schwach, daß es mir scheint, ich müsse ihnen alles sagen, wenn sie mich wieder so schrecklich quälen sollten.«
»Würde es denn so etwas Schlimmes sein, wenn Du widerrufen würdest?« frug der Vater nachdenkend.
Er hielt Ulrichs abgemagerte Hand in seiner Rechten. Es war fast unglaublich, daß diese Hand einst ein schweres Schwert geführt hatte, da der Jüngling inmitten der Schlacht an der Seite des Kurfürsten kämpfte.
»Ich würde meiner Seele verlustig gehen, Vater,« antwortete der Junge, und sein funkelndes Auge legte beredtes Zeugnis ab, daß der alte Feuergeist noch immer in ihm war, wenngleich seine leiblichen Kräfte beinahe auf der Neige waren.
»Wenn Du es nur thun könntest! Warum ist unser Glaube, der Glaube vieler Jahrhunderte, nicht so gut wie der Deine – diese neue Lehre, die erst etliche Jahre alt ist?«
»Es ist nicht der rechte Glaube, Vater. Der unsere ist die Lehre, die wahre Lehre, wie sie von Jesu Christo aus Erden gebracht wurde. O Vater, versuche mich nicht! Ich bin so schwach, so schwach.«
Peter von Reuß wusch die Stirne seines Sohnes mit einer kühlenden Flüssigkeit und zog dann einen Korb voll kräftiger Speise hervor. »Iß, Ulrich, iß und trink. Es wird Dich stärken und Dir helfen, Deiner Schmerzen Herr zu werden. Du bist kein Feigling; das liegt, Gott sei Dank, nicht in unserm Blut! Das Geschlecht von Reuß hat immer Männlichkeit und Mut an den Tag gelegt. Mein Großvater kämpfte in der Belagerung Nürnbergs und verdiente sich eine kaiserliche Auszeichnung. Du hast andere Feinde zu bekämpfen, und Du mußt darin Deinem Gewissen folgen. Dein Vater wird Dich darin nicht hindern.«
Die kräftige Kost wirkte belebend auf Ulrich. Es war in Wirklichkeit nur dieser Nahrung zuzuschreiben, die ihm sein Vater von Zeit zu Zeit, gewöhnlich unter dem schützenden Mantel der Nacht, heimlich überbrachte, daß die Foltern nicht schon längst seinem Dasein ein Ende gemacht hatten. Mehr als je zuvor hatte er in diesen Tagen seinen Vater lieben gelernt. Er erkannte, daß seine Härte ihm nur äußerlich anhaftete, daß jedoch sein Herz von Liebe und Güte überfloß. Es dünkte den alten Mann, als müßte er Mutterstelle an dem Jungen vertreten. Auch Elsa wußte es nun, daß ihr Bruder im runden Turme eingekerkert lag, und sie hatte das Geheimnis sorgfältig bewahrt; oft stand sie um die Mitternachtsstunde auf, um Speise und Trank für den Armen zu bereiten.
Ulrich legte seinen Arm um seines Vaters Hals und zog ihn näher an sich. »Kannst Du mich nicht entfliehen lassen, Vater? Die Schlüssel sind in Deiner Hand; es wäre dies leicht zu bewerkstelligen, wenn der alte Franz Ritter auf Wache stünde, denn ich weiß, daß er uns behilflich sein würde. Wenn ich nur erst einmal aus diesem Ort heraus bin, so will ich schon weiter sorgen.«
Die eiserne Jungfrau.
Der alte Mann ließ seines Sohnes Hand fahren. Wie gerne würde er die Thüren öffnen und seinem Sohne die Freiheit verschaffen! Die Schlüssel waren in seinen Händen. Er brauchte bloß die Stunde abzuwarten, bis Franz, sein alter Freund, die Wache übernehmen würde. Noch nie zuvor hatte ein Makel auf ihrem Namen geruht. Die Versuchung war groß. Ulrich bemerkte es nicht, welchen Kampf sein Vater jetzt durchkämpfte. Das Leben des Sohnes lag in seiner Hand. Peter von Reuß erhob sich. »Mein Sohn,« sagte er, »Du weißt, daß ich die Thüren Deines Gefängnisses williglich öffnen würde, wenn dies in meiner Macht stände. Ich muß aber meine Pflicht thun, selbst wenn es Dein Leben kostet und mir das Herz bricht. Es kommt ja auch nicht darauf an, denn ich habe nur noch wenige Jahre vor mir.« Die Thränen rollten über Ulrichs hagere Wangen. »Vergieb mir, mein Vater, nie wird Dein Sohn auf Kosten Deines guten Namens diese Stätte verlassen. Lieber will ich hier untergehen.«
Ulrichs Lebenskraft schien gebrochen und der Vater war tief bewegt. Die Versuchung war noch nicht völlig überwunden – es würde so leicht sein – er brauchte bloß des Nachts die Thüren zu öffnen! – »Ich muß jetzt gehen, Ulrich.«
Kaum hatte er diese Worte gesprochen, als ein lautes Klopfen an der Thüre vernehmbar ward. Jakob Engels Fuchsgesicht schaute ihn an und er stand vor ihm mit dem Befehl des Herzogs in seinen Händen. Er war im Hause gewesen, wo er Elsa getroffen hatte; da er den Burghauptmann jedoch dort nicht vorfand, vermutete er ihn mit Recht an der Seite seines Sohnes. Er begrüßte die beiden Männer mit einem kurzen »guten Morgen« und händigte dem Hauptmann sodann den Befehl ein. Derselbe war sehr kurz, aber bestimmt gehalten.
»Du wünschest die Schlüssel?« sagte der Hauptmann sich aufrichtend, wie er es immer that, wenn Jakob in seiner Nähe war. Es lag etwas in dessen spitzbübischem Blick, das ihn verwirrte.
»Ihr könnt den Befehl lesen,« lautete die Antwort.
»Ist dies so aufzufassen, daß meinem Sohn bald ein Leids geschehen soll?«
»Darüber habe ich Schweigen zu beobachten.«
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, übergab der alte Mann den Schlüsselbund. Dann wandte er sich zu Ulrich, der zitternd auf seinem Strohhaufen lag. Er kniete an seiner Seite nieder und umarmte den Jüngling. »Lebe wohl, Ulrich, mein geliebter Sohn. Möge Gott Dich vor allem Leid beschützen und Dir helfen, Deinem Gewissen treu zu bleiben, selbst angesichts des Todes!« Sie küßten einander feierlich und der Vater ging hinweg. Er wagte es nicht, nach seinem Sohne noch einmal zurückzublicken.
Außerhalb der Kerkerthüre, die von Jakob sorgfältig verschlossen wurde, hielt der Hauptmann an. »Der Herzog kann mir die Schlüssel zum Gefängnis meines Sohnes nicht anvertrauen,« sagte er in einem Tone der Entrüstung. »Glaubt er, daß ich in meinen alten Tagen Schande auf mein Geschlecht bringen würde?«
Sein Begleiter erwiderte nichts, sondern zuckte blos seine Achseln.
In seiner Wohnung angekommen, ließ sich Peter von Reuß in seinen großen Lehnstuhl nieder. So schwer es ihn auch ankommen mochte, von Ulrich getrennt zu sein, so wußte er doch, daß es besser für ihn war, wenn er die Schlüssel nicht hatte. Die Versuchung konnte in der letzten Stunde ihn überfallen und das in ihn gesetzte Vertrauen zu Schanden machen. –
Trotz des Herzogs Befehl ging der Pater an jenem Morgen nicht nach Ulrichs Zelle. Die grausame Strafe, die über den Gefangenen verhängt worden war, hatte ihn über alle Maßen erschüttert. Die »Eiserne Jungfrau«, eine Reliquie aus barbarischen Zeiten, hatte lange auf dem Dachboden des fünfeckigen Turmes gestanden; dichter Staub lag auf ihr und Spinnen hatten sie mit ihren Netzen ganz umwoben. In früheren Zeiten waren Männer und selbst Frauen in den Mantel dieser Jungfrau gehüllt worden, und die in demselben angebrachten Messer hatten sodann ihre blutige Mordarbeit verrichtet. Es schien fast unmöglich, daß der Herzog daran denken sollte, dieses unmenschlichste aller Marterwerkzeuge wieder in Gebrauch zu stellen und einen Jüngling als Opfer auszuerlesen. Sicherlich, er gehörte zu den verhaßten Ketzern – aber er war immerhin ein junges Blut von neunzehn Jahren. Der Pater war Zeuge mancher schrecklicher Scenen gewesen, doch nie zuvor hatte ihn eine solche Bangigkeit überkommen als jetzt, da er diesen Jüngling von seinem ihm bevorstehenden Schicksal in Kenntnis setzen sollte. Erst gegen Abend begab er sich nach dem runden Turm. Der Thorwart verneigte sich, um seinen Segen zu empfangen, während Jakob Engel ehrerbietig die Thüren für ihn öffnete. Einem Winke des Priesters gehorchend, entfernte sich Engel und ließ die beiden allein. Ulrich erhob sich, als der Pater bei ihm eintrat, und weigerte sich, seinen Sitz wiederum einzunehmen, obgleich ihn Vater Antonio dazu aufforderte. Ulrich bebte vor dem Italiener zurück. Es war dessen Gestalt, die ihn in seinen wilden Träumen beunruhigte, und dessen Stimme, die er immer wieder zu vernehmen glaubte. Doch heute nacht schien er von einer besonderen Kraft beseelt zu sein. Er hatte beinahe den ganzen Tag im Gebet zugebracht, denn er ahnte, daß er seiner letzten Stunde um einen guten Schritt näher gekommen sein müsse, da man dem Vater die Schlüssel zu seiner Zelle abgenommen hatte.
Vater Antonio ließ sich auf der steinernen Bank nieder. »Ich bin noch einmal hierhergekommen, mein Sohn, um mit Dir zu reden und Dich zu bitten, zur allein wahren Kirche zurückzukehren.«
»Bedeutet das neue Folterqualen?« frug Ulrich, und er zitterte, als ob ihn ein heftiger Schmerz durchzuckte.
»O nein, dazu ist der Herzog zu mitleidsvoll. Er hat mich gesandt, um Dich zur Umkehr zu bewegen.«
»Diese Bemühungen werden vergeblich sein.«
»Es scheint mir fast unmöglich, daß Du, der Du doch Dein ganzes Leben vor Dir hast, zögern solltest, das anzunehmen, was die Kirche Dir bieten kann. Wenn Du widerrufen und uns Aufschluß über den Schmalkaldischen Bund geben willst, so bietet sie Dir Leben und Freiheit. Das läßt sich nicht so schwer mit Deinem Gewissen vereinigen. Im Namen des Herzogs von Alba, ja im Namen des Kaisers selbst, verspreche ich Dir, daß Du in dem Augenblick dann ein freier Mann sein sollst. Sie bieten Dir eine Ehrenstelle im kaiserlichen Heere an.«
Die Versuchung war nicht gering. Etliche wenige Worte, und die Kerkerthüren hätten sich für ihn geöffnet; Stillschweigen war für ihn gleichbedeutend mit dem Tod! Aber diese wenigen Worte bedeuteten Schmach und Schande; Ulrich müßte seinen Gott, dem er zu dienen suchte, verleugnen. Der Priester, der sein Zögern wahrnahm, zog ein Kruzifix von Ebenholz und Elfenbein unter seiner Kutte hervor und erhob dasselbe hoch vor den Augen des jungen Mannes.
»Ich habe Euch bereits in der Folterkammer erklärt, daß ich dem evangelischen Glauben nicht entsagen werde,« antwortete Ulrich und seine Kraft schien zu wachsen. »Fort mit Eurem Kruzifix; ich bedarf keiner geschnitzten Figur, um meinen Heiland anzubeten. Lieber Folterqualen und den Henkertod erleiden, als mein Leben lang von Gewissensbissen gepeinigt zu werden!«
»So wisse denn, Du starrsinniger Ketzer,« fuhr der Pater mit funkelnden Augen fort, »daß der Herzog von Alba gesprochen hat: ›Thut alles, was in Eurer Kraft steht, um ihn zur Umkehr zu bewegen, und sollte dies fehlschlagen, so sagt ihm, daß er übermorgen um acht Uhr sterben muß‹.«
Ulrichs Wangen erschienen im Scheine der Fackel wie Wachs. Mit etwas Mühe frug er: »Hat der Herzog verlauten lassen, welchen Todes ich sterben soll?«
Der Pater zögerte. Nur ungerne verkündigte er ihm das schreckliche Urteil, doch er mußte es thun. »Du bist zum Tode in der ›Eisernen Jungfrau‹ verurteilt,« kam es in tiefem, klarem Ton von seinen Lippen.
Ulrich riß die Augen weit auf. »Die ›Eiserne Jungfrau!‹ Mein Gott, wenn es möglich ist, so gehe dieser Kelch an mir vorüber; er ist zu bitter, als daß ich ihn leeren könnte!« Er warf sich auf seine Kniee und umfing den Priester. »O Vater Antonio, foltert mich aufs neue, erschießt mich – irgend etwas, nur nicht diesen Tod! Kennt der Herzog keine Barmherzigkeit? Ich habe die ›Eiserne Jungfrau‹ einmal gesehen, Vater. O errettet mich! Errettet mich!«
Der Priester hatte gewöhnlich ein Herz von Stein im Leibe, aber diese Jammerscene rührte ihn. Sanft half er dem zu Tode erschrockenen Jüngling auf die Füße. »Widerrufe!« sagte er, »und Du sollst nichts mehr von der ›Eisernen Jungfrau‹ hören.«
Ulrich, der einst so heitere und versprechende Jüngling, voller Freude und Leben, warf sich stöhnend auf einen Strohhaufen und vergrub das Gesicht, als ob er die letzten Worte des Priesters gar nicht gehört hätte. Dieser betrachtete ihn einen Augenblick, dann öffnete er die Thüre und stahl sich hinweg. Ulrich aber fiel in eine Ohnmacht, um erst am folgenden Morgen wieder zu erwachen und sich seiner Lage bewußt zu werden. Doch den ganzen Tag schienen seine Sinne verwirrt und umwölkt zu sein. Er träumte von vergangenen Tagen, da er als Knabe zu Hause gespielt hatte, und glaubte den Gesang seiner Mutter zu vernehmen. Dann war er wieder im Hause von Meister Sachs und sah das hübsche Haar Mariens im Widerschein des Herdfeuers erglänzen. Die Stunden flossen langsam dahin, doch konnte er den Tag nicht von der Nacht unterscheiden, denn es drang nie ein Lichtstrahl in dieses unterirdische Burgverließ. Aus Barmherzigkeit hatte man die Fackel brennen lassen und jeweilen durch eine neue ersetzt, wenn dieselbe auf die Neige ging. Dieses Licht war sein einziger Gesellschafter.
Es war etwa um die zehnte Stunde an jenem Abend, daß er das Schreckliche, das ihm bevorstand, voll und ganz erfaßte. Er weinte wie ein Kind. Ulrich war nur neunzehn Jahre alt und der Gedanke, so jung sterben zu müssen, ließ ihn zittern und beben. Ein Leben, das Freude und Glück verhieß, sollte auf einmal so traurig enden! Dann schien er im Geist eine Wanderung anzutreten und er weilte in Wittenberg, in Luthers Hause, und sah sich dem großen Reformator gegenüber. Er vernahm die ermutigenden und tröstenden Worte von den Lippen des großen Gottesmannes – Worte, die mit vielen Kraftsprüchen aus der Heiligen Schrift gewürzt waren.
Ulrich erhob sich von seinem Lager und kniete nieder. Die Worte des Psalmisten kamen ihm in den Sinn und freudig rief er aus: »Gott ist unsere Zuversicht und Stärke, eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben. Darum fürchten wir uns nicht – darum fürchten wir uns nicht, wenngleich die Welt unterginge –« wiederholte er, und tiefer Friede zog in sein Herz ein. Er hatte nichts zu fürchten; Gott war mit ihm.
Langsam zogen die Stunden dahin. Niemand kam, um ihn zu sehen; niemand kümmerte sich um ihn; doch er hatte Trost gefunden. Wie die Märtyrer in früheren Zeiten Stärke von oben erhalten hatten, selbst inmitten der wilden Tiere, so wurde auch Ulrich, der sich keines Verbrechens schuldig wußte, stark und ruhig angesichts des Todes. Er legte sich wiederum auf sein Lager nieder und verfiel bald in einen friedlichen und erquickenden Schlaf.