Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Kapitel 5.
Am Flußufer.

Ulrich that Geduld not. In jenen Tagen bewegten sich die Nürnberger im Schneckentempo und es war umsonst, wie viel der junge Mann auch sich ereiferte über das, was ihm unnötige Verschleppung schien, er mußte einfach warten, bis der Bürgermeister die Zeit für gekommen hielt. Die Probe war um so schwerer, als er wohl wußte, in welcher Verlegenheit sein fürstlicher Herr, Johann Friedrich von Sachsen, war. Dieser selbst war ein Mann von sehr wankelmütigem Charakter und stand in engem Verkehr mit Philipp, dem Landgrafen von Hessen, einem ungestümen, aber edlen Führer und Befürworter der protestantischen Sache. Die Hilfsmittel des Kurfürsten waren jetzt erschöpft. Der Kaiser rückte mit einem wohl disciplinierten Heer auf ihn los, während Meinungsverschiedenheiten im eigenen Lande seine Kräfte vollauf in Anspruch nahmen. Wenn Nürnberg ihm Hilfe gewähren konnte, so war dies von großer Bedeutung für ihn. Aber Tag für Tag verfloß und der Bürgermeister war noch immer durchs Zipperlein ans Haus gefesselt.

Unruhig blickte Ulrich eines Morgens aus dem Fenster des Wohnzimmers über die enge Straße, welche hinter dem Haus entlang führte. »Dieses Warten ist ermüdende Arbeit!« – »Vielleicht weiß Herr Ulrich nicht, welchen Tag wir heute haben,« sagte Marie, die an ihn herangetreten war, um ebenfalls hinauszuschauen. »Ach ja, Fräulein Marie, es ist ja der heilige Abend, an dem sich alle Welt freut. Doch so viel Freude mir auch die Festtage bereiten möchten, so zieht es mich doch von hier fort,« fügte er mit einem Seufzer hinzu; »ich fühle, als sollte ich schon längst Nürnberg verlassen haben und auf der Rückreise zum Lager des Kurfürsten sein.« Auch Marie seufzte leise. Die beiden waren wieder gute Freunde geworden. Sie hatten ihre Freundschaft da angeknüpft, wo sie dieselbe vor Jahren abgebrochen hatten. Da nahte sich ihnen Meister Sachs. »Ich habe gute Neuigkeit für Dich, Ulrich. Hier ist eine Nachricht vom Bürgermeister. Er läßt melden, daß er sich genügend erholt und eine Ratsversammlung auf Donnerstagnacht einberufen hat.« – »Und heute ist's Dienstag!« stöhnte Ulrich ungeduldig. »Noch zwei ganze Tage!« – »Aber mein Sohn,« warf der Schuhmachermeister ruhig ein, »heute ist heiliger Abend und morgen Christtag. Du kannst nicht erwarten, daß an diesen Tagen der wohllöbliche Rat zusammenkommt.« – »Ich vermute nicht. Ich will euren Familienfreuden nicht hinderlich im Wege stehen, Meister Sachs, vergebt mir. Mein selbstsüchtiger Wunsch läßt mich das Glück anderer vergessen.« Lebhaft faßte er die Hand des Meisters und eilte auf die Straße hinaus. »Armer Junge!« sagte der ältere Mann, die schöne, wohlgebaute Gestalt des Jünglings betrachtend, der eben sich dem Fluß zuwandte und den Augen entschwand. »Er fühlt sich so verlassen und so traurig, weil er nicht auf das Schloß kann, um mit seinem Vater und mit Elsa Weihnachten zu feiern.«

»'s ist die Mutter, die ihm fehlt,« bemerkte die Meistersfrau, die in der Nähe saß und mit einer Handarbeit beschäftigt war. »Wir müssen ihm eine fröhliche Weihnacht bereiten. Marie, sage der Magda, daß sie den Baum herbeischafft, und wir wollen ihn für heute abend schmücken.«

An der Pegnitz.

Während nun die Frauen das dunkle Holzgetäfel der Wände mit Zweigen aus Immergrün und Stechpalmen schmückten und der mächtige Tannenbaum im farbenreichen Gewande von Flittergold und Silberschmuck erglänzte, lenkte Ulrich seine Schritte rasch dem Kirchhof zu, der sich drunten an der schnellfließenden Pegnitz abhob. Dieser Fluß teilt die Stadt Nürnberg in zwei Teile. An seinen Ufern erhoben sich hohe Häuser, deren überhängende Balkone jetzt kalt und nackt in die Winterwelt hineinschauten. Im Frühling und Sommer waren sie von Reben und herrlichen Blumen umsponnen, welche die vom Wetter schwarz und unansehnlich gewordenen Holzstellen verdeckten. Etliche Brücken überspannten in ihrer altertümlichen Bauart in malerischer Weise den Fluß, während ganz in der Nähe entblätterte Bäume ihre hagern Aeste gen Himmel streckten. Ulrich trat in den Kirchhof ein, ging über den schneebedeckten Pfad und erreichte bald das Grab seiner Mutter. Er wußte sehr gut, wo dasselbe zu finden, war er doch seit seiner Ankunft in Nürnberg etliche Male dort gewesen. Es war ja auch das Familiengrab. Oft hatte er mit seiner Mutter den Weg hierher zurückgelegt, um Weihwasser auf die Gräber ihrer Eltern zu gießen und Gebete für die Ruhe ihrer Seelen gen Himmel zu senden.

Jetzt war ein neuer Grabhügel aufgeworfen und über demselben erhob sich ein glänzendes Marmorkreuz mit der goldenen Inschrift: »Elsa, geliebte Gattin von Peter von Reuß, Hauptmann der Wache vom Nürnberger Schloß, gestorben am 29. Oktober 1546, im Alter von 48 Jahren.« Ulrich las diese Worte wieder und wieder. Dann warf er sich, von Schmerz überwältigt, in den kalten Schnee nieder und rief: »O Mutter, Mutter! warum bist Du von uns gegangen?«

Mit gen Himmel erhobenen Händen betete er nicht in der formellen Weise der früheren Jahre, daß ihre Seele aus dem Schrecken des Fegfeuers erlöst werden möchte – sondern daß er als ein würdiger Sohn ihr einst in jenen Wohnungen begegne, wohin sie ihm voraus gegangen war. Ein Geräusch in seiner Nähe brachte ihn plötzlich auf seine Füße; er wollte nicht in seinem Schmerz beobachtet werden. Er hatte sich gänzlich allein geglaubt und jetzt erblickte er in geringer Entfernung eine kleine, gesetzte Gestalt, die, in einen großen braunen Mantel eingewickelt, auf und ab ging.

»Bist Du es, Orlando?« rief Ulrich. »Was thust Du hier?«

»Ich folgte Dir. Ich versuchte Dich im Hause des Meisters zu sprechen; da ich jedoch bemerkte, daß Du dort hinaustratest und Deinen Weg hierher nahmst, folgte ich Dir aus der Ferne. Ich will Dich indessen nicht stören, Ulrich,« fuhr er entschuldigend fort, »doch wenn Du fertig bist, möchte ich mit Dir über etwas reden, das Dir nicht unwichtig sein mag.«

»Ich bin jetzt fertig,« antwortete Ulrich, indem er seinen Blick noch einmal rückwärts auf das weiße Kreuz schweifen ließ.

»Dann laß uns langsam des Wegs entlang gehen. Es ist niemand hier, der uns hört. Die Toten liegen in Frieden und lassen uns ungestört. Es herrscht so viel Zwietracht und Bitterkeit zwischen den Protestanten und den Päpstlichen.« – »Und zu welchen gehörst Du?« frug Ulrich, während er die Miene seines Begleiters musterte.

Eine brennende Röte ergoß sich über Orlandos weiße Wangen und machte sich selbst auf dessen Stirne, die von weichen, schwarzen Locken umsäumt war, geltend. »Du weißt es, Ulrich,« antwortete der Krüppel mit gedämpfter Stimme. »Ich halte mich zu Dir und zu Deiner Sache. Glaubst Du meinem Wort nicht?«

»Ich glaube, was Du sagst, Orlando; bist Du aber auf unserer Seite, warum trittst Du nicht kühn für Deine Ueberzeugung ein? Warum fährst Du mit Deinen Besuchen auf dem Schloß fort, als wärest Du des Kaisers Liebling, und hältst Freundschaft mit Jakob Engel und seiner Sippschaft, während Du in Deinem Herzen doch ihre Lehre für Lügenwahn ansiehst?« Orlandos Augen füllten sich mit Thränen. »Ich bin so schwach, Ulrich. Ich bin nicht, wie Du, es fehlt mir die Kraft zum Widerstand. Dann liebe ich meine Mutter; sie ist so schön! Ich kann es nicht übers Herz bringen, ihr zu gestehen, daß ich ein Protestant bin. Sie verachtet mich so schon, weil ich ein Krüppel, ein Schwächling bin; und doch bin ich ihr einziger Sohn, Ulrich, ihr einziger Sohn! Ach, könnte ich den Ruhm unseres Hauses mehren durch mutige Thaten!«

Ulrich legte seine Hand auf die Schulter des Krüppels. »Ich kann Dich verstehen, Orlando. Aber es ist nicht notwendig, dem Leibe nach stark zu sein, um mutige Thaten zu verrichten oder einen großen Namen sich zu erringen. Liebst Du wirklich den Heiland, unseren Herrn Jesum Christum, Orlando?« Ulrichs Stimme klang sanft und voll. »Ja, ich liebe ihn.« Orlando entblößte bei diesen Worten sein Haupt und hob seine Augen gen Himmel.

»Dann wird er Dir helfen, das Rechte zu thun. Du kennst die Worte unseres Meisters: ›Wer mich bekennet vor den Menschen, den will ich auch bekennen vor meinem himmlischen Vater‹.«

»Sie sind mir wohlbekannt; ich lese sie beinahe jeden Tag. Aber, Ulrich, ich kann ihn noch nicht bekennen; gieb mir nur noch ein wenig Zeit – nur noch ein paar Tage – vielleicht vermag ich es dann.«

Ulrich lächelte wehmütig.

»Ich bin gestern auf dem Schloß gewesen, Ulrich,« fuhr der Krüppel fort, dem Gespräch eine andere Richtung gebend, »sie treffen dort große Vorbereitungen. Etwas muß sich hier ereignen, und zwar bald.«

»Hat Jakob Dir irgend etwas gesagt?«

»Nein, er lachte bloß in verschmitzter Weise; aber ich habe mehr vernommen aus dem Angehen meiner Mutter, als von ihm. Es sind gegenwärtig zwei Italiener bei uns im Haus. Sie brachten meiner Mutter Briefe von einem unserer Verwandten, der bei dem Papst in hohem Ansehen steht.«

Ulrich schaute überrascht auf. »Italiener!« sagte er. »Kann es wirklich wahr sein, daß Truppen auf dem Weg sind aus Italien? Das war die Nachricht, welche man unserm Kurfürsten überbracht hatte, und manche im Kriegsrat rieten, die engen Thäler des Brenner-Passes zu besetzen und sie so am Vorrücken zu verhindern. Aber er hielt das nicht für weise. Nun befürchte ich allerdings, daß er einen Fehler gemacht hat.« Ulrich schien in einem Selbstgespräch begriffen zu sein, während Orlando begierig zuhörte. »Und ich muß noch zwei lange Tage warten, ehe ich eine Entscheidung des Rates bekommen kann!« Er biß seine Zähne vor Zorn zusammen. »Weißt Du, wie bald sie hier sein werden, Orlando?«

»Nein, aber es dürfte nur wenige Tage dauern. Meine Mutter ist ob irgend einer Nachricht freudig erregt, und da nichts ihr so teuer ist, als der Sieg ihres Glaubens, so bin ich überzeugt, daß ihr diesbezüglich gute Neuigkeiten zugegangen sind.«

»Laß uns zurückgehen,« sagte Ulrich.

»Ein anderes, Ulrich, und das ist, was mich am meisten zu Dir getrieben hat, obwohl ich Dir dies bis zuletzt ersparen wollte. Wenn Dir Dein Leben lieb ist, so gehe nicht auf das Schloß. Ich weiß, daß Du von dort aus genau beobachtet wirst. In der Stadt, wo Deine Freunde um Dich sind und wo es der Protestanten viele giebt, werden sie Dich nicht anzutasten wagen, wenigstens jetzt noch nicht.« Der Krüppel legte auf das »jetzt« einen besondern Nachdruck. »Doch sie werden nicht zugeben, daß Du zum Kurfürsten zurückkehrst, wenn sie dies verhindern können. Zur Zeit sind die Päpstlichen in Nürnberg schwach, doch wer weiß, welche Veränderungen die nächsten paar Tage bringen mögen?«

Ulrich blickte erstaunt auf. Es war möglich, daß wenn der Kaiser mit seinen Truppen in Nürnberg eintreffen sollte, ehe der Rat seine Entscheidung getroffen hatte, ihm die Flucht aus der Stadt nicht leicht werden dürfte. Dann lächelte er. Es würde schwere Arbeit sein, wollten sie ihn verhindern, die alten Stadtmauern zu verlassen, denn er kannte den Mauerwall mit seinen Schleichwegen wie seine eigenen Taschen und es würde ihm ein leichtes sein, die Burgwächter, die der Kaiser schicken mochte, zu überlisten.

»Wie weißt Du das?« frug Ulrich scharf. Er konnte mit seiner offenen, freien Natur einen kleinen Verdacht gegen diesen Knaben nicht unterdrücken, der scheinbar mit beiden Parteien liebäugelte.

»Jakob Engel sagte so,« war die kurze Antwort und Orlandos Augen suchten den Boden. Er wußte wohl, durch das instinktive Gefühl seiner zarten, fein besaiteten Natur, welche Gedanken seinem Begleiter durch den Kopf gingen.

»Ach, Jakob Engel war mir immer spinnenfeind, immer seitdem ich ihn niederschlug, weil er versuchte – nun es thut nichts zur Sache, was er gethan hat. Ich danke Dir, Orlando, für Deine Warnung. Sobald als möglich werde ich Nürnberg verlassen.«

»Bald?« frug der Krüppel.

»Sobald dies möglich ist,« antwortete Ulrich ungeduldig. »Ich muß mich zuerst des Auftrags meines Herrn entledigen. Willst Du, daß ich den Feigling spielen und bei dem ersten Wink der Gefahr davonlaufen sollte?«

Bei dem Wort »Feigling« wurde Orlandos Gesicht wieder purpurrot. So bezeichnete er sich selbst und er wußte, daß er sich den Mund stopfen ließ und es nicht wagte, vor seiner Mutter und der Welt offen zu bekennen, daß er den evangelischen Glauben in seinem Herzen trage.

Ulrich eilte mit sorgenvollen Gedanken in die Heimat des Meisters zurück. Der Anblick des Christbaums, mit welchem die gute Meistersfrau und ihre Tochter das schöne Zimmer geschmückt hatten, ließ ihn seine Sorgen vergessen. Voller Erinnerungen an glückliche Weihnachtstage in seinem Heim auf dem Berge sang er mit den andern die feierlichen Choräle vom Kommen des Heilandes und von der Botschaft des Friedens, die er auf Erden gebracht hat.


 << zurück weiter >>