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Kapitel 3.
Der Krüppel von Nürnberg.

Eine kurze dicke Gestalt, in einen schweren Wintermantel eingehüllt, das war alles, was man von dem Ankömmling sehen konnte. Mit der Hilfe Magdas entledigte er sich seines Mantels und stand nun im vollen Schein des Herdfeuers. Es war ein armer, verkrüppelter Junge mit einem Höcker auf dem Rücken. Sein Gesicht war abgemagert und bleich, aber von wundervoller Schönheit. Die feinen Züge waren von regelmäßiger und vollkommener Form, die Augen schwarz und groß, und der kleine, freundliche Mund machte das Gesicht zu einem der anziehendsten, dem Ulrich je begegnet war. Sein glänzendes schwarzes Haar fiel in langen Locken auf den Nacken. Ueber den Kleidern von schwarzem Samt trug er einen breiten Kragen und Manschetten aus venetianischen Spitzen. Gleich einem fremden Wesen trat er unter die einfach gekleidete Gesellschaft in der Wohnstube des Schuhmachers. Sie erhoben sich alle, um ihn zu begrüßen, und Marie schob sofort einen Lehnstuhl herbei. »Orlando, Du erinnerst Dich doch an Ulrich?« sagte sie, nach dem Fremden deutend, auf dem Orlandos Augen geruht hatten seit dem Augenblick, da er eingetreten war.

»O ja,« antwortete er mit einem gewinnenden Lächeln, das sein Angesicht verklärte. »Ich erinnere mich sehr gut an Ulrich, obwohl er sich wohl kaum meiner mehr entsinnen mag.«

»Ihr habt recht,« sagte Ulrich, indem er dem Krüppel behilflich war. »Ich kann mich Eurer nicht mehr erinnern.«

Orlando neigte sich zu ihm hinüber. »Vor einer langen Zeit – ich denke, es müssen acht Jahre her sein – ging ein kleiner Krüppel durch die breite Margaretenstraße. Er war allein und ängstlich. Wilde Buben, die nicht wußten, was es heißt, mit einem Höcker verunstaltet zu sein,« – und er lächelte bei diesen Worten in einer bittersüßen Weise – »ohne noch dazu verlacht und geschlagen zu werden, fingen an, den Krüppel zu verfolgen, und dieser geriet in Todesangst. Da kam ein großer Knabe um die Ecke, nahm den kleinen Krüppel in Schutz und brachte ihn sicher heim.«

Wie mit einem Lichtstrahl leuchtete das Gesicht Ulrichs auf.

»Erinnerst Du Dich jetzt?« fuhr Orlando leise fort, doch so deutlich, daß alle hören konnten, was er sagte. »Wer war wohl der Retter des Krüppels, der ihn sicher nach Hause gebracht hat? Er sagte mir, sein Name sei Ulrich von Reuß, und wenn ich Dich seit jenem Tage auch nie mehr gesehen habe, so erkannte ich Dich doch sofort. Orlando vergißt nicht so leicht einen ihm erwiesenen Liebesdienst,« setzte er stolz hinzu.

»Ich erinnere mich Deiner jetzt sehr gut. Doch wie sonderbar, daß wir uns seither nie mehr begegneten,« antwortete Ulrich verwundert.

»Nicht so sehr,« entgegnete der Krüppel mit einem Seufzer. »Bis kürzlich war ich öfter krank, zudem lese ich sehr viel und – es sind noch andere Dinge.« In seinem Gesicht spiegelte sich eine gewisse Traurigkeit und Hans Sachs sagte schnell: »Du solltest an einem so stürmischen Nachmittag Dich nicht herauswagen, Orlando. Du wirst wieder krank.«

»Ich weiß es; doch es war so einsam daheim, Meister Sachs, ich fühlte mich so mutterseelenallein und konnte es nicht länger ertragen.«

Aus den Worten des Knaben drang eine Glut der Leidenschaft, die an das Echo eines wärmeren, sonnigeren Klimas erinnerte, wo das Blut schneller fließt und das Herz rascher aufflammt, als es im winterigen Deutschland der Fall ist. Ulrich wunderte sich darüber, bis es ihm einfiel, daß an jenem Tage, da er den Krüppel in dessen Heimat gebracht, er etwas von seiner Lebensgeschichte gehört hatte und daß italienisches und deutsches Blut in dessen Adern floß.

»Wir freuen uns, Dich zu sehen, Orlando,« sprach die gütige Mutter. Es war ihr wohl bekannt, daß in seinem prächtigen Hause, wohl dem elegantesten in Nürnberg, kein Herdfeuer brannte, das für den Krüppel so angenehm war, wie dasjenige in dieser Heimat, wo Liebe und Freundschaft ihm so herzlich warm entgegengebracht wurden.

»Sie sagen, daß der Kaiser selbst kommt,« bemerkte Orlando etwas später.

»Der Kaiser!« Hans Sachs erhob sich von seinem Stuhl und fing an, mit raschen Schritten die Stube zu durchmessen. »Warum kommt er? Ich habe gehört, daß er die Gewissensfreiheit der Nürnberger knechten will und den Priestern wieder die Kirchen öffnen, damit sie aufs neue die Messen lesen können. O, was für Zeiten! Hätte doch Doktor Martinus noch einige Jahre länger gelebt! Er war gleich einem Felsen, so fest und unerschütterlich. Jetzt ist er fort und Kaiser Karl gebraucht seine ganze Macht, um den evangelischen Glauben zu brechen. Er wird uns unsere Bibel nehmen, uns unserer Hoffnung berauben.« Des Meisters volltönende Stimme zitterte und er näherte sich dem Krüppel. »Bist Du dessen gewiß, Orlando? Woher hast Du die Hiobspost?«

»Ich war im Schloß,« antwortete der Knabe zögernd; »sie bereiten sich auf hohe Gäste vor und es verlautet, daß es der Kaiser selbst ist.«

»Wer sagt das?«

»Jakob Engel und dann,« – er blickte Ulrich scharf an – »der Hauptmann der Schloßwache, Peter von Reuß.«

Hans Sachs blickte auf Ulrich, der sich leicht verneigte. »Mein Vater sagte es mir diesen Morgen unter dem Siegel der Verschwiegenheit.«

»Und ich habe es verraten!« rief der Krüppel. »Es ist nicht recht von mir, das, was auf dem Schlosse geschieht, in die Stadt zu tragen. Doch Ihr wißt, Meister Sachs, die Kunde ist nur für Euch. Ihr seid so freundlich gegen mich, daß ich nichts, das Ihr wissen solltet, vor Euch verbergen kann.« Mit bittender Miene blickte er auf den alten Mann, der still an seiner Seite stand, und erfaßte dessen große, rauhe Hand mit seiner mageren Rechten. »Mehr Mut, Orlando!« gab der Meister zurück. Sanft strich er die Locken des Knaben aus dessen Stirn zurück, sah in seine schwarzen Augen, welche sich langsam mit Thränen füllten, und fügte hinzu: »Ich habe es nicht so gemeint. Du bist ein zarter, empfindsamer Junge, der den Gefahren, wie sie von starken Männern überwunden werden müssen, nicht zu begegnen weiß. Ich habe nichts Böses gemeint, mein Junge,« wiederholte er. »Du hast von uns nichts zu befürchten. Der Kaiser will allem Anschein nach sein Kommen vor den Bürgern geheim halten und, soviel an uns liegt, werden wir nichts darüber verlauten lassen.«

Der Meister maß das Zimmer wieder mit langen Schritten und seine Gattin beobachtete ihn mit ängstlicher Miene. Nach etlichen Augenblicken stahl er sich hinaus und der Brust der Frau entrang sich ein tiefer Seufzer. »Dein Vater wird heute abend nicht mehr herunterkommen,« sagte sie bald mit leiser Stimme zu ihrer Tochter. »Ich kann sehen, daß er im Sinn hat, etwas zu schreiben. Vielleicht ist das gut, denn es beruhigt ihn. Ich will nach dem Feuer sehen, damit er sich nicht erkältet. Besorge das Abendessen; vielleicht bleibt Orlando.«

»Ich danke, Frau Meisterin,« sagte der Krüppel, der die letzten Worte vernommen hatte. »Meine Mutter erwartet mich zu Hause. Ich muß jetzt gehen, denn es wird spät und der Sturm wächst. Diese Heimat ist ein Ort des Friedens für mich,« wandte er sich an Ulrich, nachdem Mutter und Tochter hinausgegangen waren. »Werde ich Dich wiedersehen, Ulrich?«

»Ich werde noch etliche Tage hier verweilen und es soll mich freuen, Dich noch einmal zu sehen. Wenn ich meine Geschäfte besorgt habe, muß ich wieder fort.«

Orlando bot ihm gute Nacht, wickelte sich warm in seinen schweren Mantel ein und öffnete die Thüre, die zum Familieneingang führte. Ein kalter Windstoß fegte einen Haufen Schnee herein. »Laß mich Dich begleiten,« sagte Ulrich, als die schwache Gestalt des Krüppels mühsam gegen den Wind ankämpfte.

Orlando schüttelte den Kopf und die Thüre fiel hinter ihm ins Schloß. Den ganzen Weg durch die lange Straße kämpfte er gegen das Schneegestöber an, als verursache dies ihm Freude. Er biß die Zähne zusammen und ballte seine Fäuste unter dem Mantel, während er sich einen Weg durch den tief gefallenen Schnee bahnte. Außer dem Nachtwächter, der die siebente Stunde ausrief, war weit und breit keine Seele zu sehen. Das Dunkel der mondlosen Winternacht bedeckte Nürnberg wie mit einem Leichentuch. Hie und da blitzte ein Lichtstrahl durch ein Fenster, doch die meisten Häuser waren sorgfältig verschlossen und verriegelt. Der Krüppel trat unter ein schützendes Bogengewölbe und zog einen kunstvoll gearbeiteten Messingschlüssel aus seiner Tasche. Sorgfältig tastete seine Hand nach dem Schlüsselloch, im nächsten Augenblick öffnete sich die Thüre und er betrat eine große Treppenhalle, wo ein Kerzenlicht in einer Laterne von schön gefärbtem Glas die Flur mit sanftem, prächtigem Lichte füllte.


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