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Der Schuhmacher schaute von seiner Arbeit auf, als der junge Mann eintrat, und das Lied verklang auf seinen Lippen.
»Was steht zu Diensten, junger Herr?« frug er.
Es war ein feingeschnittenes, kraftvolles Gesicht, in das Ulrich schaute; die breite, hohe Stirne war von gräulichen Locken umsäumt; die großen, vollen Augen von tiefblauer Farbe waren so klar, daß es schien, als ob man durch dieselben einen Blick thun könnte in die prächtige Seele dieses Mannes, welcher der berühmteste der deutschen Meistersänger war. Ulrich hatte ihn von Kindheit auf gekannt und achtete ihn hoch; er selbst jedoch hatte sich so verändert, daß der Schuhmachermeister den Jüngling nicht mehr erkannte, der sich vor Jahren mit andern Jugendgespielen in den Gassen Nürnbergs herumgetummelt hatte.
»Kennt Ihr mich nicht, Meister Sachs? Ich bin Ulrich – Ulrich von Reuß.«
»Ulrich!« rief Hans Sachs, indem er sich von seiner Bank erhob und die Hand des Jünglings ergriff. »Sei mir herzlich willkommen. Komm herein und sieh mein gutes Weib. Kunigunde,« rief er, »mache Dich fertig für einen weitern Gast zu Mittag. Hier ist Ulrich von Reuß, gesund und wohlbehalten aus der Fremde heimgekehrt.«
Hans Sachs.
Eine würdevolle Frau kam dem Gatten entgegen, der, von Ulrich begleitet, aus der Werkstätte in die Wohnstube trat.
»Sei mir herzlich willkommen,« sagte sie.
In dem Augenblick öffnete sich die Küchenthür und ein sechzehnjähriges Mädchen guckte herein, nur um mit einem kurzen Ruf der Ueberraschung ebenso schnell wieder zu verschwinden.
»Marie!« rief der Vater, »es ist nur Ulrich. Komm und begrüße ihn.«
Dem Rufe gehorsam, öffnete sich die Thüre aufs neue und Marie, ihr schönes Gesicht von Rot übergossen, begrüßte Ulrich in züchtiger Weise. Ihr folgte die Magd mit einer Schüssel voll dampfender Suppe, und aller Häupter beugten sich zum Tischgebet. Voller Ehrfurcht waren die Worte des ehrbaren Zünftlers und seine Stimme klang äußerst melodiös, als er auf die Speise, auf das Haus und auf den Jüngling, der inmitten der Gefahr so wunderbar behütet und erhalten worden war, den göttlichen Segen erflehte. Während sie sich das einfache Mahl schmecken ließen, wandte sich der Meister an Ulrich: »Kommst Du von Wittenberg, mein Sohn?«
»Ja, Meister Sachs; der Kurfürst von Sachsen sendet mich hieher mit Botschaften an den Rat zu Nürnberg.«
»Ein Bote des Kurfürsten! Dein Auftrag muß von Wichtigkeit sein. Ist es erlaubt, nach dem Inhalt der Botschaften zu fragen?« frug der Meister vorsichtig.
Ulrich ließ seine Blicke im Zimmer umherschweifen, um zu sehen, ob irgend ein Fremder im Bereich seiner Stimme sei, und als er sich in dieser Beziehung versichert hatte, sagte er mit gedämpfter Stimme: »Meister, ich könnte dies niemand anders als Euch und Eurer Familie anvertrauen, dieweil ich weiß, daß Ihr ein Geheimnis zu wahren wißt. Ich soll die Nürnberger um Beistand fragen. Der Kurfürst und der Landgraf von Hessen sind in Not. Der Kaiser verfügt wohl über eine kleinere Armee, doch ist dieselbe gut eingeübt und vortrefflich ausgerüstet. Das Unglück in seiner eigenen Familie, der Aufstand, den Moritz von Sachsen im rechtmäßigen Erbland unseres Kurfürsten führt, verursachen ihm viel Not und Sorgen. Er muß Hilfe haben.«
Hans Sachs schüttelte gedankenschwer den Kopf. »Ach! seit Luthers Tod haben wir keinen Führer mehr. Es war seine Unerschrockenheit, die den Feind in den Schranken gehalten hat. Ich weiß nicht, wie die Antwort des Rates auf diese Anfrage des Kurfürsten ausfallen wird, doch will ich sofort beim Bürgermeister anfragen lassen, wann er den Rat zusammenrufen lassen kann.«
»Wenn Ihr so freundlich sein wollt.«
»Nun erzähle uns von Dir selbst. Was hast Du gethan? Wo bist Du gewesen? Wir sind begierig zu hören, nicht wahr, Marie?«
Hans Sachs warf einen Blick voll väterlichen Stolzes auf seine Tochter, die mit großem Interesse das Gespräch verfolgt hatte. Voll Bescheidenheit suchten ihre Augen den vor ihr stehenden Teller, während ihr Vater schalkhaft lachte.
»Die Tage sind mir noch in bester Erinnerung, da ihr zwei als Kinder um meine Bank gespielt, meine Werkzeuge verschleppt und meine Lederschnitzel versteckt habt. Das ist gar nicht so lange her, Ulrich?«
Ulrich fand kaum den Mut zu antworten. Er war über sich selber ärgerlich. Ihm, einem Manne von beinahe zwanzig Jahren, der schon seit zwei Jahren am Hofe des Kurfürsten von Sachsen sich aufgehalten hatte, ihm sollte die Gegenwart einer Jungfer, die er sein ganzes Leben lang gekannt hatte, die Zunge binden! Das war was Neues. Er erwehrte sich seiner Verwirrung und begann: »Als ich vor zwei Jahren Nürnberg den Rücken kehrte, ging ich stracks nach Wittenberg. Ihr erinnert Euch, daß mein Vater und ich in Glaubenssachen verschiedener Ansicht waren und daß er als guter Katholik mir das Haus verbot.«
Bei diesem Wort schaute Kunigunde, die Gattin des Meistersängers, fragend zu Ulrich auf und sagte: »Warst Du noch nicht droben?«
»Ja, Frau Meisterin, ich war diesen Morgen auf dem Schloß.«
»Dann weißt Du –« sagte sie zögernd.
»Ja, ich weiß, daß meine teure Mutter nicht mehr in unserer Heimat waltet. Es war eine traurige Heimkehr für mich.«
Stille wurde es in der Stube. Der Tod der Mutter ist wohl der größte Schmerz im Menschenleben, und diese einfachen, ruhigen Menschen verstanden es, wie man einander die wahre Sympathie fühlen läßt, welche keine Worte kennt und darum um so tiefer in ihrem Mitgefühl ist.
Nach einer kleinen Weile fuhr Ulrich fort: »Ich sollte es Euch sagen, Meister Sachs, daß mein Vater mich nicht mehr in seinem Hause duldet. Wenn er mir auch seine väterliche Liebe zu erkennen gab, so erlaubt es ihm doch sein Gewissen nicht, einen Ketzer zu beherbergen und wenn es selbst sein einziger Sohn wäre.« Ulrichs Worte klangen bitter und besorgt. Es wurde ihm schwerer, als er es sich selbst vorgestellt hatte, in seiner Geburtsstadt heimatlos und verlassen zu sein.
Ruhig unterbrach ihn der Meister: »Er darf es nicht wagen, mein junger Freund. Selbst wenn Du sein einziger Sohn bist, darf er Dich doch nicht ins Schloß aufnehmen. Ich zweifle indessen nicht daran, daß unter seinem strengen Aeußern ein warmes und liebendes Herz für Dich schlägt. Du darfst jedoch nicht vergessen, daß Du von den Häuptern der protestantischen Verbündeten in Deutschland als Bote hieher gesandt wurdest und tatsächlich ein Gesandter des Schmalkaldischen Bundes bist. Er aber steht im Dienste des Kaisers und muß seinem Eide, den er geschworen hat, treu bleiben.«
»Das ist wahr,« antwortete Ulrich mit einem Seufzer, »doch es ist schwer.«
»Sehr schwer, allerdings. Da kommt Mutters Apfelkuchen. Iß, Ulrich, und vergiß die Sorgen. Marie, reiche uns den Rahm, den die Bäuerin heute morgen vom Land gebracht hat, so daß unserm Gast die einfache Kost mehr zusagt. Ohne Zweifel ist Dir im Palast des Kurfürsten Besseres vorgesetzt worden, mein Junge; Du kannst aber in ganz Deutschland nichts Feineres finden, als Kunigundes Apfelkuchen mit diesem Rahm.« Indem er dabei Ulrich anschaute, glänzte sein heiteres Gesicht und es wurde diesem leichter ums Herz. Es war ein trübseliger Morgen für ihn gewesen. Die erschütternde Kunde vom Tode seiner Mutter, die strengen Worte seines Vaters und die Verantwortlichkeit, die infolge des wichtigen Auftrags vom Kurfürsten centnerschwer auf ihm lastete, hatten ihn in eine ernste und sorgenvolle Stimmung versetzt. Die aufmunternden Worte des Schuhmachers verfehlten jedoch ihre Wirkung nicht; Ulrich bemeisterte seine Unruhe und sagte heiter: »Im Palast des Kurfürsten habe ich aus silbernen Schüsseln gespeist, und habe beinahe in jeder Stadt Deutschlands gegessen, doch nirgends fand ich einen besseren Tisch, als im alten Nürnberg.«
»Dann hatte ich also recht, Kunigunde,« sagte der Meister, als er sich vom Tische erhob, aber nicht ohne zuvor noch ein Dankgebet gesprochen zu haben. »Selbst kurfürstlicher Luxus vermag nicht unsere Nürnberger Jungens zu verderben. Jetzt, Ulrich, gehe ich zum Bürgermeister. Ich stelle mir vor, daß Du den Rat wohl noch heute nacht sehen möchtest, wenn dies immer möglich ist.«
»Wenn möglich, ja; doch ich weiß, daß die Dinge in unserer guten Stadt nicht so schnell vor sich gehen,« antwortete Ulrich; »es wird mich darum nicht überraschen, wenn der Rat nicht auf solch kurze Nachricht hin eingerufen werden kann. Doch wie dem sei, Meister Sachs, vergeßt ja nicht, den Bürgermeister auf die hohe Wichtigkeit der Sache aufmerksam zu machen. Die Zeit eilt, der Kaiser kommt mit spanischen und italienischen Truppen aus dem Süden; es muß bald zu einer großen und entscheidenden Schlacht kommen. Hilfe ist vonnöten. Wir zählen heute den 20. Dezember. Vor Weihnachten sollte ich auf der Rückkehr sein.«
Hans Sachs schüttelte den Kopf. »Das ist eine kurze Frist. Ich glaube kaum, daß die Sache sich so schnell machen läßt.«
Ulrich wandte sich an Frau Sachs und bot ihr seine Hand zum Abschied. »Ich gehe eine Strecke Weges mit Eurem Gemahl und möchte Euch herzlich für die mir erwiesene Gastfreundschaft danken.«
Fragend schaute diese ihren Mann an.
»Was meinst Du, Ulrich? Fortgehen? Und wohin, wenn's erlaubt ist?« warf der Meister ein, der eben einen schweren Pelzrock anzog.
»Ich wollte im ›Goldenen Löwen‹ absteigen,« antwortete der Jüngling.
»Das kann ich aber nicht im geringsten erlauben, es sei denn, Du habest dafür einen besonderen Grund.« Hans Sachs zögerte. »Vielleicht möchte der Gesandte des Kurfürsten die Schuhmacherheimat als zu bescheiden für sich erachten.«
Ulrich verstand sofort die Ursache dieses Zögerns. »Ich habe keinen Grund, Meister Sachs, als daß ich nicht heimgehen kann, und so dachte ich, es wäre wohl am besten, wenn ich –«
Hier unterbrach er seine Worte und es ließ sich gleich einem gewaltsam unterdrückten Schluchzen vernehmen. Kunigunde Sachs schritt auf ihn zu und legte ihre Hand auf seinen Arm mit einer ganz entschiedenen Miene. »Deine Mutter, Ulrich, war in den Tagen, ehe uns der Glaube trennte, meine treueste Freundin. Sollte ihr Sohn von uns nicht ebenso aufgenommen werden, wie sie unsern Sohn empfangen hätte, wenn er am Leben gewesen und in Nürnberg heimatlos dagestanden wäre?« Ihre Augen füllten sich mit Thränen. Frau Sachs hatte ein gut Stück ihres Glückes in das kleine Grab gelegt, wo ihr Knabe schlief. »Marie, bring die Gaststube sofort in Ordnung. Ulrich bleibt bei uns.«
Ulrich verbeugte sich und wollte nach ausländischem Gebrauch ihre Hand küssen. Frau Sachs entzog jedoch ihm dieselbe schnell, denn im nüchternen Nürnberg kannte man derlei Dankesbezeugungen nicht; sie galten nur Königinnen, und sie war nur eines einfachen Handwerkers Frau. Sie fühlte sich indessen dadurch nicht beleidigt.
Der Schnee fiel wiederum in großen Flocken und es blies ein kalter Wind. Das Wohnzimmer war sehr angenehm, indem das graue Tageslicht sich durch die kleinen Fensterscheiben stahl, während das Ofenfeuer sich in phantastischen Figuren auf den schwarz getäfelten Wänden spiegelte. Auf dem Kaminsims war in altdeutschen Buchstaben eine Inschrift eingeschnitzt, und als Marie mit einem Arm voll Holz hereinkam und es in das Feuer warf, schoß eine hochrote Flamme empor und Ulrich konnte das Motto lesen: »Der Herr giebt seinem Volke Kraft, der Herr wird sein Volk mit Frieden segnen«.
»Der Vater hat es vor zwei Jahren einschnitzen lassen,« sagte Marie, indem sie ihr hochrotes Gesicht vom Feuer abwandte; »er sagt, es wirkt ermunternd und beruhigend auf ihn, wenn immer er vor dem Feuer sitzt und die Worte liest.«
Sie bückte sich aufs neue, um die Holzscheite anders zu ordnen, und Ulrich nahm wahr, wie sehr sie sich verändert hatte. Aus dem kleinen Mädchen, mit dem er einst gespielt, war eine Jungfrau geworden von schlankem Wuchs und einem anmutigen Gesicht, in dem herzige Grübchen sich zeigten, wenn sie sprach, und auf dem eine sanfte Farbe kam und ging. Ihr Haar war zurückgekämmt und hing in zwei langen Zöpfen weit über die Taille hinunter. Unter dem schwarzen Samtband auf ihrem Kopf guckten etliche weiche Locken schelmisch hervor und erhöhten die Schönheit ihrer hohen offenen Stirne.
Die Thüre öffnete sich und Hans Sachs trat ein. »Ein böser Sturm!« rief er aus. »Wirf noch mehr Holz ins Feuer, Marie. Du mußt Geduld haben, Ulrich. Der Bürgermeister liegt im Bett; er leidet am Zipperlein. Für heute nacht ist die Einberufung des Rats eine Unmöglichkeit. Vielleicht morgen oder übermorgen.«
Ulrich konnte seine Ungeduld kaum verbergen. »Das Warten fällt mir schwer,« antwortete er. »Läßt sich kein Ausweg finden?«
»Keiner,« kam es langsam von den Lippen des Meisters, der sich gemütlich in seinen mächtigen Armsessel nahe am Feuerherd niederließ. »Du mußt Dich gedulden, hier beim Feuer zu bleiben und zu warten. Der Sturm fegt durch die Gassen, so daß Du nicht fort könntest, selbst wenn Du wolltest. Marie, bringe uns Aepfel und Nüsse. Wir wollen versuchen, den jungen Herrn in seinem Gewahrsam so gut zu befriedigen, wie wir können.«
Hell brannte das Feuer und in der gemütlichen Bürgerstube war es angenehm und warm. Mutter und Tochter brachten ihre Handarbeit herein und nahmen in der Nähe Platz; sie lauschten den Erlebnissen, die Ulrich schilderte über seine Reisen im Norden, über Martin Luther und dessen Tod, über dessen trauernde Witwe und vaterlose Kinder, die noch immer das alte graue Augustinerkloster bewohnten. Dann stimmte Hans Sachs eines seiner eigenen Lieder an und die alte Magda öffnete die Küchenthür, so daß sie den Klängen besser folgen konnte.
Inmitten dieser friedlichen Unterhaltung ertönte ein lautes zweimaliges Pochen an der Hausthür und Magda schickte sich an, zu öffnen. »Wer kann es wohl sein, der sich in einem solchen Sturm herauswagt?« sprach der Meistersänger, während er auf die Stimmen in dem Hausflur horchte. Magda öffnete die Thür weit und meldete: »Es ist der junge Herr Orlando!«