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Kapitel 4.
La Casa d'Oro.

Achtzehn Jahre zuvor hatte Herr Arnold Weber, ein reicher Kaufmann von Nürnberg, eine seiner üblichen Reisen nach dem Süden angetreten, um Kunstwaren mitzubringen, welche in Venedig, der Königin des Adriatischen Meeres, in großer Auswahl zu finden waren. Er war ein Händler in Stickereien, Spitzen und seltenen Shawls, die den Frauen von Nürnberg und Augsburg vor drei Jahrhunderten vorzugsweise zum Schmucke dienten. Nach Venedig wurden alle die Schätze des Morgenlandes gesandt, die dort von schwarzäugigen Schönheiten in der Abgeschlossenheit der Frauengemächer in Gold, Silber und farbiger Seide gewirkt worden waren, Entwürfe von solcher Pracht, daß sie selbst das Herz und die Augen einer Königin bezaubern mußten. Für alle diese Dinge fand Herr Weber in der reichen Bürgerstadt willige Abnehmer.

Es war zu Beginn des Frühjahrs, als er sich auf den Weg machte, um durch das Tyrolerland und über den Brenner Paß langsam nach dem Süden zu wandern, wo ihn sommerliches Wetter überraschte. Aus dem Land, wo der Winterschnee erst am Schmelzen war, gings in die milde, balsamische Luft Italiens, wo die Veilchen bereits blühten und die Aprikosenbäume in sanftem Rot die ersten Blüten trieben. Ende Mai erreichte er die Lagunenstadt Venedig, wo sein Auge sich abermals an den Wogen des Adriatischen Meeres weiden konnte und wo schnellsegelnde, hochbemastete Schiffe, mit Schätzen reich beladen, einliefen.

Während der heißen Sommermonate blieb Herr Weber in Venedig, und als die kühlen Herbstwinde wieder wehten, kehrte er nach Nürnberg zurück und führte ein schönes, junges Mädchen von nur siebzehn Jahren als seine Frau heim. Er besaß ein Haus an der Hauptstraße, wo er mit seiner Braut Wohnung nahm. Im Verlauf der Jahre veränderte sich die Erscheinung des Hauses vollständig zum äußersten Erstaunen der Nürnberger, die nicht verstehen konnten, wie das junge venetianische Mädchen eine so seltsame Anziehungskraft auf den einfachen alten Herrn Weber auszuüben imstande war. Die Front wurde ganz genau nach dem Muster eines der venetianischen Paläste am großen Kanal umgebaut. Die Fenster spitzten sich in anmutiger Weise nach oben zu und feine Bildhauerarbeit verzierte das Steinwerk. Das Mosaikbild einer Madonna mit ihrem Kind wurde an der Vorderseite angebracht und die hübsche Glasarbeit wurde von Arbeitern ausgeführt, die man dazu eigens von Venedig hatte kommen lassen. Der Hintergrund, dessen kunstvolle Mosaik im Spiel der Sonne glitzerte, hob sich vollständig in Gold ab. Die dunkelhaarige Carlotta Weber nannte den Bau in ihrer eigenen, klangvollen italienischen Sprache – jener Sprache, welche scheinbar das Säuseln des Windes in den Olivenhainen und das Plätschern der blauen Wogen am Meeresufer in sich trägt – » la Casa d'Oro«, »das Haus von Gold«. Der Kaufmann ruhte längst unter dem grünen Rasen, währenddessen die Witwe, noch immer jung und schön, nach wie vor mit ihrem verkrüppelten Sohn das »Goldene Haus« bewohnte.

Die Paläste am Grand Kanal.

Orlando stand einen Augenblick auf der Hausflur still, legte dann seinen Mantel ab, stieg eine Treppenflucht hinan und stand eben im Begriff in aller Stille eine weitere Treppe zu erklimmen, als eine Stimme rief: »Orlando!«

»Hier bin ich, Mutter,« antwortete er, doch flog ein leiser Schatten über sein Gesicht. Dessenungeachtet betrat er eine geräumige Vorhalle und verschwand bald hinter einem mit schweren Stickereien bedeckten Vorhang im Wohnzimmer seiner Mutter.

»Hast Du Dich in dieser schrecklichen Nacht hinausgewagt?« frug sie und hob matt ihr Haupt vom Sofa auf, wo sie sich hingelegt hatte. »Reiche mir eine andere Decke; es ist so sehr kalt.«

Er ergriff eine graue Pelzdecke und deckte die ausgestreckte Gestalt sorgfältig zu.

»Setze Dich einen Augenblick hierher,« sagte sie und ihre Bewegungen deuteten auf einen Stuhl, der mit kostbarem Perlmutter eingelegt war. »Wo bist Du gewesen?«

Er zögerte und strich mit einer hastigen Bewegung eine Locke aus seiner Stirne zurück. »Ich bin zuerst nach dem Schloß gegangen,« antwortete er ausweichend.

Sie bemerkte das jedenfalls nicht, denn sie rief aus: »Das muß ein schwerer Weg gewesen sein!« Dann erhob sie sich halbwegs und schaute ihren Sohn forschend an: »Wen hast Du im Schloß gesehen?«

»Jakob.«

»Giebt's etwas Neues?« Ihre großen Augen – die mit denjenigen Orlandos viel Aehnlichkeit hatten – leuchteten bei dieser Frage triumphierend auf, doch konnte dieser den Blick nicht verstehen.

»Sie sagen, der Kaiser kommt.«

»So?« Sie konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Diese albernen Söldner meinen, sie wüßten alles dort oben auf dem Berg, und doch weiß ich, die Witwe Weber« – in was für einem geringschätzigen Tone sie das sagen konnte! – »ich weiß mehr als sie. Soll ich Dir sagen, Orlando, was ich weiß?« Sie ließ ihre Augen auf seine kleine Gestalt mit dem edelgeformten Kopf und den glänzenden Augen schweifen und setzte dann trotzig hinzu: »Nein, ich will's nicht thun. Was kannst Du überhaupt ausrichten, ein armer Krüppel, wie Du?« Sie bemerkte nicht, wie ihr Sohn bei diesen Worten zusammenfuhr, als ob ihm jemand einen Schlag versetzt hätte. »Du kannst weder im Heer, noch überhaupt in der Welt es zu etwas bringen. Wehe mir, daß ich so heimgesucht werden muß!« Die Mutter dachte nicht im geringsten an den Knaben, dessen Leiden durch das Bewußtsein erhöht wurde, daß seine Mißgestalt ihm auch die Liebe seiner Mutter gekostet hatte. Sie brach in Schluchzen und Thränen aus, während Orlando still dasaß.

Totenstille herrschte im Zimmer; man konnte nur das Knistern des Feuers und das Ticken der kostbaren Uhr auf dem Regal hören. Es war ein prächtiges Gemach. Drei große Fenster blickten nach vorne auf die Straße und durch ein Fenster hinten konnte man den Garten überblicken, der nun mit Schnee bedeckt war. Die Blumenbeete und Springbrunnen verliehen demselben im Sommer einen feenhaften Reiz und der Ort erinnerte an ihre Heimat, nach der ihr Herz so oft in voller Sehnsucht schlug. Das Empfangszimmer enthielt teure Gemälde und kostbare Schnitzereien in Holz und Elfenbein, sowie schwerseidene Vorhänge aus dem Orient und weiche gepolsterte Möbel, wie sie in Nürnberg fremd waren. An einer Wand hing ein Bild der Maria und des Jesuskindleins und ein Kerzenlicht, das in einer goldenen Lampe davor angebracht war, ließ Tag und Nacht seine milden Strahlen darauf fallen. Vor dem Bild befand sich ein Betstuhl und ein Kruzifix aus Ebenholz und Elfenbein hing in der Nähe. Orlando schaute nach diesen auserlesenen Gegenständen. Sie waren ihm nicht neu. Er beschäftigte sich vielmehr mit dem einen Gedanken, wie er die Liebe seiner Mutter gewinnen könne? Darnach sehnte er sich, darnach hungerte ihn. O, nur einen liebenden Händedruck von ihr zu erhalten! Seine leidenschaftliche südliche Natur verlangte ungestüm nach der Liebe seiner Mutter.

Die Stimme einer Dienerin unterbrach ihn in seinen Gedanken. »Das Mahl ist aufgetragen, Signora,« sagte sie in italienisch. Frau Weber erhob sich von ihrem Lager, ordnete ihr fein wollenes Gewand und schritt dann ihrem Sohne voran die Treppe hinab. Das Eßzimmer war, gleich den andern Gemächern, fein möbliert und behaglich erwärmt. Die Mahlzeit war wohl zubereitet und serviert von Giovanni, dem Gatten der Anita, die beide mit der Herrin des Hauses von Italien gekommen waren und für sie und deren Sohn durchs Feuer gegangen wären.

Im Verlauf des Mahles wurde die Signora gesprächiger. »Ich sage Dir, Orlando, die nächsten paar Tage werden für Nürnberg Ueberraschungen bringen. Die einfältigen Spießbürger werden etwas sehen, was sie noch nie zuvor gesehen haben, und die Ketzer werden das Leben in der Zukunft nicht so rosig finden.«

Orlando schaute zu ihr auf und es lag etwas Aengstliches in seinem Blick. »Denkst Du das, weil der Kaiser kommt, Mutter?«

»Ach ja, der Kaiser, wenn Du so willst,« antwortete sie und ihr silberhelles Lachen durchklang den Raum. Ohne allen Zweifel war Frau Weber trotz ihrer fünfunddreißig Jahre noch eine sehr jugendliche Erscheinung. »Warte und sieh, Orlando mio« fuhr sie fort, »die Zeiten werden sich hier in Nürnberg bald ändern. O, wenn ich nur den Tag erlebe, an dem die Evangelischen – diese Ketzer – unter den Füßen der Priester zu Pulver zertreten werden!« Sie biß auf ihre Lippen und ihre Augen blitzten. »Würdest Du Dich nicht glücklich preisen, Orlando, wenn Du das sehen könntest?« sagte sie, indem sie sich plötzlich gegen ihren Sohn wandte. Dieser wurde leichenblaß und seine Hände zitterten. Zum Glück für ihn trat Giovanni ein und brachte auf einem silbernen Teller ein versiegeltes Paket, welches er der Dame reichte. Schnell schnitt sie die Schnur entzwei, öffnete die schwere Hülle und durchflog den eingeschlossenen Brief. Während sie las, erglühte ihr Gesicht vor Freude. »Wartet der Mann?« frug sie.

»Es sind deren zwei, Signora.«

»Bereite eine Mahlzeit für sie und führe sie in das westliche Zimmer.«

Sie lachte lustig und fügte, zu ihrem Sohne gewandt, hinzu: »Du wirst den Triumph bald erleben, Orlando.«

Während sie das sagte, ging sie hinaus in die Halle, wo die zwei Männer standen; deren Kleider waren mit Schnee bedeckt, der jedoch in dem warmen Haus schnell schmolz und große Tropfen rollten auf die Teppiche. Sie grüßten ehrfurchtsvoll die Dame und Orlando hörte seine Mutter fragen: »Euer Herr wird morgen hier sein?« – »Nach dem Briefe an die gnädige Frau,« war die Antwort des älteren Mannes, »morgen oder am nächsten Tage. Die Wege sind fast unpassierbar für ein Heer von –«

Frau Weber erhob warnend ihre Hand und der Mann schwieg.

Sie wandte sich an ihren Sohn: »Orlando, das sind die Gesandten eines meiner Stammverwandten, des Marquis von San Marzano, der mir in diesem Briefe die Nachricht schickt, daß er bald in Nürnberg eintreffen werde. Die Männer werden hier bleiben, bis er kommt.«

Orlando verbeugte sich vor ihnen, entbot dann seiner Mutter eine gute Nacht, indem er deren weiße Hand küßte – was sie sich ungleich der einfachen Frau Sachs gefallen ließ – und ging langsam hinauf. Der Gedanke schoß ihm durch den Kopf, daß dieser Stammverwandte, wer er immer sein mochte, ein sehr wichtiges Geschäft in Nürnberg haben müsse, wenn er das milde Klima des Südens verließ und sich den rauhen Winterstürmen Deutschlands aussetzte. Doch er grübelte nicht weiter darüber nach. Er mühte sich zwei Treppen hinauf und schloß eine niedere Thür auf, die zu einem Erkerturm führte. Hier befand sich sein Zimmer, sein eigenes Gemach, und hier konnte er ruhen. Der Marsch durch den Sturm hatte ihn sehr erschöpft, so daß er sich etliche Augenblicke niedersetzte. Dann zündete er eine Kerze an, die auf einem silbernen Leuchter stand, und während er das that, erhob sich von dem Teppich, der in einer Ecke des Zimmers vor dem weißen Porzellanofen lag, eine große Angorakatze, die sich unter sanftem Knurren streckte, näher kam und sich behaglich an den Samtkleidern des Krüppels rieb.

»Carina!« murmelte er, indem er das Tier freundlich streichelte, »Du bist immer treu und liebenswürdig. Niemand sonst bekümmert sich um den armen verkrüppelten Orlando, als Du – und die Vögel,« setzte er hinzu, während er nach einem großen Käfig blickte, wo etwa dreißig gefiederte Sänger, mit ihren Köpfen unter den Flügeln versteckt, bereits im Schlaf begriffen waren. »Und vielleicht Marie und Ulrich –.« Sein Gesicht hellte sich beim Gedanken an diese Freunde auf; er war dennoch reich.

Da klopfte es an der Thüre und Anita trat ein. Sie war eine vollblütige Italienerin mit olivenfarbiger Haut und schwarzem Haar, in welchem viele silberne Nadeln glänzten. An ihren Ohren baumelten schwere Ringe und auf dem weißen Halstuch, das ihren Nacken bedeckte, ruhte eine lange Kette von Korallenperlen. »Ich kam, um nach Deinem Feuer zu sehen,« sagte sie und nachdem sie Holz zugelegt hatte, bis die Flammen hell aufschossen, näherte sie sich ihm und beugte sich über ihn, so daß sie in sein Gesicht schauen konnte. »Gräme Dich nicht, mein junger Herr, alles wird noch recht werden. Die Mutterliebe ist im Herzen der Signora vorhanden, wenn sie dieselbe jetzt auch nicht zeigt!« Orlando ergriff ihre braune, dünne Hand. »Anita,« sagte er, »meine alte Amme, küsse mich, wie Du es vor vielen Jahren gethan hast, da Du mich in Deinen Armen hieltest; ich fühle mich so einsam.« Die Thränen rollten der guten Frau über die Wange, als sie den Knaben in ihre Arme schloß und sein bleiches Gesicht küßte. »Die Heiligen möchten Dich segnen und behüten!« wisperte sie, ging dann hinweg und schloß sanft die Thüre hinter sich.

Orlando rückte einen Stuhl an den Tisch, schloß die äußere Thür und öffnete mit einem kleinen Schlüssel ein geheimes Fach, aus dem er einen Pergamentband nahm und sich bald in dessen Inhalt vertiefte. Es war ein Exemplar des griechischen Testamentes, eines der ersten Produkte der Buchdruckerkunst und an und für sich kostbar. Orlando hielt es wohlverwahrt, denn hätte seine Mutter gewußt, daß ihr einziger Sohn ein verbotenes Buch lese, so hätte sie dasselbe sicherlich dem Feuer übergeben. Zum Glück ließ sie sich nur selten in dem Zimmer blicken, wo ihr Sohn seine Lieblinge hielt, und es war wenig Gefahr für eine Entdeckung vorhanden.

Langsam wandte Orlando Blatt für Blatt, bis er beim zehnten Kapitel in St. Matthäus anhielt. Dort las er: »Und müsset gehasset werden von jedermann um meines Namens willen. Wer aber bis an das Ende beharret, der wird selig.« Etwas weiter kamen die Worte: »Und fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, und die Seele nicht mögen töten. Fürchtet euch aber vielmehr vor dem, der Leib und Seele verderben mag in die Hölle.« Der Krüppel zitterte ein wenig, fuhr aber fort: »Darum, wer mich bekennet vor den Menschen, den will ich bekennen vor meinem himmlischen Vater. Wer mich aber verleugnet vor den Menschen, den will ich auch verleugnen vor meinem himmlischen Vater.«

Orlando ließ sein Haupt auf das große Buch sinken. Noch nie hatte er seinen Meister verleugnet; doch hatte er ihn je vor den Menschen bekannt? »O!« kam es stöhnend von seinen Lippen, »ich bin ein Feigling – so schwach – so schwach!« Manche Leute in Nürnberg wußten um seine Zuneigung zu den Evangelischen; doch das waren Personen, von denen seine Mutter nie etwas gehört hatte, und sie vermutete nichts anderes, als daß er gleich ihr der römischen Kirche mit ganzem Herzen ergeben sei. Es fiel ihr nie ein, daß ihr Sohn – der arme, kleine Bursche, wie sie sich oft in halber Verachtung und von halbem Mitleid bewegt, ausdrückte – einen anderen Gedanken oder Willen, unterschiedlich von dem ihrigen, haben könnte.


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