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Kapitel 18.
Das Erwachen Orlandos.

Wenngleich diese Tage für Ulrich eine schwere Prüfungszeit waren, da er in seiner Zelle saß und auf den Tod wartete, so waren sie doch ungleich schwerer für den Krüppel, der alle Bequemlichkeiten seines prächtigen Heimes genoß. Ulrich hatte das Bewußtsein, daß er um einer gerechten Sache willen litt, indem er in die Fußstapfen des Meisters trat. Orlando aber fühlte sich in einer doppelten Rolle, die er spielen mußte, und der Gedanke daran verfolgte und demütigte ihn. Jeden Tag forschte er in seinem alten griechischen Testament und jeden Tag faßte er aufs neue den Entschluß, vor der Welt das Bekenntnis abzulegen, daß auch er dem Glauben Luthers huldige, und dann komme über ihn, was da wolle. Wenn ihn jedoch der Dämonenblick des Priesters traf und wenn seine Mutter, die ihn nie zuvor so liebevoll behandelt hatte, als seit der Zeit, da der Kaiser solch großes Wohlwollen für ihren Sohn an den Tag legte, ihn mit zarter Hand umarmte, – dann wurden seine guten Vorsätze zu Wasser und er stand wiederum als derselbe Schwächling da, der sich vor sich selber schämen mußte.

Karl V. hatte Orlando zu verschiedenen Malen nach dem Schloß beschieden. Die klugen, gedankenvollen Beobachtungen des Knaben gefielen ihm und er brachte angenehme Stunden in seiner Gesellschaft Zu.

Eines Tages, als Alberto in der Casa d'Oro Zu Mittag speiste, gab er einem Wunsche des Kaisers in Bezug auf Orlando Ausdruck. »Du darfst Dir wohl etwas einbilden,« bemerkte der Vetter zu dem Knaben, »denn der Kaiser findet großes Wohlgefallen an Dir. Heute morgen rief er mich und gab mir den Auftrag, die Erlaubnis Deiner Mutter zu erwirken, daß Du ihn auf seinen Fahrten begleitest. Bist Du dazu gewillt?« frug er.

Freudige Ueberraschung war bei diesen Worten auf der sonst weißen, aber jetzt hochgeröteten Stirn des Knaben zu lesen. Er hatte oft von großen Ehrenbezeugungen geträumt, doch hatte er nie geglaubt, daß sich dieselben je verwirklichen sollten. Es entrollte sich ein glänzendes Zukunftsbild vor seinen Augen – wie er am Hofe stand und trotz seiner verkrüppelten Form von jedermann geehrt wurde, vielleicht gar als Ratgeber des Kaisers.

»Ich würde nur zu gerne gehen,« erwiderte er.

Auf den Zügen seiner Mutter spielte ein glückliches Lächeln. Ein verkrüppelter Sohn war trotz alledem keine so schlimme Heimsuchung, wie sie es sich oft vorgestellt hatte. Sein Eifer, mit dem er in seinen Büchern grübelte, war ihr manchesmal als eine Thorheit erschienen. »Zu was taugt ein Krüppel?« hatte sie sich oft teils betrübt, teils wegwerfend gefragt. Wenn indessen der Kaiser um seiner Kenntnisse willen so große Stücke auf ihn hielt, so mußte dieser Eifer doch ganz wünschenswert sein.

»Wann wird der Kaiser unsere Stadt verlassen?« frug sie.

»Wohl bald, wie ich mir vorstelle,« erwiderte Alberto. »Die Nachrichten vom Norden lauten nicht sehr ermutigend, und ich bin der Ansicht, daß Seine Majestät bald die Geduld verlieren werden. Er ist entschlossen, mit diesen Abtrünnigen Abrechnung Zu halten und den Wirren, die sie während der letzten Zwanzig Jahre im ganzen Lande verursacht hohen, ein Ende zu machen. Das erinnert mich übrigens an etwas. Ich glaube, Du sagtest mir, Orlando, daß dieser Ulrich von Reuß, der im runden Turme eingekerkert ist, ein Freund von Dir sei.«

Wäre Vater Antonio zugegen gewesen, so hätte er den sorgenvollen Ausdruck im Gesichte des Krüppels wahrgenommen und denselben richtig auszulegen verstanden. Doch der Pater war im Schloß an der Tafel des Herzogs. »Ich kannte ihn vor Jahren,« erwiderte der Krüppel. Wieder war er sich untreu geworden.

»Es scheint mir, als ob der Herzog zu hart mit ihm verfahre. Dies sage ich natürlich nur hier unter uns; auf dem Schlosse geben wir unsern Meinungsansichten nie Ausdruck.«

»War er wiederum auf der Folterbank?« frug die Dame mit scheinbar geringem Interesse. Und in Wirklichkeit, was lag ihr am Schicksal dieses Jungen? Was hatte sie mit Ketzern zu schaffen? »Vater Antonio erzählte mir davon.«

»Nein, Cousine Carlotta, des Folterns ist sicherlich genug gewesen. Ich begleitete den Herzog eines Tages, da er Zeuge dieser schrecklichen Torturen war. Ich für meinen Teil bin ein Feind solcher Scenen.« Nur der Gedanke daran machte Alberto erbleichen. »Warum sollte man diesen Verblendeten keinen Spielraum lassen? Obschon ich ein Katholik bin, so würde ich doch lieber die Evangelischen bei ihrem Glauben lassen, als sie so zu peinigen und zu martern.«

»Du bist weichherzig veranlagt, Alberto,« bemerkte seine Cousine lächelnd.

»Das ist möglich. Doch diese Lutherschen Hirngespinste werden sich von selbst überleben, nun, da er, der Erzprotestant, dahin ist. Wozu denn all diese Aufregung?«

Orlando warf einen dankbaren Blick auf seinen Vetter. So gab es wenigstens einen Mann, der geneigt war, mit Andersgläubigen gelinde zu verfahren.

»Und doch bist Du ein Freund des Herzogs von Alba, der die Ketzer haßt gleich giftigen Schlangen. Und Du stehst im Begriff, gerade gegen diese Protestanten, denen Du so schöne Worte giebst, zu kämpfen!«

Alberto zuckte die Achseln. »Das ist wahr, Carlotta; es ist eben mein Beruf, für den ich erzogen wurde. Doch ich muß bekennen, daß ich lieber einem Mann im offenen Zweikampf gegenübertrete, als daß ich zusehen muß, wie seine Gliedmaßen zerschunden werden, bis er vor Schmerz laut aufstöhnt.«

»Ich für meinen Teil,« erwiderte die Dame in ernstem Tone, »glaube, daß keine Strafe zu milde ist für die Männer, welche sich gegen den heiligen Vater auflehnen und die wahre Kirche zur Zielscheibe ihres Witzes machen. Wenn es mein eigener Sohn wäre, so würde ich irgend eine Strafe für verdient erachten,« fuhr sie fort, indem sie ins Gastzimmer voranschritt.

Orlando verblieb im Schatten des Zimmers, so daß man sein Gesicht nicht sehen konnte. Es wäre sonst ausgefallen, wie tief erschüttert und totenblaß er infolge dieses Gespräches war.

»Dann wirst Du den Tod, zu welchem dieser junge Mann verurteilt ist, nicht allzu schrecklich finden,« sagte Alberto. »Ich erachte denselben als eine Ausgeburt von höchster Grausamkeit und Ungerechtigkeit.«

»Welche Todesart ist es denn?« frug Frau Weber neugierig.

»Im fünfeckigen Turm steht ein Mordwerkzeug, die ›Eiserne Jungfrau‹ genannt.«

»Ich habe schon davon gehört, sie indessen noch nie gesehen. Es müssen schon viele Jahre her sein, seitdem dieselbe benutzt worden ist.«

»So wurde mir gesagt. Heute haben sie die ›Jungfrau‹ aus ihrem Versteck hervorgeholt. Sie putzen und ölen sie, auch werden die Messer, die sie in sich birgt, geschärft, und morgen früh um acht Uhr wird Ulrich von Reuß in ihrer grausamen Umarmung seinen Tod finden.«

Ein Schrei des Entsetzens kam von den bleichen Lippen des Krüppels, der sich vorgelehnt hatte, um jedes Wort aufzufangen. Verwundert blickte seine Mutter auf.

»Das kann nicht möglich sein!« rief sie aus.

»Es ist möglich. Der Herzog hat es befohlen und das Urteil wird vollstreckt werden. Ich kenne Ferdinand de Toledo seit vielen Jahren und nie habe ich gehört, daß er je eine Todesstrafe erließ. Er verurteilt nicht voreilig, doch wenn er sich einmal entschieden hat, so kann kein Mensch ihn von seinem Vorhaben abbringen.«

»Ist das wirklich wahr?« frug Orlando mit verhaltenem Atem.

»Wirklich wahr, mein Junge. Hast Du diesen jungen Mann gut gekannt?«

»Er hat mir einmal eine Gefälligkeit erwiesen,« erwiderte der Krüppel. »Erlaubt mir, Mutter, daß ich mich auf meine Stube zurückziehe, ich bin sehr müde.«

Seine Mutter nickte bejahend. Orlando verabschiedete sich von seinem Vetter, der im Begriff stand, wieder auf das Schloß zurückzukehren, und schleppte sich dann mühsam die Treppe hinauf.

»Er ist sehr empfindsam veranlagt,« bemerkte der Marquis.

»Seine Natur ist höchst zartfühlend. Ich vermag gar nicht zu sagen, Alberto, wie mich diese Offerte des Kaisers erfreut. Die Zukunft Orlandos ist gesichert.«

»Ohne Zweifel.«

Während einer ganzen Stunde unterhielten sie sich noch über die Vorbereitungen, welche für die Reise des Krüppels getroffen werden mußten, über seine Begleitung und inwiefern die Gunst des Kaisers seine fernern Aussichten gestalten dürfte.

Orlando saß inzwischen in seinem Zimmer und brütete vor sich hin. Die Vögel tummelten sich um ihn her und hie und da ließ sich einer der gefiederten Sänger auf seiner Achsel nieder und blickte vergnügt in sein abgehärmtes und gramdurchfurchtes Gesicht. Orlando streichelte die kleinen Lieblinge mit zarter Hand und dann flogen sie wieder weiter. Die Katze, welche mit den Vögeln großgezogen war, lag blinzelnd vor dem Herd. Kam ein mutwilliger Vogel in ihre Nähe, so hob sie ihre Pfote, als ob sie mit Strafe drohe, falls sie in ihrer Siesta gestört werden sollte.

Lange Zeit saß Orlando bewegungslos da. Als der Abend hereindämmerte, stand er auf, entnahm dem Schrank das köstliche in Pergament gebundene Buch und las in den Evangelien, hie und da laut vor sich hin redend. Die Vögel hatten ihre Käfige aufgesucht und schliefen bereits. Nachdem er eine halbe Stunde gelesen hatte, erhob sich der Krüppel und kniete dann an der Seite seines Lehnstuhles nieder. Er schien mit der ganzen Kraft seiner Natur zu beten. Orlando, in dessen Adern ein Gemisch von italienischem und deutschem Blut floß, war sehr ernst in allem, das er unternahm, wenn einmal zur That angefeuert. Abgebrochene Sätze fielen von seinen Lippen und sehr oft konnte man den Namen Jesus, des Heilandes der Menschen, hören, mit Bitten um Vergebung vermischt. Plötzlich verklärte sich sein bleiches Gesicht. Es war ein Wiederschein des Himmels selbst. Sorgfältig stellte er den alten Band an seinen gewohnten Platz, wickelte sich in seinen Mantel und ging eilig die Treppe hinunter. Am Fuße derselben, wo eine große Lampe von einer Statue in Bronze gehalten wurde, begegnete ihm Anita. »Sage meiner Mutter, daß ich nicht zum Abendessen kommen werde,« kam es von seinen Lippen, und die Dienerin erwiderte, »Si, Signore,« und begleitete dies mit einem Segenswunsch für ihren jungen Herrn, als sie die vordere Thüre hinter ihm schloß.

Frau Weber, die sich in lebhafter Weise mit dem Pater unterhielt, schenkte dieser Botschaft nur wenig Aufmerksamkeit. Orlando stellte sich öfters nicht an ihrem Tische ein, sondern ließ sich das Morgen- oder Abendbrot auf seine Stube bringen. Der Schnee, der um die Weihnachtszeit den Boden bedeckt hatte, war verschwunden und der Himmel sah heute nacht trübe und bewölkt aus. Eines jener Gewitter, wie sie oft im Januar sich zeigen, zog herauf. Von Zeit zu Zeit erleuchtete der Blitz den dunkeln Horizont. Orlando näherte sich der Seitenthür in des Schuhmachers Haus und klopfte leise an. Er sagte zur alten Magda, die ihm öffnete: »Bitte, sagt dem Fräulein Marie, einen Augenblick herauszukommen.«

»Wollt Ihr nicht eintreten, Herr Orlando?«

»Nein, ich danke, Magda. Ich habe mich nur eines Auftrags zu entledigen und bin in Eile. Bald wird ein Wetter losbrechen.«

»Es wird eine stürmische Nacht werden,« gab sie zurück und schickte sich an, ihre junge Herrin zu rufen. Marie legte ihre Stickerei mit einem Seufzer nieder. Sie hatte eine der schönsten Stellen in ihrer Arbeit erreicht, eine Lilie mit goldenem Herzen, und es war ihr sehr daran gelegen, damit fertig zu werden.

»Wer ist es, Teure?« frug ihre Mutter.

»Es ist Orlando.«

»Laß ihn eintreten, der Wind fängt an stärker zu werden.«

»Ich werde ihn nötigen. Tritt ein,« fuhr sie fort, indem sie Orlando ihre Hand entgegenstreckte.

»Ich kann nicht, Marie; ich habe keine Zeit. Ich bringe Dir böse Kunde und es muß schnell geschehen. Die Stunden fliehen und die Nacht ist so kurz, zu kurz!«

»Was ist es, Orlando?« frug sie in ruhigem Tone, obschon sie vor Furcht zitterte. War ihrem Vater ein Unglück Zugestoßen? Er war immer noch nicht zu Hause.

»Ulrich ist seit dem Tage, da er Euer Haus verließ, ein Gefangener auf dem Schloß.«

»Elsa sagte mir, daß sie ihn nicht gesehen habe, und ich dachte, er wäre weit fort von hier und in Sicherheit,« entgegnete sie mit großem Erstaunen.

»Er ging nach dem Schloß, um von Elsa Abschied zu nehmen. Dort wurde er auf Befehl des Herzogs von Alba gefangen genommen.«

»Auf Befehl des Herzogs von Alba!« wiederholte sie.

»Doch zur Sache,« unterbrach er sie ungeduldig; »die Zeit eilt rasch und morgen früh um acht Uhr wird es mit ihm zu Ende sein, es sei denn, wir können ihn auf irgend eine Weise befreien.«

»Unmöglich!« rief sie aus.

»Doch, Ulrich soll morgen sein Leben verlieren, aber ich schwöre, daß es nicht geschehen soll!«

»Wie kannst Du es verhindern?« frug Marie mit angsterfülltem Herzen.

»Ein Krüppel mag nicht so ganz nutzlos sein,« erwiderte er traurig. »Ulrich muß befreit werden und Du mußt mir helfen, Marie.«

»Ich? Was vermag ich zu thun?«

»Du mußt zum alten Rathausdiener gehen und versuchen, die Schlüssel für die Zelle unter dem Gebäude von ihm zu erhalten. Du weißt ja, daß ein geheimer Gang dort vorhanden ist.«

»Ich habe schon davon gehört. Wenn er mir aber die Schlüssel nicht geben wird?«

»Du mußt auf irgend eine Weise die Schlüssel in die Hände bekommen.«

»Und wenn ich erst die Schlüssel habe – was dann?«

»Das ist der schwerste Teil des ganzen Planes, Marie, und ich fürchte mich fast, Dich um diesen Dienst zu fragen, doch ist derselbe unerläßlich, falls Ulrich aus Nürnberg entkommen soll. Es darf es außer uns niemand wissen, und er muß heute nacht entkommen, wenn dies je geschehen soll.«

»Ich will helfen, wenn es möglich ist.« Der Schein des Lichtes in der Küche fiel auf ihr Gesicht und sie sah totenbleich aus.

»Ich kann nicht sagen, um welche Zeit er kommen wird. Es mag um neun oder zehn Uhr, um Mitternacht oder um die Morgendämmerung sein, aber Du mußt im Rathaushof, in der Nähe des südöstlichen Thors, warten, bis er kommt, und ihm die Schlüssel zum geheimen Gang einhändigen. Er kann die Wachtposten am Stadtthor nicht umgehen. Es giebt keinen anderen Weg.«

»O, Orlando, allein?«

»Allein. Wir können sonst niemand ins Vertrauen ziehen.«

»Ich werde dort sein,« sagte Marie und aus ihrer Stimme klang ihre kühne Entschlossenheit. Um Mitternacht ganz allein nach dem Rathaus zu gehen, wie konnte sie das wagen? Doch Ulrich mußte gerettet werden.

»Dann lebe wohl. Ich vertraue auf Dich. Du wirst mich nicht täuschen?«

»Ich werde dort sein.«

Die Gestalt des Krüppels verschwand in der Dunkelheit. Marie schloß die Thüre und kehrte in das angenehme Zimmer zurück. Ihre Mutter war nicht mehr dort. Das junge Mädchen nahm seine Stickerei wieder zur Hand, aber die weiße Lilie hatte ihren Reiz verloren und ihre Hände zitterten, so daß die Nadel ihren Fingern entglitt. Frau Sachs kam nicht mehr auf den Besuch des Krüppels zu sprechen. Es war nichts Ungewöhnliches, wenn er zu irgend einer Tageszeit erschien; er betrachtete ihr Haus als seine zweite Heimat. Marie verhielt sich beim Abendessen sehr schweigsam. Als sie beinahe fertig waren, frug sie plötzlich: »Hast Du etwas dagegen, liebe Mutter, wenn ich heute abend dem alten Bernhard einen Besuch abstatte?«

»Nicht im geringsten, wenn das Wetter nicht allzu schlecht ist. Bringe ihm eine Flasche Himbeerensaft, den ich letztes Jahr machte. Wer so allein haust, wie er, entbehrt gewöhnlich dieser Dinge. Magda wird dich dahin begleiten und um halb neun Uhr wieder abholen.«


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