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Kapitel VII

                              »Die Seele schied
Auf die vertraute Brust sich stützend.«

GRAY.

Nicht ein einziger Tag verging, an dem Maltravers nicht an Florence Seite gewesen wäre. Er kam früh und ging spät. Er übernahm wieder seine frühere Rolle als akzeptierter Bewerber ein, ohne ein erklärendes Word Lord Saxingham gegenüber. Diese Aufgabe blieb Florence überlassen. Sie führte sie zweifellos gut aus, denn seine Lordschaft schien befriedigt, wenn auch ernst und, fast zum erstenmal in seinem Leben, traurig.

Maltravers kam niemals zurück auf den Grund ihrer unglücklichen Zwietracht. Ebensowenig gab er sich von dieser Nacht an jemals den schmerzhaften und zornigen Gefühlen hin, wie sehr sie ihn auch peinigten – er täuschte niemals vor, sich selbst Vorwürfe zu machen – er beklagte nie mit fruchtloser Verzweiflung ihre bevorstehende Trennung. Was es ihn auch kostete, er stand gefaßt und stoisch unter der Macht seiner Selbstbeherrschung. Er kannte nur ein Ziel, einen Wunsch, eine Hoffnung – die letzten Stunden von Florence Lascelles vor jedem Schmerz zu bewahren – den Übergang auf der erhabenen Brücke zu erleuchten und zu erleichtern. Seine Voraussicht, seine Geistesgegenwart, seine Sorgfalt, seine Zärtlichkeit verließen ihn nicht einen Augenblick: sie überstiegen nachgerade die männlichen Eigenschaften, sie bezogen sich auf all die feinen, unbeschreibbaren Kleinigkeiten, durch die Frauen sich »in Kummer und Leid« zum »guten Engel« machen. Es war, als habe er sich an Leib und Seele für eine einzige Pflicht ertüchtigt – als sei diese Pflicht stärker empfunden als sogar seine Zuneigung – als sei er entschlossen, Florence vergessen zu lassen, dass sie keine Mutter mehr besitze.

Und dann: oh, wie liebte ihn Florence! um wieviel üppiger war nun in ihrer dankbaren, anschmiegsamen Zärtlichkeit diese Liebe als das unbändige, eifersüchtige Feuer ihrer früheren Verbindung! Wie es oft der Fall ist bei schwelenden Krankheiten, wurde Ihr eigener Charakter unendlich sanftmütiger und milder, je mehr die Schatten herab sanken. Sie liebte es, ihn dazu zu bringen, ihr vorzulesen und zu ihr zu sprechen – und ihre frühere Poesie des Gedankens wurde nun sozusagen zu Religion, die ja tatsächlich Poesie mit stärkeren Flügeln darstellt … Es gab eine Welt jenseits des Grabes – es gab ein Leben, das aus dem Puppenschlaf des Todes hervorging – sie würden doch vereint sein. Und Maltravers, der einen ernsten und festen Glauben an die Große Hoffnung besaß, vernachlässigte nicht die reinsten und höchsten aller Quellen des Trostes.

In diesem ruhigen Raum, in dieser prächtigen Villa, die den Hintergrund so vieler eitler weltlicher Pläne gebildet hatte – von Flirts und Festen, von politischen Treffen und Kabinettsessen, – von all dem Schaum vorüberrauschender Wellen – dort sprachen oft diese beiden Menschen, deren Verhältnis zueinander sich so plötzlich und seltsam geändert hatte, über jene Dinge – diese letzten, geistlichen: worin »die Hochzeit von Himmel und Erde« besteht.

»Welches Glück wurde mir zuteil«, sagte Florence eines Tages, »dass meine Wahl auf jemanden fiel, der so denkt wie Sie! Wie Ihre Worte mich erheben und entzücken! Doch hätte ich früher nicht daran gedacht, Sie nach Ihrer Auffassung zu solchen Themen zu fragen. In Kummer und Krankheit erfahren wir, warum der Glaube dem Menschen als Tröster gegeben wurde – der Glaube, der die Hoffnung unter einem heiligeren Namen darstellt – Hoffnung, die weder von Täuschung noch Tod etwas weiß. Ach, wie klug sprechen Sie von der Philosophie des Glaubens! Er ist wirklich das Teleskop, durch das die Sterne unserem Blick groß erscheinen. Und Sie, mein geliebter Ernest – den ich zum Schluss noch verstand und erkannte – Ihnen hinterlasse ich, wenn ich gegangen bin, jenen Mahner – jenen Freund; Sie werden selbst erfahren, was Sie mich lehren. Und wenn Sie nicht allein auf den Himmel schauen, sondern in das ganze All – auf die ganze grenzenlose Schöpfung, so werden Sie wissen, dass ich dort bin! Denn die Heimat eines Geistwesens ist überall dort, wo sich die universale Gegenwart Gottes ausbreitet. Zu welch zahlreichen Seinsstufen, zu welchen Pfaden, welchen Pflichten, welchen tätigen, wunderbaren Aufgaben in anderen Welten mögen wir noch bestimmt sein – vielleicht um sie gemeinsam zu erfahren und auf der Stufenleiter des Seins Zeitalter um Zeitalter höher zu steigen. Denn gewiss gibt es im Himmel weder Stillstand noch Erstarrung – wir legen uns nicht nieder zu stiller, unwiderruflicher Ruhe. Bewegung und Fortschritt wird das Gesetz und die Bedingung der Existenz bleiben. Und es wird Mühen und Pflichten für uns dort oben geben, wie es sie hier unten gab.«

Noch in dieser auch von Maltravers geteilten Theorie spiegelte sich Florence' Charakter, ihre überströmende Lebendigkeit und gedankliche Tätigkeit – ihre Ansprüche, ihr Ehrgeiz. Es war nicht so sehr die ruhige Rast des Grabes, auf die sie ihren nicht widerstrebenden Blick hin richtete, als vielmehr das Licht und die Pracht eines erneuerten, fortgeschrittenen Daseins.

Als sie einmal so da saßen und Ernests leise Stimme ruhig, doch mitunter zitternd vor zurückgehaltenem Gefühl, und manchmal ernüchternd, dann jedoch wieder erhebend auf Florence' Gedankenflug einwirkte, wurde Lord Vargrave gemeldet, und Lumley Ferrers, der nun diesen Titel geerbt hatte, betrat den Raum. Es war das erste Mal, dass Florence ihn seit dem Tod seines Onkels sah – das erste Mal, dass Maltravers ihn sah seit jenem für Florence so fatalen Abend. Beide fuhren auf – Maltravers erhob sich und schritt zum Fenster. Lord Vargrave ergriff die Hand seiner Cousine und drückte sie schweigend an seine Lippen; sein Aussehen bezeugte Gefühle, die wenigstens diesmal aufrichtig waren.

»Sie sehen, Lumley, ich habe aufgegeben«, sagte Florence mit einem lieblichen Lächeln. »Ich habe aufgegeben und bin glücklich dabei.«

Lumley schaute auf Maltravers und traf auf kalte, prüfende, stechende Augen, vor denen er mit einiger Verwirrung zurückschreckte. Er fing sich aber sofort wieder.

»Freut mich, Cousine, freut mich wirklich«, sagte er sehr ernst, »Maltravers wieder hier zu sehen. Jetzt wollen wir alle das Beste hoffen.«

Maltravers schritt bedächtig auf Lumley zu. »Wollen Sie jetzt auch meine Hand nehmen?« fragte er mit bedeutungsvollem Ausdruck.

»Bereitwilliger als je«, entgegnete Lumley und schreckte nicht vor Ernest zurück, als er dies sagte.

»Ich bin zufrieden gestellt«, versetzte Maltravers nach einer Weile und mit einer Stimme, die mehr ausdrückte als seine Worte.

In manchen Naturen steckt ein so großer Hort von Großmut, dass er sogar ihren Scharfsinn trübt. Maltravers vermochte nicht zu glauben, dass Freimütigkeit bloß eine Maske sein könne – von solcher Heuchelei wusste er nichts. Er selbst war, hätten ihn die Umstände dazu gezwungen, großer Verbrechen nicht unfähig; nein, der Gedanke an ein Verbrechen lag sogar gegenwärtig tödlich und dunkel in seinem Herzen, denn in ihm schlummerten Leidenschaften, die in einem so entschlossenen Charakter, falls der Wind sie zum Sturm erweckte, verhängnisvolle und schreckliche Wirkungen hervorrufen konnte. Sogar im Alter von dreißig war es noch ungewiss, ob Ernest Maltravers ein Vorbild oder ein Übeltäter werden würde. Aber eher hätte er einen Gegner erdrosselt als die Hand eines Mannes zu nehmen, der ihn einst verraten hatte.

»Es ist mir lieb, Sie als Freunde zu erleben«, sagte Florence, gefühlvoll auf sie schauend, »und für Sie wenigstens, Lumley, müsste eine solche Freundschaft ein Segen sein. Ich habe Sie immer sehr gemocht, Lumley – Sie wie einen Bruder geliebt, obwohl unsere Charaktere oft miteinander stritten.«

Lumley zuckte zusammen. »Um Himmels Willen«, rief er, »sprechen Sie nicht so liebevoll mit mir – ich kann es nicht ertragen, wenn ich auf Sie schaue und daran denke …«

»… dass ich sterbe. Gütige Worte geziemen uns am meisten, wenn wir uns dem Ende nähern. Aber genug davon – Ihr Verlust schmerzte mich.«

»Mein armer Onkel!« rief Lumley, voller Eifer den Gesprächsgegenstand wechselnd – »der Schock kam ganz plötzlich; und traurige Pflichten nahmen mich bis heute so in Anspruch, dass ich nicht einmal zu Ihnen kommen konnte. Es tröstete mich allerdings, auf meine täglichen Anfragen zu hören, dass Ernest hier sei. Ich für meinen Teil«, setzte er mit einem verhaltenen Lächeln hinzu, »bekam außer neuen Würden auch neue Pflichten aufgeladen. Ich bin zum Vormund einer Erbin bestellt und mit einem Kind verlobt.«

»Wie meinen Sie das?«

»Ach, mein armer Onkel war der Tochter seiner Gattin so zärtlich zugetan, dass er ihr den Hauptteil seines Vermögens hinterlassen hat: ein sehr kleines Gut, das nicht mehr als 2000 Pfund im Jahr einbringt, ist mit dem Titel an mich vererbt worden (ein neuer Titel außerdem, der doppelt so viel Aufwand erfordert, um sein Talmi als Gold auszugeben). Um nun einen doppelten Zweck zu erzielen, nämlich einerseits seinem kleinen Schützling seine eigne geliebte Peerschaft zu sichern und andererseits seinen Neffen für den Verlust des Vermögens zu entschädigen – hat er als letzten Wunsch hinterlassen, dass ich die junge Lady, über die ich als Vormund gesetzt bin, heirate, wenn sie achtzehn ist – oh! ich werde dann jenseits der vierzig sein! Wenn sie keinen so in die Jahre gekommenen Bräutigam nehmen will, verliert sie dreißig – nur dreißig von den 200 000 Pfund, die ihr vermacht sind, welche dann mir zufallen wie der süße Nachtisch nach der ekligen Hauptspeise, dem ›Nein‹ der jungen Lady. Nun wissen Sie alles. Seine Witwe, wirklich eine vorbildliche junge Dame, verfügt über ein Wittum von 1500 Pfund im Jahr und das Landhaus. Das ist nicht viel, aber sie ist's zufrieden.«

Die Leichtigkeit im Ton des neuen Peers empörte Maltravers, und er wendete sich ungeduldig ab. Aber Lord Vargrave hatte traurige Themen immer gehasst und war entschlossen, das Gespräch nicht wieder auf ihre Bahn zurück gleiten zu lassen; er wandte sich an Ernest und sagte: »Nun, mein lieber Ernest, ich weiß aus den Zeitungen, dass Sie jenes Amt erhalten, dass N*** zuletzt innehatte – es birgt große Aufstiegschancen. Ich gratuliere Ihnen.«

»Ich habe es ausgeschlagen«, entgegnete Maltravers trocken.

»Herrjeh! – tatsächlich? – warum?«

Ernest biss sich auf die Lippe und runzelte die Stirn; indem sein Blick indes unwillkürlich zu Florence wanderte, glaubte Lumley die wahre Antwort auf seine Frage entdeckt zu haben und verstummte.

Das Gespräch wurde hierauf gehemmt und brach ab. Lumley entschwand, sobald es ihm möglich war. Lady Florence hatte in dieser Nacht einen schlimmen Anfall und konnte am nächsten Tag das Bett nicht verlassen. Gegen diese Einschränkung hatte sie bis zum Schuss gekämpft; und nun wurde sie Tag um Tag häufiger und unvermeidlicher. Das Nahen des Todes beschleunigte sich. Lord Saxingham, endlich zur schmerzlichen Wahrheit erwacht, nahm seinen Platz an seiner Tochter Seite ein und vergaß, dass er Minister im Kabinett war.


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