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Kapitel IV

»Man kann dem Verstand nicht tief genug einprägen, dass Nutzbarkeit der Preis ist für geistigen Erwerb und dass es ebenso absurd ist, ihn ohne dies zu erwarten, wie auf eine Ernte zu hoffen, ohne gesät zu haben.
In allem, was wir tun, erstellen wir möglicherweise eine Folge von Wirkungen, deren Ablauf nur mit unserer Existenz enden könnte.«

BAILEY, Aufsätze zur Bildung und Veröffentlichung von Meinungen

Die Zeit verging, und der Herbst war weit zum Winter hin fortgeschritten; noch verweilte Maltravers in Como. Er sah kaum eine andere Familie als die der De Montaignes, und den größeren Teil seiner Zeit verbrachte er notwendigerweise allein. Seine Beschäftigung bestand weiterhin darin, mit seinen eigenen Kräften zu experimentieren, und diese wurden schrittweise ausgeprägter und umfassender. Er trug indes Sorge, seinen »Zeitvertreib von Como« vor seinen neuen Freunden zu verbergen: er wollte kein Publikum – er träumte nicht von Öffentlichkeit; es verlangte ihn lediglich, seinen eigenen Verstand zu trainieren. Aus eigenem Antrieb fortfahrend, wurde ihm bewusst, dass niemand so tiefgehend studieren noch mit viel Kunst gestalten kann, wenn er keinen deutlichen Gegenstand vor sich sieht: zuerst irgendeine Abteilung des Wissens bewältigen, am Schluss irgendeine Konzeption ausarbeiten.

Maltravers fiel zurück in seine jugendliche Leidenschaft für metaphysische Spekulation; aber mit welch unterschiedlichen Ergebnissen rang er nun mit den feinsinnigen Scholastikern, wo er jetzt die Menschheit praktisch kennengelernt hatte. Wie unmerklich gingen ihm neue Lichter auf, als er sich durch das Labyrinth von Ursache und Wirkung mit jenem Faden zurecht fand, mit dem wir zu jenem eigentümlichen und doppelförmigen Ungeheuer zu gelangen suchen Anspielung auf den Ariadne-Faden, mit dessen Hilfe der antiken Sage nach Theseus in das Labyrinth des Königs von Kreta eindrang, den Minotaurus, ein menschenfressendes Ungeheuer aus Mensch und Stier, erlegte und mittels des Fadens, den von des Königs Tochter erhalten hatte, wieder heraus fand. – Anm.d.Übers. – unserer eigenen Natur. Sein Verstand wurde gleichsam gesättigt durch diese gründlichen Studien und Betrachtungen; und wenn er nach einiger Zeit sich darin unterbrach, kam es ihm vor, als hätte er nicht in Einsamkeit gelebt, sondern sei durch einen Prozess von Handlungen in der geschäftigen Welt geschritten: so viel gerechter, so viel klarer war die Kenntnis seiner selbst und anderer geworden. Aber obwohl diese Forschungen seinem intellektuellen Streben Farbe gaben, begrenzten sie es nicht. Poesie und die leichteren Briefe waren ihm nicht mehr bloß Erholung, sondern kritisches und nachdenkliches Studium. Er drang erfreut ein in die Gründe, welche die luftigen Weben aus menschlichen Vorstellungen so dauerhaft und kraftvoll in ihrem Einfluss auf die harte Alltagswelt gemacht haben. Und welch anmutige Landschaft – welch ein Himmel – welche eine Luft, um darin die Projekte solchen Ehrgeizes einzuleiten, der ein Imperium in den Herzen und Erinnerungen der Menschheit zu etablieren trachtete. Ich glaube, dies hat eine große Wirkung auf die künftigen Arbeiten eines Schriftstellers, – der Ort, an dem er zum erstenmal träumt, dass seine Bestimmung das Schreiben ist!

Aus diesen Beschäftigungen wurde Ernest durch einen weiteren Brief von Cleveland herausgerissen. Sein gütiger Freund war enttäuscht und bekümmert, dass Maltravers nicht seinem Rat folgte und nach England zurückkehrte. Er hatte sein Missfallen gezeigt, indem er Ernests Entschuldigungsbriefe nicht beantwortete; aber schließlich war er von einer gefährlichen Erkrankung heimgesucht worden, die ihn an Grabesrand führte; und mit einem durch körperliche Erschöpfung weichen Herzen schrieb er nun in den ersten Augenblicken der Genesung an Maltravers, setzte ihn von seinem Anfall und der Gefahr in Kenntnis und drang wiederum in ihn heimzukehren. Der Gedanke, dass Cleveland – der liebevolle, gütige edle Beschützer seiner Jugend – dem Tode nahe gewesen war, dass er niemals mehr seine helfende Hand hätte ergreifen noch seiner väterlichen Stimme hätte antworten können, versetzte Ernest in quälende Angst und Reue. Er entschloss sich sofort, nach England zurückzukehren und nahm die entsprechenden Vorbereitungen auf.

Er ging zu den De Montaignes, um Abschied zu nehmen. Teresa versuchte gerade, ihren Erstgeborenen lesen zu lehren und saß am offenen Fenster der Villa in ihrer gepflegten, wenn auch nicht akkuraten dishabille Negligé. – Anm. d. Übers. – mit dem zarten, doch kräftigen und gesunden Gesicht, aus dem der kleine Jungen furchtlos auf sie schaute, während sie sich – halb ernst, halb lachend – bemühte, ihn in die Geheimnisse der einsilbiger Wörter einzuführen, ergaben der hübsche Junge und die schöne junge Mutter ein erfreuliches Bild.

De Montaigne las in den Essays seines ruhmreichen Namensvetters, in dem er sich rühmte, ich weiß nicht, mit welchem Recht, einen Vorfahren zu besitzen. Von Zeit zu Zeit schaute er auf von der Seite, um einen Blick auf den Fortschritt seines Erben zu werfen und dann den eigenen geistigen Marsch fortzusetzen. Die mütterliche Lektion unterbrach er dabei aber nicht; er war klug genug zu wissen, dass es eine Art Sympathie zwischen Mutter und Kind gibt, die jede ernste Überlegenheit eines Vaters aufwiegt, wenn es darum geht, in jungen Jahren das Lernen schmackhaft zu machen. Er war ein viel zu kluger Mann, um nicht all die Systeme zu verachten, mit den Kinder in den gerade modischen Wissensrahmen gespannt werden. Er wusste, dass Philosophen nie einen größeren Fehler machen konnten, als auf einer abstrakten Erziehung von der Wiege an zu bestehen.

Es ist völlig hinreichend, auf das kindliche Gemüt einzugehen und die verwünschte Vorliebe, Flunkereien zu erzählen, zu korrigieren, womit Dr. Reids Thomas Reid (1710-1796), schottischer Philosoph, Begründer der schottischen Schule der Common-Sense-Philosophie. Laut Reid wird uns die Existenz von Materie und Geist vom »Common Sense« (gesunden Menschenverstand) vermittelt, der sich aus der Art, wie wir von Gott erschaffen wurden, ergibt. – Anm. d. Übers. absurde Theorie über angeborene Neigungen zur Wahrheit widerlegt wird, und was die übliche Seuche der Kinderzimmer ausmacht. Vor allem aber: welcher Fortschritt kann je aufwiegen, dass eines Kindes Gesundheit gefährdet oder sein Geist gebrochen wird? Lasst es niemals, soweit es in eurer Macht steht, die erdrückende Bitterkeit der Furcht kennen lernen. Ein unerschrockenes Kind, das dir ins Gesicht schaut, spricht die Wahrheit und beschämt den Teufel; das ist der Stoff, um daraus gute und anständige – ja, und kluge Menschen zu machen!

   

Maltravers trat unangemeldet ein in diese liebenswerte familiäre Gesellschaft und stand unbeobachtet einige Momente an der offenen Tür. Der kleine Schüler war der erste, der ihn bemerkte, und rannte, die Einsilbler vergessend, ihn zu begrüßen; denn Maltravers, wiewohl eher behutsam als lustig, war der Liebling der Kinder, und sein hübsches, ruhiges, liebenswürdiges Gesicht erreichte bei ihnen mehr, als wenn, wie bei Goldsmiths Burchell, Eine Figur aus »The Vicar of Wakefield«, von Oliver Goldsmith, 1766. – Anm. d. Übers. seine Taschen mit Gingerbrot und Äpfeln gefüllt gewesen wären. »Ach, pfui über Sie, Mr. Maltravers!« rief Teresa aufstehend. »Sie haben alle Zeichen zerstört, die ich mich in dieser letzten Stunde bemüht habe in den Sand zu zeichnen.«

»Oh nein, Signora«, sagte Maltravers, indem er sich niederließ und das Kind auf sein Knie setzte. »Mein junger Freund wird sich wieder an die Arbeit setzen mit größerem gusto nach dieser kleinen Unterbrechung seiner Mühen.«

»Sie werden hoffentlich den ganzen Tag mit uns verbringen?« fragte De Montaigne.

»In der Tat«, antwortete Maltravers, »und kam, um hierzu die Erlaubnis zu erbitten, denn morgen reise ich ab nach England.«

»Ist es möglich?« rief Teresa. »So plötzlich! Wie werden wir Sie vermissen! Oh, gehen Sie nicht! Aber vielleicht erhielten Sie schlechte Nachrichten aus England?«

»Ich erhielt Nachrichten, die mich sofort abrufen«, erwiderte Maltravers; »mein Vormund und zweiter Vater ist gefährlich erkrankt. Ich bin beunruhigt seinetwegen und mache mir selbst Vorwürfe, ihn so lange vergessen zu haben in Ihrer verführerischen Gesellschaft.«

»Es tut mir wirklich leid, Sie zu verlieren«, sagte De Montaigne mit größerer Wärme in seinem Tonfall als in seinen Worten. »Ich hoffe von Herzen, dass wir uns bald wiedersehen: vielleicht werden Sie nach Paris kommen?«

»Wahrscheinlich«, sagte Maltravers; »und Sie vielleicht nach England?«

»Ach, wie mir das gefiele!« rief Teresa.

»Nein, das würde es nicht«, sagte ihr Gatte; »dir würde England überhaupt nicht gefallen; du würdest es triste über die Maßen nennen. Es ist eines jener Länder, auf das ein Einheimischer stolz sein sollte, das aber dem Fremden kein Vergnügen bietet, gerade wegen der Fülle ernsthafter geschäftlicher Inanspruchnahme der Bürger. Die unterhaltsamsten Länder für Fremde sind die schlimmsten für die Einheimischen (Italien als Beweis), und vice versa

Teresa schüttelte ihre dunklen Locken; sie war nicht überzeugt.

»Und wo ist Castruccio?« fragte Maltravers.

»In seinem Boot auf dem See«, antworte Teresa. »Er wird untröstlich sein über Ihre Abreise: Sie sind der einzige, den er versteht, oder der ihn versteht; der einzige in Italien – ich hätte beinahe gesagt, in der ganzen Welt.«

»Nun, wir sehen uns beim Abendessen«, sagte Ernest; »inzwischen möchte ich Sie bitten, mich zu den Pliniana zu begleiten. Ich würde gerne dem kristallnen Quell Lebewohl sagen.«

Teresa, stets über jede Ablenkung erfreut, willigte sogleich ein.

»Und ich auch, Mamma«, rief das Kind; »und meine kleine Schwester?«

»Oh, gewiss«, meinte Maltravers, für die Eltern sprechend.

So war die Gesellschaft bald bereit, und sie stießen ab in dem klaren freundlichen Mittag (denn der November in Italien entspricht dem September im Norden) über das funkelnd gekräuselte Wasser. Die Kinder plapperten, und die Erwachsenen unterhielten sich über Tausenderlei. Es war ein angenehmer Tag, dieser letzte Tag am Comer See. Denn ein Lebewohl unter Freunden hat tatsächlich etwas Melancholisches, aber nichts von Kummer, wie bei Liebenden. Vielleicht wäre es besser, man könnte die Liebe ganz und gar los werden. Das Leben würde glatter und glücklicher verlaufen. Freundschaft ist der der Wein des Daseins, aber Liebe sein Schnaps.

Als sie zurückkehrten, fanden sie Castruccio auf dem Rasen sitzen. Er wirkte nicht so entmutigt von der Aussicht auf Ernests Abreise, wie Teresa vermutet hatte; Castruccio Cæsarini war nämlich ein sehr eifersüchtiger Mensch und war zuletzt darüber verstimmt gewesen, dass die De Montaignes Ernests Gesellschaft schätzten.

»Warum nur?« fragte er sich oft; »warum haben sie mehr Freude an der Gesellschaft dieses Fremden als an meiner? Meine Ideen sind ebenso neu und originell; ich besitze ebensoviel Genie, doch sogar mein trockner Schwager gesteht ihm seine Gaben zu und prophezeit, dass er ein herausragender Mann wird! während ich – Nein! – niemand ist ein Prophet in seinem eigenen Land!«

Unglücklicher Mensch! sein Geist barg all die wuchernden Triebe eines krankhaft poetischen Charakters, und Unkraut verdrängte die Blumen, welche allein ein wohlgepflegter Boden tragen sollte. Jedoch erwartete Castruccio jene Lebenskrise, in der ein gefühlvoller und poetischer Mann geschaffen oder geschädigt wird; jene Krise, in der Gefühle durch Leidenschaften ersetzt werden, – in der die Liebe zu einem realen Objekt die verstreuten Strahlen des Herzens in einem Fokus sammelt: aus diesem Martyrium könnte er reiner und männlicher hervorgehen – so hoffte Maltravers häufig. Er dachte dann wenig daran, wie eng verknüpft mit seinem eigenen Geschick dieser Abschnitt in der italienischen Geschichte war. Castruccio gelang es, Maltravers beiseite zu nehmen, und als er den Engländer durch den Wald hinter dem Landhaus führte, sagte er mit einiger Verlegenheit: »Sie gehen vermutlich nach London?«

»Ich werde hindurch kommen – kann ich irgendeinen Auftrag für Sie durchführen?«

»Oh … ja; meine Gedichte! – Ich gedenke sie in England zu veröffentlichen; Ihr Adel pflegt die italienische Literatur; und vielleicht würde ich von den Redlichen und Edlen gelesen werden. Den gemeinen Pöbel – verachte ich nämlich!«

»Mein lieber Castruccio, ich werde mich bemühen, dass Ihre Gedichte in London erscheinen, wenn Sie es wünschen; aber seien Sie nicht zu optimistisch. In England wird wenig Poesie gelesen, selbst in unserer eigenen Sprache, und wir sind beschämend gleichgültig gegenüber ausländischer Literatur.«

»Ja, ausländischer Literatur im Allgemeinen, das stimmt; aber meine Gedichte sind von anderer Art. Sie müssen in einem kultivierten und geistreichen Zirkel Aufmerksamkeit erheischen.«

»Nun gut! der Versuch mag gewagt sein; Sie können mir die Gedichte übergeben, wenn wir uns verabschieden.«

»Ich danke Ihnen«, sagte Castruccio in erfreutem Ton und drückte seines Freundes Hand; und für den übrigen Abend schien er ein anderer Mensch; er liebkoste sogar die Kinder und spottete nicht ob der ernsten Konversation seines Schwagers.

Als Maltravers sich zum Abschied erhob, gab Castruccio ihm das Paket; und dann, gänzlich versunken in seine Vorstellung künftigen Ruhms, floh er den Raum, um sich seinen Träumereien hinzugeben. Er kümmerte sich nicht weiter um Maltravers – er hatte ihn sich dienstbar gemacht – er konnte seine Abreise nicht bedauern, denn sie war das Avatar seines Erscheinens in einer neuen Welt.

Ein schwacher Nieselregen fiel trüb hernieder, wenngleich wiederholt Sterne die unbeständigen Wolken durchbrachen, und Teresa wagte sich daher nicht aus dem Haus; sie bot dem jungen Gastfreund ihre Wange zum Abschiedsgruß und drückte ihm die Hand zum Lebewohl mit Tränen in den Augen. »Ach!« sagte sie, »wenn wir uns wiedersehen, hoffe ich, dass Sie verheiratet sind – ich werde Ihre Frau von Herzen lieben. Ohne Ehe und Heim gibt es kein Glück!«, und schaute mit aufrichtiger Zärtlichkeit zu De Montaigne.

Maltravers seufzte; – seine Gedanken flogen zurück zu Alice. Wo war nun dieses einsame, freundlose Mädchen, dessen unschuldige Liebe einst sein Heim verschönert hatte? Er antwortete unbestimmt und mechanisch mit einem Gemeinplatz und verließ den Raum mit De Montaigne, der darauf bestand, seiner Abreise beizuwohnen. Während sie sich dem See näherten, brach De Montaigne das Schweigen.

»Mein lieber Maltravers«, sagte er in ernstem, gedankenvollen Ton, »vielleicht sehen wir uns in Jahren nicht wieder. Mich interessiert von Herzen Ihr Glück und Ihre Karriere, ja, Karriere – ich wiederhole das Wort. Es ist nicht meine Gewohnheit, junge Männer zu einem Ehrgeiz anzustacheln, der hinreichend für die meisten wäre, um gute und ehrenwerte Bürger zu werden. Aber in Ihrem Fall ist es etwas anderes. Ich erkenne in Ihnen die ernste und nachdenkliche, nicht die unbesonnene und überhebliche Jugend, was in der Regel fruchtbar für ein bedeutendes Mannestum ist. Ihr Geist ist noch nicht zur Ruhe gekommen, das stimmt; aber er wird sich rasch klären und das jugendliche Ferment von Träumen und Leidenschaften reifend hinter sich lassen. Alles steht Ihnen zu Gebote, – Fähigkeit, Geburt, Verbindungen; und zu alledem sind Sie ein Engländer! Sie haben eine mächtige Bühne, auf der Sie freilich ohne Verdienst und ohne Mühe kein Fundament errichten können – umso besser; – eine Bühne, auf der starke und entschlossene Rivalen Sie zur Nachahmung beeifern werden, und dann wird der Wettbewerb Ihre kühnsten Kräfte fordern. Bedenken Sie, welch rühmliches Schicksal es ist, Einfluss auf den gewaltigen, aber stetig wachsenden Geist einer solchen Nation zu haben, – mit dem Gefühl, wenn sie sich von der geschäftigen Szenerie zurückziehen, dass Sie eine unvergessliche Rolle spielten – dass Sie in Gottes großem Plan ein Mittler neuer, die Welt umlaufender Ideen waren – das ruhmreiche Priestertum von Rechtschaffenheit und Schönheit unterstützten. Dies ist der wahre Ehrgeiz; das Verlangen nach bloß persönlichem Ruhm ist Eitelkeit, nicht Ehrgeiz. Seien Sie deshalb nicht lauwarm oder gleichgültig. Der Wesenszug, den ich in Ihnen beobachtet habe«, fügte der Franzose mit einem Lächeln hinzu, »ein höchst schädlicher für Ihre Möglichkeiten sich auszuzeichnen, ist, dass Sie zu philosophisch sind, zu sehr zum cui bono Wem bzw. wozu nützt es? – Anm.d.Übers. neigen in Bezug auf all die Strapazen, die störend in die Trägheit verfeinerter Muße eingreifen. Und Sie dürfen nicht glauben, Maltravers, dass eine aktive Karriere einem Pfad voller Rosen gleichen wird. Gegenwärtig haben Sie keine Feinde; aber in dem Augenblick, wo Sie nach Auszeichnung streben, werden Sie geschmäht, verleumdet, beleidigt. Der von Ihnen hervorgerufene Hass wird Sie erschüttern, Sie werden nach Ihrer früheren Verborgenheit seufzen und erwägen, wie einst Franklin, ›dass Sie Ihre Flöte zu teuer bezahlten‹. In einem Brief an Madame Brillon (1779) veranschaulicht Benjamin Franklin mit einer Geschichte, wie ihm in der Jugend ein extravaganter Kauf eine Lehre fürs Leben erteilte. (»Alas!« say I, »he has paid dear, very dear, for his whistle.«) – Anm.d.Übers. Aber welch edle Entschädigung zum Ausgleich für Ihre individuellen Feinde, die Öffentlichkeit selbst zu Ihrem Freund erworben zu haben; vielleicht gar die Nachwelt zu Ihrem Vertrauten! Überdies«, setzte De Montaigne mit einem fast religiösen Ernst in der Stimme hinzu, »gibt es ein Bewusstsein des Kopfes ebenso wie des Herzens, und im Alter empfindet man ebenso viel Reue, wenn man seine angeborenen Talente vergeudet hat, als wenn man seine angeborenen Tugenden ins Gegenteil verkehrt hätte. Die tief erfüllende Befriedigung, mit der ein Mann, der weiß, dass er nicht vergeblich gelebt hat – dass er der Welt ein Erbstück der Unterweisung oder der Freude gegeben hat, – auf überwundene Kämpfe zurückschaut, ist eines der glücklichsten Gefühle, deren das Bewusstsein fähig ist. Was bedeuten da in der Tat belanglose Fehler, die man als Individuum begeht, die nur einen engen Kreis betreffen und mit unserem Leben enden, gegenüber dem unabsehbaren und dauerhaften Gut, das man als öffentliche Person durch ein Buch oder ein Gesetz hervorbringen kann? Verlassen Sie sich darauf, dass der Allmächtige, der alles Gute und all das Böse, das von seinen Geschöpfen getan wird, zu einem gerechten Gleichgewicht aufrechnet, die erhabenen Wohltäter dieser Welt nicht mit derselben Strenge beurteilt wie die gesellschaftlichen Schmarotzer, welche im ewigen Hauptbuch keine großen Leistungen vorzuweisen haben, – gleichsam als nachsichtige Aufrechnung ihrer geringen Fehler. Dieses recht berücksichtigend, Maltravers, werden Sie jeden Anreiz haben, der einen vornehmen Geist und einen reinen Ehrgeiz locken kann, aus der schwelgerischen Trägheit literarischen Sybaritismus zu erwachen und im weltweiten Altis Der heilige Hain von Olympia. – Anm. d. Übers. um einen großen Preis ehrenvoll zu kämpfen.«

Maltravers hatte sich nie zuvor so geschmeichelt gefühlt – so tief erregt zu hohen Entschlüssen. Die imposante Beredsamkeit, die leidenschaftliche Aufmunterung dieses gewöhnlich so kalten und heiklen Mannes erhob ihn wie der Klang einer Trompete. Er hielt kurz ein, seine Brust wölbte sich mächtig, seine Wangen erglühten. »De Montaigne«, sagte er, »Ihre Worte haben tausend Zweifel und Skrupel hinweg gefegt – sie sind direkt zu meinem Herzen gedrungen. Zum ersten Mal verstehe ich, was Ruhm bedeutet – was sein Ziel ist, und was der Mühe Lohn! Visionen, Hoffnungen, Erwartungen mag ich zuvor gehabt haben – seit Monaten hat eine neue innere Bewegung mich durchzuckt. Ich fühlte, wie sich die Flügel von der Schale lösten, aber alles war verwirrt, trüb, ungewiss. Ich zweifelte am Sinn von Anstrengungen, wo das Leben so kurz ist und die Freuden der Jugend so süß. Ich betrachte das Leben nun nicht mehr nur als einen Teil der Ewigkeit, für die wir – das fühle ich – geboren sind; und ich erkenne die ernste Wahrheit, dass unsere Ziele, um lebenswert zu sein, würdig sein sollten der Geschöpfe, in denen das Naturgesetz des Lebens niemals erlischt. Leben Sie wohl, mögen Freude oder Leid, Niederlage oder Erfolg kommen, ich werde kämpfen, um Ihre Freundschaft zu verdienen.«

Maltravers sprang in sein Boot, und die Nachtschatten rissen ihn rasch aus dem Blick des zurückbleibenden De Montaigne.


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