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Sechstes Buch.

Du sagst vielleicht, Gold wiege alles auf,
Und Reichtum schaffe Freude.

   

                              Ganz unerträglich ist's,
Den Schlechter'n auch den Vorrang noch zu lassen.

Kapitel I

»L'adresse et l'artifice out passe
      dans mon cœ,ur;
Qu'ou a sous cet habit et d'esprit
      et de ruse.« Feinsinniges Geschick ist in mein Herz gezogen;
Gerissenheit und Schläue kam dabei heraus.

REGNARD.

An einem schönen Julimorgen spazierte ein Herr, der am Abend zuvor – nach einigen Jahren Abwesenheit von England – in London angekommen war, langsam und versonnen auf der prächtigen Straße, die den Regent's Park Einer der königlichen Parks in London; in der Form, wie er zur Zeit der Handlung des Romans existierte, 1811 errichtet. – Anm.d.Übers. mit St. James's Zentrales Aristokratenviertel in London zu Bulwers Zeit. – Anm.d.Übers. verbindet.

Er war ein Mann, der, begabt mit bedeutender Geisteskraft, seine Jugend in vagabundierendem Wanderleben vergeudet, aber nun seine Vergnügungslust erschöpft hatte und einen Sinn für Ehrgeiz zu entwickeln begann.

»Erstaunlich, wie sich diese Stadt zu ihrem Vorteil verändert hat«, sprach er bei sich. »In dieser Welt kommt alles voran mit ein wenig Energie und Einsatz – das gilt für Menschen so gut wie für Dinge. Meinen alten Kumpanen, Burschen, die nicht halb so klug sind wie ich, geht es allen gut. Tom Stevens zum Beispiel, mein Fuchs Junger Internatsschüler, der einem älteren, dem ›Präfekten‹, bestimmte Dienste zu leisten hat. – Anm.d.Übers. in Eaton, – welch ein wehleidiges Hündchen! – hat es zum Unterstaatssekretär geschafft. Pearson, dem ich immer die Längen und Kürzen in seine griechischen Texte setzen musste, ist jetzt Direktor der menschlichen Langen und Kurzen Wortspiel mit »longs and shorts«, nur unzureichend reproduzierbar. – Anm.d.Übers. einer öffentlichen Schule – veranstaltet Editionen griechischer Dramen und ist für ein Bischofsamt vorgesehen. Collier ist, wie ich den Zeitungen entnahm, Vorsitzender eines Gerichtsbezirks – und Ernest Maltravers ( er besaß freilich einiges Talent) hat sich in der Welt einen Namen gemacht. Und ich, der ich ebenso viel wert bin wie sie alle zusammen, habe nichts vorzuweisen, als dass ich die Hälfte meines Vermögens trotz all meiner Sparsamkeit durchbrachte. Ich muss mich jetzt auf das Wesentliche besinnen; aber gerade, wo ich seine Hilfe am meisten gebrauchen könnte, hält es mein werter Onkel für angebracht, noch einmal zu heiraten. Hm – ich bin zu gut für diese Welt«.

Während dieses nachdenklichen Selbstgesprächs stieß er mit einem großen Herrn zusammen, der seinen Kopf sehr hoch in der Luft trug und nicht zu bemerken schien, dass er unseren geistesabwesenden Philosophen beinahe umgeworfen hätte.

»Zum Henker, Sir, was soll das?« schrie letzterer.

»Bitte entschul …«, begann der andere kleinlaut, als sein Arm gefasst wurde und der beleidigte Mann ausrief: »Du lieber Himmel, sind Sie es tatsächlich?«

»Ha! – Lumley?«

»Derselbe; und wie geht's, mein lieber Onkel? Ich wusste nicht, dass Sie in London seien. Ich bin erst gestern abend angekommen. Wie gut Sie aussehen!«

»Oh, ja, dem Himmel sei Dank, ich fühl' mich recht gut.«

»Und glücklich in Ihren neuen Banden? Sie müssen mir Mrs. Templeton vorstellen.«

»Ähem!« versetzte Mr. Templeton sich räuspernd mit einem leicht verlegenen Lächeln, »ich hätte nie geglaubt, dass ich noch einmal heiraten würde.«

» L' homme propose et Dieu dispose«, »Der Mensch denkt, Gott lenkt.« – Zugleich Wortspiel mit »propose«, das im Englischen auch »einen Heiratsantrag machen« bedeutet. – Anm.d.Übers. stellte Lumley Ferrers fest, denn er war es.

»Langsam, mein lieber Neffe«, erwiderte Mr. Templeton ernst; »solche Phrasen sind ein wenig lästerlich; ich bin altmodisch, wie Sie wissen.«

»Zehntausend Mal Verzeihung!«

»Eine Entschuldigung reicht; solche Übertreibungen sind beinahe sündhaft.«

»Verdammter alter Pedant!« dachte Ferrers, verbeugte sich aber scheinheilig.

»Mein lieber Onkel, ich war zu meiner Zeit ein wilder Kerl; aber mit den Jahren kommt die Besinnung; und unter Ihrer Anleitung, falls ich auf sie hoffen kann, glaube ich, ein klügerer und besserer Mann zu werden.«

»Es ist gut, Lumley«, antwortete der Onkel, »und ich freue mich sehr, dass Sie wieder zu unserem Heimatland zurückgekehrt sind. Möchten Sie morgen bei mir speisen? Ich lebe in der Nähe von Fulham. Am besten bringen Sie Ihr Gepäck mit und bleiben für ein paar Tage; Sie sind herzlich willkommen, besonders wenn Sie ohne einen ausländischen Diener zurecht kommen. Ich habe großes Mitleid mit den Papisten, aber …«

»Oh, mein lieber Onkel, keine Sorge; für einen ausländischen Diener bin ich nicht reich genug, und ich bin nicht über drei Viertel des Erdballs gereist, ohne heraus zu finden, dass man auf einen Kammerdiener verzichten kann.«

»Was das Reich-genug-Sein angeht«, bemerkte Mr. Templeton mit berechnender Miene, »siebenhundert und fünfundneunzig Pfund zehn Schillinge im Jahr erlauben einem Man, wenn es ihm beliebt, zwei Diener zu halten; aber es freut mich jedenfalls, Sie so sparsam zu sehen. Dann sehen wir uns morgen um sechs Uhr.«

» Au revoir – ich wollte sagen: Gott segne Sie.«

»Langweiliger alter Herr, das«, murmelte Ferrers, »und nicht so herzlich wie früher; vielleicht ist seine Frau schwanger und er läßt mir die Ungerechtigkeit widerfahren, einen anderen Erben zu bekommen. Ich muss mir das ansehen; denn ohne Reichtümer würde ich am besten umkehren und in Paris au cinquiè me Im fünften Stock. – Anm.d.Übers. leben.«

Nach diesem Fazit beschleunigte Lumley seinen Schritt und erreichte bald Seamore Place. Wenige Augenblicke später befand er sich in einer gut ausgestatteten Bibliothek, die mit Marmorbüsten und Gemälden aus den Werkstätten Canovas und Flaxmans In der zweiten Auflage: Thorwaldsen. – Anm.d.Übers. dekoriert war.

»Mein Herr, Sir, wird alsbald herunter kommen«, sagte der Diener, der ihn hereingelassen hatte; Ferrers warf sich auf das Sopha und betrachtete den Raum mit halb neidischem, halb zynischem Ausdruck.

Da öffnete sich die Tür, und »Mein lieber Ferrers!« »Nun, mon cher, wie geht's?« lauteten die hastig gewechselten Begrüßungen.

Nach den ersten Sätzen der Nachfrage, der Gratulation und des Willkommens war der Weg bereit für ein allgemeineres Gespräch.

»Also, Maltravers«, sagte Ferrers, »so sind wir nun wieder zusammen nach Ablauf so vieler Jahre! beide sind wir zumindest älter; und Sie, nehme ich an, auch klüger. Jedenfalls halten Sie die Leute dafür; und nur darauf kommt's an. Oh Mann, Sie sehen noch immer genauso jung aus, nur etwas blasser und dünner. Aber schauen Sie mich an – ich bin kaum über dreißig und fast schon ein alter Mann, kahl an den Schläfen, Krähenfüße gibt's auch, he? Der Müßiggang macht verdammt alt!«

»Pah, Lumley, Sie sahen nie besser aus. Und Sie wollen sich jetzt wirklich in England niederlassen?«

»Ja, wenn ich das schaffe. In meinem Alter und nachdem ich so viel gesehen habe, befriedigt mich jetzt das Leben eines müßigen, obskuren garç on nicht mehr. Ich merke, wie das gesellschaftliche Urteil, das ich früher verachtete, für mich an Bedeutung gewinnt. Ich will etwas darstellen. Was könnte das sein? Schauen Sie nicht so aufgeschreckt, ich werde Ihnen keine Konkurrenz machen. Ich meine: literarischer Ruhm ist eine feine Sache, aber mich verlangt nach einer substanzielleren, weltlicheren Auszeichnung. Sie kennen Ihr Land; geben Sie mir eine Karte mit den Wegen zur Macht.«

»Zur Macht! Oh, nur Rechtswissenschaft, Politik und Reichtum.«

»Zur Rechtswissenschaft bin ich zu alt; Politik könnte mir vielleicht liegen; aber Reichtum, mein lieber Ernest – ach, wie ich mich nach einem ausgeglichenen Konto bei meiner Bank sehne!«

»Na, da helfen nur Geduld und Hoffnung. Aber sind Sie nicht der Erbe eines reichen Onkels?«

»Keine Ahnung«, sagte Ferrers betrübt; »der alte Herr hat wieder geheiratet und hat vielleicht noch Familie.«

»Geheiratet! – wen?«

»Eine Wittwe, hörte ich; ich weiß sonst nichts, als dass sie schon ein Kind hat. Verflixt! da sehen Sie, dass sie noch Kinder kriegen kann. Und wenn ich vierzig bin, seh' ich vielleicht eine ganze Schar von Engeln mit dem großen Templeton-Vermögen davonfliegen!«

»Ha, ha! Ihre Verzweiflung schärft Ihren Witz, Lumley: aber warum machen Sie's Ihrem Onkel nicht nach und heiraten selbst? In der zweiten Auflage folgt hier: »Das werde ich, falls ich eine Erbin finde – falls es das ist, was Sie meinen – das ist ein vernünftigerer Vorschlag, als ich ihn von einem Mann …«. – Anm.d.Übers. Finden Sie eine Erbin, wenn Sie die Erbschaft aufgeben müssen.«

»Vernünftig gesprochen, vernünftiger als ich mir bei jemandem einbilden konnte, der Bücher schreibt, zumal Dichtung. Und Ihr Rat ist nicht zu verachten. Denn reich werde ich sein; wie die Väter (ich meine nicht die Kirchenväter, sondern die bei Horaz) der nachkommenden Generation sagten: zuerst muss man sich entscheiden reich zu werden; zu überlegen wie, kommt erst an zweiter Stelle.«

»Seien Sie derweil mein Gast, Ferrers!«

»Ich werde heute mit Ihnen speisen; aber morgen muss ich nach Fulham, um meine Tante kennen zu lernen. Können Sie sie sich vorstellen? – graues gros-de-Naples-Kleid, Ein dichter, seidener, auch halbseidener, taffetartig gewebter Stoff, der früher nur in Neapel verfertigt. – Anm.d.Übers Lorgnon Lorgnon (frz.), eine Lesehilfe, die mit Hilfe eines Griffs vor die Augen gehalten wird. Am Griff ist oft auch eine Kette befestigt, mit der sich das Lorgnon um den Hals tragen lässt. Die Gläser sind durch einen Bügel in der Mitte verbunden. Benutzt wurde es überwiegend von Frauen. – Anm.d.Übers. an goldener Goldkette; ziemlich fett; zwei Möpse und ein Papagei! ›Regen Sie sich nicht auf, das ist ein Schaubild der Fantasie!‹ Ich sah ja die achtbare Verwandte noch nicht mit meinen leiblichen Augen. – Was gibt's zum Essen? Lassen Sie mich wählen, Sie waren immer ein schlechter Gastronom.«

Wie Ferrers so weiter schwadronierte, hatte Maltravers das Gefühl, sich zu verjüngen: alte Zeiten mit ihren Abenteuern drängten sich ihm mit Macht auf; und die beiden Freunde verbrachten einen höchst einvernehmlichen Tag zusammen. Erst am nächsten Morgen, als Maltravers über ihre verschiedenen Gespräche nachdachte, sah er sich widerwillig zu der Erkenntnis gezwungen, dass der untätige Egoismus Ferrers sich mittlerweile zu entschlossener, systematischer Prinzipienlosigkeit verhärtet hatte, die ihn möglicherweise zu einem gefährlichen, hinterhältigen Menschen machte, falls ihn die Umständen zu handeln nötigten.


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