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Kapitel IV

»Geduld und Kummer stritten,
Wer ihr den stärksten Ausdruck lieh.«
SHAKESPEARE, King Lear, IV, 3

   

»Je la plains, je la blame, et je suis son appui.« Ich bemitleide sie, ich tadle sie und stehe ihr bei. – Anm.d.Übers.

VOLTAIRE.

Nun erkannte Alice, dass sie mit ihrem Kind auf der weiten Welt alleine stand, ohne Schutz, aber zum Schützen bestimmt; nach wenigen Tagen der Todespein überkam sie jedoch ein neuer Geist, nicht eigentlich von Hoffnung, sondern von Ausdauer. Ihre einsamen Wanderungen, nur mit Gott an ihrer Seite, hatten außerordentlich auf die Hebung und Kräftigung ihres Charakter gewirkt. Sie erwarb starkes Vertrauen in das Geheimnis göttlicher Gnade – und erkannte ihre mütterliche Verantwortung. Indem sie so viele Monate auf sich selbst zurückgeworfen war und auf das »Brot des Lebens«, Siehe Johannes, 6,32-35: »Da sprach Jesus zu ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Nicht Mose hat euch das Brot vom Himmel gegeben, sondern mein Vater gibt euch das wahre Brot vom Himmel. Denn Gottes Brot ist das, das vom Himmel kommt und gibt der Welt das Leben. Da sprachen sie zu ihm: Herr, gib uns allezeit solches Brot. Jesus aber sprach zu ihnen: Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten. [Luther-Bibel 1984].Anm.d.Übers. schärfte sich unbewusst ihr Verstand, während eine Haltung tapferer Geduld ihrer ursprünglich anschmiegsamen und weiblich-weichen Natur Stärke verlieh. Sie entschied sich, in eine andere Grafschaft zu wechseln, weil sie weder die von der Nachbarschaft gehegten Vorstellungen ertragen noch ohne Abscheu an die mögliche Rückkehr ihres Vaters denken konnte.

Eines Tages nahm sie also ihre Wanderung wieder auf – und nach einer Woche erreichte sie ein kleines Dorf. Wohltätigkeit ist so verbreitet in England, sie quillt so spontan überall hervor wie gute Saat am Wegesrand, dass sie kaum Lebensnotwendiges zu entbehren brauchte. Ihr demütiges Auftreten und ihre süße, wohlklingende Stimme, bar jeglichen berufsmäßigen Bettlergewinsels, bezauberte auch die Strengsten. So erhielt sie im Allgemeinen genug für Brot und nächtliche Unterkunft, und wenn es manchmal misslang, vermochte sie den Hunger zu ertragen und scheute sich nicht, in einen Stall zu kriechen oder – am Meer – in eine schützende Höhle. Dabei gedieh auch ihr Kind – denn Gott berücksichtigt das schwächste Glied in der Kette! Wörtlich: »Gott mäßigt den Sturm für das geschorene Lamm«. – Anm.d.Übers. Aber nun war, soweit es körperliche Not betrifft, das Schlimmste vorüber.

So geschah es, dass Alice, während sie erschöpft im Dorf, ihrem Tagesziel, einzog, eine Dame mittleren Alters traf, in deren Antlitz sich Mitleid so sichtbar ausdrückte, das Alice nicht betteln mochte, denn sie besaß ein ganz eigenes Zartgefühl oder Stolz, wie immer man es nennen mag, und bettelte lieber bei streng blickenden Menschen als bei solchen, die freundlich auf sie schauten – sie mochte sich in den Augen letzterer nicht erniedrigen.

Die Dame blieb stehen.

»Mein armes Mädchen, wohin gehen Sie?«

»Wohin Gott es beliebt, Madame«, sagte Alice.

»Hm! und ist dies Ihr eigenes Kind? – Sie sind selbst fast noch ein Kind.«

»Es ist meines, Madame«, antwortete Alice, liebevoll den Säugling betrachtend; »es ist alles, was ich habe.«

Die Stimme der Dame schwankte. »Sind Sie verheiratet?« fragte sie.

»Verheiratet! – Oh nein, Madame!« erwiderte Alice treuherzig ohne zu erröten, denn ihr war nie bewusst geworden, dass ihre Liebe zu Maltravers ein Fehler gewesen sei.

Die Dame wich leicht zurück, aber nicht entsetzt – nein, in immer tieferem Mitgefühl; denn diese Dame besaß Tugend und wußte, dass die Fehler ihres Geschlechts sattsam bestraft sind, so dass die »Tugend« sie ohne zu sündigen bedauern darf.

»Das tut mir leid«, sagte sie indes mit größerem Ernst. »Gilt Ihre Reise der Suche nach dem Vater?«

»Ach, Madame! Ich werde ihn nie wiedersehen!« Alice weinte.

»Was! – er hat Sie verlassen – so jung und schön, wie sie ist!« fügte die Dame für sich hinzu.

»Mich verlassen! – nein, Madame; aber das ist eine lange Geschichte. Guten Abend – ich danke Ihnen sehr für Ihr Mitgefühl.«

Der Dame wurden die Augen feucht.

»Bleiben Sie«, sagte sie; »erzählen Sie mir freimütig, wohin Sie wollen und was Sie vorhaben.«

»Ach! Madame, ich gehe irgendwohin, denn ich besitze kein Heim; aber ich möchte leben und für meinen Lebensunterhalt arbeiten, damit es meinem Kind an nichts fehlt. Ich wünschte, ich könnte mich selbst erhalten – er sagte immer, ich könne es.«

»Er! – Ihre Sprache und Ihr Verhalten sind nicht die einer Bäuerin. Was können Sie? Worauf verstehen Sie sich?«

»Musik und Arbeit und – und -«

»Musik« – das ist seltsam! Was waren Ihre Eltern?«

Alice schauderte und verbarg ihr Gesicht in ihren Händen.

Das Interesse der Dame war nun ordentlich zu ihren Gunsten erwärmt.

»Sie hat gefehlt«, sagte sie zu sich selbst; »aber bei dem Alter, wie kann man da brutal sein? Sie darf nicht auf die Welt geworfen worden sein, um Sünde zur Gewohnheit zu machen. – Folgen Sie mir«, sagte sie nach einer kleinen Weile; »und nehmen Sie an, Sie haben eine Freundin gefunden.«

Die Dame wendete sich dann von der Landstraße zu einem Weg, der durchs Grüne zu einem Gartenhaus führte. Dieses Häuschen betrat sie, und nach einer kurzen Unterhaltung mit der Bewohnerin bedeutete sie Alice, sich ihr anzuschließen.

»Janet«, sprach Alice' neue Beschützerin zu einer anmutigen Frau mit schönen Augen, »das ist die junge Person – du wirst ihr und ihrem Kind jegliche Aufmerksamkeit widmen. Ich werde morgen angemessene Kleidung für schicken und mir bis dahin überlegt haben, was das Beste für ihr künftiges Wohlergehen sein wird.«

Hiermit lächelte die Dame Alice wohlwollend an, deren Herz zum Sprechen zu voll war; die Tür des Landhauses schloss sich hinter ihr, und Alice glaubte, das Tageslicht habe sich verdunkelt.


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