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Kapitel V

»Sie war ein Trugbild der Entzückung,
Wie sie zuerst im Glanz mein Auge fand,
Ein Traum von lieblicher Beglückung,
Ein gold'ner Augenblick, der rasch entschwand.«

WORDSWORTH.

Maltravers begegnete Lady Florence einige Wochen nicht wieder; inzwischen hatte Lumley Ferrers sein Debüt im Parlament. In strenger Verfolgung seines Vorsatzes, ausschließlich nach einem wohlüberlegten Plan zu handeln und ohne die Neigung, sich selbst zu überschätzen, unterzog sich Mr. Ferrers nicht, wie die meisten vielversprechenden neuen Mitglieder, der riskanten Feuerprobe einer großen Jungfernrede. Obwohl er kühn, flüssig und schlagfertig reden konnte, war er doch nicht eloquent; und er wusste, dass bei den wichtigen Angelegenheiten, wenn großartige Reden benötigt werden, die großen Kanonen das Feuer für sich selbst beanspruchen. Ebenso wenig zerbarst er am entgegengesetzten Fels der »vielversprechenden jungen Männer«, die sich an »die Arbeit des Parlaments« wie Blutegel heften und sich in Haarspaltereien ergehen; zum Lohn für diese Mühe wurden sie allgemein für Langweiler erklärt, die nichts Bemerkenswertes zu Stande bringen würden. Aber er redete häufig, kurz, couragiert und mit einem kräftigen Schuss Humor. Er war der Mann, den ein Minister gut gebrauchen konnte, um etwas zu sagen, das andere nicht aussprechen mochten: und er tat es mit furchtlosem Freimut, der jeglichen Anschein von Verletzung guten Geschmacks beseitigte. Er wurde bald zu seinem sehr populären Redner in der parlamentarischen Zunft, besonders bei Gentlemen, die sich an der Schranke »bar of the house«, eine Barriere am Ende des parlamentarischen Saales mit hoher symbolischer Bedeutung, die Immunität und Unabhängigkeit der Parlamentarier betreffend: Repräsentanten der Krone müssen jenseits dieser Schranke bleiben, ebenso wie vom Parlament zu befragende Personen. – Zugleich steht die Schranke aber auch in Verbindung mit dem Ausgang. – Anm.d.Übers. drängen und sich für den Streitpunkt der Debatte nicht interessieren.

Das Verhältnis zwischen ihm und Maltravers hatte sich nun erkennbar abgekühlt; denn letzterer betrachtete seinen alten Freund (dessen logische Grundsätze ihn früher sogar zum Republikaner gemacht hatten und der Ernest vorzuhalten pflegte, er halte eindeutige Wahrheiten zurück, wenn er zögerte, sie auf den kunstvollen Bau der Gesellschaft anzuwenden) als kaltblütigen, heuchlerischen Abenteurer, während Ferrers, indem er erkannte, dass Ernest nun für ihn von keinem weiteren Nutzen war, nur zu bereitwillig eine unprofitable Freundschaft fallen ließ. Ja, er hielt es sogar für klug, mit ihm, wenn es sich ergab, Händel zu suchen, um mit diesem besonders geeigneten Mittel einen vermutlichen Nebenbuhler aus dem Haus seines adligen Verwandten, Lord Saxingham, zu verbannen. Aber es kam keine Gelegenheit für einen solchen Schritt; so behielt Lumley einen Ausfall von passender Grobheit oder einen spontanen Sarkasmus in der Rückhand, falls er ihn je benötigen sollte.

Die gesellschaftliche Saison näherte sich ebenso ihrem Ende wie die parlamentarischen Sitzungen, als Maltravers eine dringende Einladung von Cleveland erhielt, eine Woche in seinem Landhaus zu verbringen, das, wie er Ernest versicherte, voll von angenehmen Leuten sei; und als alles Debattieren und Abstimmen vorüber war, freute sich Maltravers auf die frische Luft und einen Tapetenwechsel. Und so schickte er sein Gepäck und seine Lieblingsbücher voraus und ritt eines Nachmittags Anfang August Richtung Temple Grove.

Die Erfahrungen im politischen Leben hatten in ihm ein ziemlich unzufriedenes, vielleicht sogar enttäuschtes Gefühl hinterlassen; und mit seinen hochgespannten, überkritischen Ansichten bezüglich der Unzulänglichkeiten anderer, die viel stärker hervorstachen, befand er sich ganz in einer Stimmung, auch sich selbst einen Verweis zu erteilen, dass er zu sehr Zweifel und Bedenken Vorrang gewährt hatte, wie sie oftmals im Anfang ihrer Laufbahn die Ehrlichen und Aufrechten in den Turbulenzen der Politik befallen und stets dafür sorgen, dass die kräftigen Farben, die zum Handeln gehören sollten,

»Von des Gedankens Blässe angekränkelt« »Der angebornen Farbe der Entschließung / Wird des Gedankens Blässe angekränkelt«. – Shakespeare, Hamlet, III, 1. – Anm.d.Übers.

werden. Sein Geist arbeitete sich langsam zu jenen Schlüssen durch, die manchmal dafür sorgen, dass die exaltiertesten Theoretiker zu den besten Männern der Praxis heranreifen, und vielleicht sah er vor sich die einem anderen schmeichelnd winkende, freudige Aussicht, wenn der sich beklagte, zu redlich für das Parteigeschäft zu sein, das heißt, »mit der Zeit ein recht netter Schurke zu werden«! Berühmte Formulierung, von James Boswell in »The Life of Samuel Johnson« (1791) als Ausspruch dieses vielzitierten Gelehrten und Schriftstellers aufgeführt. – Anm.d.Übers. Mehrere Wochen hatte er nichts von seiner unbekannten Korrespondentin vernommen, und er hatte jene, nun seit zwei Jahren fortgesetzten Briefe zu vermissen begonnen, die ihn in ihrer beredten Mischung aus Klage, Mahnung, verzagtem Trübsinn und pathetischer Begeisterung oft in seiner Niedergeschlagenheit getröstet und ihm seine eigenen Erfolge bewusster gemacht hatten.

Während in seinem Kopf mit diesen Themen verbundene Gedanken umgingen – und irgendwie war in seine ehrgeizigeren Träume auch immer neugieriges Grübeln hinsichtlich seiner Korrespondentin gemischt –, wurde er wie vom Blitz durch die Schönheit eines kleinen, etwa elfjährigen Mädchens getroffen, das mit einer Wärterin den Fußweg am Rande der Straße entlang ging. Ich sprach von ihrer Schönheit, die ihn betroffen gemachte habe, aber das ist das falsche Wort; es war mehr der Liebreiz ihres Gesichts als die Vollkommenheit ihrer Züge, was Maltravers' Blick auf sich zog – ein Liebreiz, der für andere vielleicht nicht vorhanden war, ihn indes unaussprechlich anzog, und der so weit entfernt war vom gewöhnlichen Zauber schierer Schönheit, dass er in seinem Herzen nicht minder diese Saite angeschlagen hätte, auch wenn er mit unscheinbaren Zügen und farblosen Wangen einher gekommen wäre. Dieser Liebreiz bestand in einer wundervoll unschuldigen und taubengleichen Sanftmut des Ausdrucks. Wir alle formen uns selbst ein beau-ideal des »schönen Geistes«, den wir als irdischen »Diener« Anspielung auf » our Lord's earthly ministry«, also auf Jesus Christus als irdischen Diener. – Anm.d.Übers. ersehnen, und wir messen etwas launenhaft unsere Bewunderung wirklicher Lebewesen daran, ob sie dieses beau-ideal mehr oder weniger verkörpern oder sich ihm nähern.

Schönheit, die nicht den Stempel unserer Träume oder Fantasie trägt, mag die kalte Huldigung unseres Urteils gewinnen, während nur ein Blick, ein Zug, ein gewisses Etwas, das eine kindische Vision zur Wirklichkeit heraufbeschwört und noch aus der Ferne dem Bild gleicht, das wir in uns tragen, nur für unsere Augen diese Lieblichkeit besitzt und eine Gemütsbewegung entzündet, die fast einen Teil der Erinnerung bildet. Dies empfanden die Platoniker bei ihrer gewagten Annahme, dass einander anziehende Seelen in einem früheren Dasein in einer göttlicheren Sphäre vereint gewesen seien; und in dem jungen Gesicht, das Ernest anstarrte, lag genau diese unsagbare Übereinstimmung mit seinen Vorstellungen von Schönheit. Manche nächtliche und mittäglich Träumerei verwirklichte sich in diesen sanft lächelnden Augen von tiefstem Blau, in dieser offenen Stirn mit ihren leicht gestrichelten Brauen, und der Nase, die nicht in jener scharfen und klaren Symmetrie geschnitten war, die in Marmor so lieblich wirkt, aber gewöhnlich Fleisch und Blut ein entschiedenes, hartes Wesen verleiht, das dem starken besser als dem schwachen Geschlecht steht – nein, nicht in rein griechischer noch römischer Art modelliert, sondern klein und zierlich war sie, mit der geringstmöglichen Biegung nach oben, die nur bei einer Haltung des Kopfes zu entdecken war und nur dazu diente, die hübsche Schalkhaftigkeit der süßen beweglichen Lippen zu betonen, die in ruhiger Sanftmut unbewusst zu lächeln schienen, aber eher aus einer glücklichen Veranlagung zur Heiterkeit denn aus fröhlichem Leichtsinn.

Solcher Art war das Gesicht des schönen Kindes, auf das Maltravers unwillkürlich mit Ehrfurcht starrte, mit einer bewundernden Freude, so wie wir auf Rafaels Jungfrau Maria schauen oder auf einen Sonnenuntergang von Claude. Claude Lorrain (1600-1682), in England gewöhnlich nur Claude genannt, frz. Maler des Barock; entwickelte einen eigenen lyrisch-romantischen Stil klassizistisch barocker Landschaftsmalerei. – Anm.d.Übers. Das Mädchen empfand anscheinend keinerlei frühreife Koketterie bei dieser offenkundigen, wenn auch respektvollen Bewunderung, die sie erregte. Ihr Blick begegnete den auf sie gerichteten Augen, so glänzend und beredt sie waren, dennoch furchtlos und ohne Argwohn und wies ihre Begleiterin mit aller kindlich raschen, ungehemmten Impulsivität hin auf den rabenschwarzen Glanz und den stolzen Nackenbogen von Ernests schönem Araber.

Nun ereignete sich zwischen Maltravers und dem jungen Gegenstand seiner Bewunderung ein kleines Abenteuer, das vielleicht dazu diente, diese kurze Begegnung mit dem Fremden in ihrer Erinnerung zu verankern; denn es ist gewiss, dass sie sich noch Jahre später sowohl an die Umstände erinnerte wie auch an die Züge von Maltravers.

Sie trug einen jener großen Strohhüte, die bei Kindern so hübsch aussehen, und wegen der Wärme an diesem Tag hatte sie die Bänder des Hutes gelöst. Ein sanfter Wind kam auf, da die Landschaft durch eine Biegung der Straße offener wurde, und plötzlich wehte der Hut von seinem angestammten Platz fast unter die Hufe von Ernests Pferd. Das Kind sprang selbstverständlich hinzu, um den Fahnenflüchtigen zu arretieren. Sie lief den Abhang hinab, der sich ziemlich steil neben der Straße erhob … und stieß einen leisen Schmerzensschrei aus. Absteigen – die Beute sichern – und sie der Eigentümerin zurückgeben, war für Ernest das Werk eines Augenblicks; das arme Mädchen aber hatte sich sein Fußgelenk verdreht und lehnte sich zur Unterstützung an seine Dienerin. Als sie jedoch das besorgte, fast erschreckte Gesicht des Fremden sah (und sein Schmerzensruf hatte buchstäblich ihr Herz durchdrungen – so sehr und so unerklärlich hatte sie sein Interesse erregt), bemühte sie sich – keineswegs üblich in ihren Jahren – um Selbstbeherrschung, und mit einem erzwungenen Lächeln versicherte sie ihm, dass sie nicht besonders verletzt sei – dass es nichts bedeute – dass sie gleich zu Hause sei.

»Oh, Miß!« sagte die Dienerin, »sicherlich geht es Ihnen sehr schlecht. Liebes Herz, wie zornig wird der Herr werden! Es war doch nicht mein Fehler, nicht wahr, Sir?«

»Oh, nein, es war nicht Ihre Schuld, Margaret; keine Angst – Papa wird nicht mit Ihnen schimpfen. Aber es geht jetzt schon viel besser.« Mit diesen Worten versuchte sie zu gehen; aber die Mühe war vergeblich – sie wurde nur noch blasser, und während sie damit kämpfte, einen Schrei zu unterdrücken, rollten ihr die Tränen die Wangen herab.

Es war sehr merkwürdig, aber Maltravers hatte sich noch nie so gerührt gefühlt – die Tränen standen ihm in den Augen; er hätte sie gern auf seinen Armen getragen, aber obwohl sie noch ein Kind war, verbot ihm das eine seltsame, nervöse Scheu. Vielleicht erwartete es Margaret von ihm, denn sie schaute ihm fest ins Gesicht, bevor sie die Last in Angriff nahm, der sie, eine kleine, schmächtige Person, in keiner Weise gewachsen war. Nach einer Weile nahm sie dann doch ihre Ladung auf; das Kind drückte seinen Kopf, sich seiner Tränen schämend und beinahe überwältigt vor Schmerz, an die Brust der Frau, und Maltravers ging ihr zur Seite, während sein gelehriges, wohl trainiertes Pferd in einigem Abstand folgte, dann und wann seine Vorderfüße auf den Abhang setzte und von der Hecke ein Maul voll Blätter abriß.

»Oh, Margaret!« sagte die kleine Leidtragende, »ich kann es nicht ertragen – ich kann es wirklich nicht.«

Und Maltravers beobachtete, dass Margaret den lahmen Fuß ohne Unterstützung herab hängen ließ, so dass der Schmerz tatsächlich kaum erträglich geworden sein musste. Er vermochte sich nicht länger zurückzuhalten.

»Sie sind nicht stark genug sie zu tragen«, sagte er mit scharfem Ton zur Dienerin; und im nächsten Moment war das Kind in seinen Armen. Oh, mit welch besorgter Zartheit er sie trug! und er fühlte sich so glücklich, als sie ihm lächelnd ihr Gesicht zuwandte und ihm sagte, dass sie jetzt kaum noch einen Schmerz spüre. Wenn es möglich wäre, sich in ein Mädchen von elf Jahren zu verlieben, dann war Maltravers beinahe verliebt. Sein Puls schlug heftig, als er ihren reinen Atem auf seiner Wange fühlte, und ihr reiches, schönes Haar wehte von einer Brise über seine Lippen. Er dämpfte seine Stimme zu einem Flüstern, als er einen Strom jener beruhigenden, tröstlichen Worte über sie ergoss, die kinderlieben Personen eine natürliche Beredsamkeit verleihen – und Ernest Maltravers war für Kinder ein Abgott: er verstand sie und fühlte mit ihnen, und jenseits der rauhen, kalten Hülle seiner stolzen Reserviertheit steckte in ihm selbst viel Kindliches.

Schließlich kamen Sie zu einem Pförtnerhaus, und Margaret, die ungeduldig fragte, »ob der Herr und die Missis zu Hause seien«, schien es zu freuen, als sie hörte, es sei nicht der Fall. Ernest bestand trotzdem darauf, seine Last über den Rasen zum Haus zu tragen, das – wie die meisten vorstädtischen Villen – nur einen Steinwurf vom Pförtnerhaus entfernt lag; und nachdem er das bestimmteste Versprechen erhalten hatte, dass unverzüglich nach chirurgischem Beistand geschickt werde, musste er sich damit zufrieden geben, die Leidende auf ein Sofa im Salon zu legen; sie aber dankte ihm so hübsch und versicherte ihm, es sei schon viel besser, dass er die Welt darum gegeben hätte, sie zu küssen.

Das Kind hatte ihn vollständig erobert, indem es über das gewöhnliche kindliche Verhalten erhaben war, aus allem das Schlimmste zu machen, um dadurch des Mitleids würdig zu werden; – sie war offensichtlich ohne Selbstsucht, sondern sorgte sich um andere. Er küsste sie, aber es war nur ihre Hand, die er küsste, kein Kavalier hat je die Hand seiner Dame respektvoller geküsst; und da errötete das Kind zum ersten Mal – da spürte sie zum ersten Mal, dass der Tag kommen werde, an dem sie kein Kind mehr sein würde! Wie kam das? – vielleicht weil es einen Lebenseinschnitt darstellt – das erste Zeichen einer Zärtlichkeit, die von Achtung, nicht von Vertrautheit beseelt ist.

»Wenn ich mich noch einmal verlieben könnte«, sagte Maltravers, als er auf der Straße weiter ritt, »dann ganz bestimmt nur in dieses außerordentliche Kind. Mein Gefühl entspricht mehr dem einer Liebe auf den ersten Blick als jede Emotion, die Schönheit je in mir verursachte. Alice – Valerie – nein; der erste Blick tat es hier nicht: – aber was für eine Torheit! – ein Kind von elf – und ich gehe auf die dreißig zu!«

Doch wie töricht es auch gewesen sein mochte, das Bild dieses jungen Mädchens suchte Maltravers viele lang Tage heim, bis der Ortswechsel, die gesellschaftlichen Zerstreuungen, die ernsten Gedanken des Mannesalters und vor allem eine Reihe erregender Umstände, die noch zu erzählen sind, schrittweise einen merkwürdigen und höchst erfreulichen Eindruck verblassen ließen. Er hatte allerdings erfahren, dass Mr. Templeton das Landhaus gehörte, wo das Kind zu Hause war. Er schrieb an Ferrers, um ihm von dem Unfall zu berichten und nach der Leidenden zu fragen. Nach einiger Zeit vernahm er von diesem Gentleman, dass das Kind sich erholt habe und mit Mr. und Mrs. Templeton nach Brighton gereist sei, der Luftveränderung und der Seebäder wegen.


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