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Erstes Buch.

Denn sie, die Jugend, wächset so genährt empor
Auf ihrem Boden, und die Glut des Gottes nicht,
Noch Regen, noch der Stürme Wehn erschüttert sie,
Nein, hoch in Freuden lebt sie mühelos dahin.

SOPHOKLES, Die Trachinierinnen, V. 144-147

Kapitel I

»Meine Absicht dabei war bei meiner Ehre sehr redlich, zum Besten des Mädchens … Wer hätte aber auch einen Hinterhalt vermutet, wo ich gefangen ward?« Alle Shakespeare-Zitate in der Übersetzung von Schlegel/Tieck. – Anm.d.Übers.

SHAKESPEARE, Ende gut, alles gut, IV, 3

Ungefähr vier Meilen von einer unserer nördlichen Industriestädte entfernt lag im Jahre 18** eine weite und öde Allmende; eine düsterere Gegend ist kaum vorstellbar – das Gras wuchs in kränklichen Flecken auf schwarzem, steinigem Grund. Kein einziger Baum war zu sehen auf der ganzen trostlosen Fläche. Die Natur selbst schien diese Einöde verlassen zu haben, wie erschreckt vom unaufhörlichen Getöse der benachbarten Schmieden; und sogar die sonst sich alles dienstbar machende Kunst hatte es verschmäht, etwas Nützliches oder Schönes aus diesem aussichtslosen Landstreifen zu machen. Unheimlich und urzeitlich wirkte die Erscheinung des Ortes, besonders wenn man in den langen Winternächten die fernen Feuer und Lichter erblickte, die einigen Fabriken in der Nachbarschaft eine so übernatürliche Gestalt verliehen, wenn sie rot und wild über die Wüstenei hin leuchteten. So verlassen von Menschen erschien der Flecken, dass es schwer wurde sich vorzustellen, dies komme lediglich von Menschenhand, dass seine dürre und dürftige Trostlosigkeit beleuchtet war. Auf Meilen entlang dem Moor entdeckte man keine Spur irgendeiner Behausung; aber näherte man sich dem Stadtrand, so nahm man in geringer Entfernung von der Hauptstraße, von der die Allmende durchschnitten wurde, eine kleine, abgelegene, elende Hütte wahr.

Inmitten dieser einsamen Bleibe saßen zu der Zeit, da meine Geschichte beginnt, zwei Personen. Die eine war ein Mann von etwa fünfzig Jahren, gekleidet in ein erbärmliches und verwahrlostes Gewand, das freilich durch die Affektiertheit eines zusammengewürfelten Putzes belebt war. Ein seidenes Tuch, die Zierde einer großen Spange mit falschen Steinen hervorkehrend, war keck um einen muskulösen, aber mageren Hals geschlungen; seine zerlumpte Hose war ebenfalls mit Schnallen dekoriert, eine aus Talmi und die andere aus Stahl. Seine Gestalt war schlank, doch breit und sehnig und verwies auf beträchtliche Kraft. Sein Antlitz war früh gezeichnet von tiefen Furchen, und sein gekräuseltes Haar wehte um eine niedrige, zerklüftete und bedrohliche Stirn, die stets in finstere Falten gelegt war, welche kein Lächeln der Lippen (und der Mann lächelte oft) verjagen konnte. Es war ein Gesicht, das von lang währendem und verhärtetem Laster kündete – in das die Vergangenheit unauslöschliche Zeichen geschrieben hatte. Das Brandmal des Henkers hätte es nicht deutlicher markieren oder unzweideutiger den Argwohn rechtschaffener oder furchtsamer Menschen alarmieren können.

Er war damit beschäftigt, ein paar ärmliche Münzen zu zählen, und obwohl es ein Leichtes war, ihren Wert zu ermitteln, zählte er wieder und wieder. »Hier muss ein Fehler sein, Alice«, murmelte er dumpf: »Wir können nicht so tief unten sein – du weißt, ich hatte zwei Pfund in der Schublade, aber am Montag, und nun – Alice, du musst etwas von dem Geld gestohlen haben – sei verflucht!«

Die so angesprochene Person saß auf der gegenüberliegenden Seite des missmutig glimmenden Feuers, und ihr Gesicht hob sich in einzigartiger Weise von dem des Mannes ab.

Sie schien ungefähr fünfzehn Jahre alt zu sein, und ihre Haut war bemerkenswert rein und zart, sogar trotz der sonnenverbrannten Tönung, die ihr die gewohnte Mühsal verliehen hatte. Ihr kastanienbraunenes Haar hing in losen, natürlichen Locken über ihre Stirn, und seine Fülle war bemerkenswert, sogar für ein so junges Mädchen. Ihr Antlitz war schön, ja sogar fehlerlos, mit seinen kleinen kindlichen Besonderheiten, aber der Ausdruck schmerzte einen – er war so leer. Im Ruhezustand war es fast der Ausdruck eines Schwachkopfs – aber wenn sie sprach oder lächelte oder auch nur einen Muskel bewegte, dann entzündete sich Leben in den Augen, in der Gesichtsfarbe, in den Lippen, was bewies, dass der Verstand noch vorhanden war, wenn auch nur unvollkommen erweckt.

»Ich habe nichts gestohlen, Vater«, sagte sie mit ruhiger Stimme; »aber ich hätte gerne etwas genommen, nur wusste ich, dass du mich schlagen würdest, wenn ich es täte.«

»Und wozu brauchst du Geld?«

»Um Essen zu bekommen, wenn ich hungrig bin.«

»Sonst nichts?«

»Ich weiß nicht.«

Das Mädchen hielt inne. – »Warum lässt du mich nicht«, sagte sie nach einer Weile, »warum lässt du mich nicht in der Fabrik arbeiten wie die anderen Mädchen? Ich könnte dort Geld verdienen für uns beide.«

Der Mann lächelte – auf so eine bestimmte Art – alle Züge seines Antlitzes schienen plötzlich in Aufruhr zu geraten. »Kind«, sagte er, »du bist erst fünfzehn, und ein trauriger Dummkopf dazu: vielleicht würdest du von mir abhauen, wenn du zur Fabrik gehen würdest; und was sollt' ich ohne dich machen? Nein, ich glaub', weil du so hübsch bist, könntest du mehr Geld auf and're Art kriegen.«

Das Mädchen schien diese Anspielung nicht zu verstehen, antwortete aber ausdruckslos: »Ich möchte gerne zur Fabrik gehen.«

»Quatsch!« sagte der Mann ärgerlich. »Ich hab' drei Ideen zu …«

Hier wurde er unterbrochen von einem lauten Klopfen an die Tür der Hütte.

Der Mann wurde bleich. »Was kann das sein?« murmelte er. »Es ist schon spät – fast elf. Noch mal – und noch mal! Guck nach, wer klopft, Alice.«

Das Mädchen stand einen Augenblick an der Tür; und als sie dort stand, hätten ihre Gestalt, gerundet, aber schlank, ihr ernster Blick, ihre wechselnde Gesichtsfarbe, ihre zarte Jugend und eine einzigartige Anmut in Haltung und Gebärde einen Künstler mit dem besonderen Ideal einer ländlichen Schönheit inspirieren müssen.

Nach einer Weile brachte sie ihre Lippen an einen Türspalt und wiederholte ihres Vaters Frage.

»Bitte verzeihen Sie mir«, sagte eine klare, laute, aber höfliche Stimme, »aber weil ich Licht an Ihrem Fenster sah, erlaube ich mir zu fragen, ob jemand mich nach **** geleiten könnte; ich würde diesen Dienst großzügig bezahlen.«

»Öffne die Tür, Alley«, sagte der Besitzer der Hütte.

Das Mädchen entfernte einen großen hölzernen Riegel von der Tür, und eine große Gestalt überquerte die Schwelle.

Der Angekommene befand sich in der ersten Blüte der Jugend, vielleicht etwa achtzehn Jahre alt, und seine Miene und seine Erscheinung überraschten sowohl Vater wie Tochter. Allein, zu Fuß, zu dieser Stunde – es war unmöglich ihn für etwas anderes als einen Gentleman zu halten; doch war seine Kleidung schlicht und ein wenig von Staub beschmutzt, und er trug einen kleinen Rucksack auf seiner Schulter. Als er eintrat, lüftete er seinen Hut mit etwas fremdartiger Weltgewandtheit, und eine Fülle schönen braunen Haares fiel teilweise über eine hohe und gebietende Stirn. Seine Züge waren hübsch, wenn auch nicht im Übermaß, und sein Erscheinungsbild war zugleich kühn und einnehmend.

»Ich bin Ihnen sehr verbunden für Ihre Höflichkeit«, sagte er, indem er sorglos vorschritt und sich an den Mann wendete, der ihn mit einem prüfenden Blick begutachtete; »und glauben Sie mir, guter Mann, dass Sie meine Verbundenheit vermehren, indem Sie mich nach **** begleiten.«

»Sie können den Weg nicht gut verfehlen«, sagte der Mann mürrisch. »Die Lichter werden Sie leiten.«

»Sie haben mich eher in die Irre geführt, denn sie scheinen die ganze Allmende zu umrunden, und es gibt keinen Pfad hindurch, soweit ich sehen kann; jedenfalls, wenn Sie mich auf die rechte Straße bringen, will ich Sie nicht mehr belästigen.«

»Es ist sehr spät«, antwortet der bäurische Hausherr zweideutig.

»Der beste Grund, weshalb ich in **** sein sollte. Kommen Sie, guter Freund, setzen Sie den Hut auf und ich will Ihnen eine halbe Guinee 21 Shilling = 1 Pfund, 1Shilling. – Anm.d.Übers. für Ihre Mühe geben.«

Der Mann trat vor, blieb dann stehen; wieder begutachtete er seinen Gast und sagte: »Sind Sie ganz allein, Sir?«

»Ganz und gar.«

»Wahrscheinlich sind Sie bekannt in ****?«

»Nein. Aber was geht das Sie an? Ich bin ein Fremder in dieser Gegend.«

»Es sind volle vier Meilen.«

»So weit, und ich bin schon furchtbar müde!« rief der junge Mann ungeduldig aus. Während er sprach, zog er seine Uhr heraus. »Nach elf schon!«

Die Uhr sprang dem Häusler in die Augen; seine bösen Augen funkelten. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Ich denke, Sir«, sagte er in einem höflicheren Ton als zuvor, »Sie könnten, da Sie so müde sind und es so spät ist, fast ebenso gut …«

»Was?« rief der Fremde aus, etwas gereizt aufstampfend.

»Ich erwähne es nicht gern; aber meine arme Behausung steht zu Ihrer Verfügung, und ich würde morgen früh bei Tagesanbruch mit Ihnen nach **** gehen.«

Der Fremde starrte auf den Häusler und dann auf die schäbigen Wände der Hütte. Er war drauf und dran, das gastfreundliche Angebot abrupt abzulehnen, als sein Auge auf Alice' Gestalt traf, die mit neugierigen Augen und geöffnetem Mund da stand und den hübschen Eindringling begaffte. Als sie seinem Blick begegnete, errötete sie tief und wendete sich ab. Dieser Blick schien die Absicht des Fremden zu ändern. Er zögerte einen Moment, murmelte dann etwas zwischen seinen Zähnen, und seinen Rucksack zu Boden senkend warf er sich auf einen Stuhl neben dem Feuer, streckte seine Glieder und rief unbekümmert: »Sei's drum, mein Wirt! Schließen Sie wieder Ihr Haus. Bringen Sie mir einen Becher Bier und einen Krumen Brot zum Abendessen! Als Bett mag's dieser Stuhl bestens tun!«

»Vielleicht können wir Sie besser bewirten als mit diesem Stuhl«, antwortete der Gastgeber. »Aber unsere größten Annehmlichkeiten müssen einem Gentleman schlecht genug erscheinen; wir sind sehr arme Leute – arbeiten hart, aber sehr arm.«

»Macht mir nichts aus«, antwortete der Fremde ins Feuer starrend. »Ich bin durchaus größeres Ungemach gewohnt als auf einem Stuhl im Hause eines rechtschaffenen Mannes zu schlafen; und obwohl Sie arm sind, betrachte ich es als selbstverständlich, dass Sie rechtschaffen sind.«

Der Mann grinste, und sich zu Alice wendend befahl er ihr auszubreiten, was ihre Speisekammer hergab. Einige Krusten Brot, ein paar kalte Kartoffeln und etwas Bier von erträglicher Stärke bildeten die Verpflegung für den Reisenden.

Trotz seinem vorherigen Prahlen machte der junge Mann ein schiefes Gesicht angesichts dieser sokratischen Vorbereitungen, während er seinen Stuhl zur Tafel zog. Aber sein Blick wurde heiterer, als er Alice' Aufmerksamkeit erhielt; und als sie am Tisch verweilte und einige zögerliche Worte der Entschuldigung herausstotterte, ergriff er ihre Hand und drückte sie zärtlich – »Du hübschestes aller Mädel«, sagte er, und während er sprach, starrte er sie mit unverhohlener Bewunderung an – »ein Mann, der den ganzen Tag zu Fuß gereist ist durch das häßlichste Land inmitten der drei Meere, Ironische Anspielung auf die drei Meere Meneanor, Nyranisas, and Oncis in der Apokalypse; gemeint sind die drei vereinigten Königreiche. – Anm.d.Übers. ist hinlänglich erquickt am Abend durch den Blick auf so ein schönes Gesicht.«

Alice entwand hastig ihre Hand und ging, um sich in die Ecke des Raumes zu setzen, während sie fortfuhr auf den Fremden zu schauen mit ihrem gewöhnlichen leeren Starren, jedoch mit einem halben Lächeln auf ihren Rosenlippen.

Alice' Vater schaute fest zuerst auf sie, dann auf den jungen Mann.

»Essen Sie, Sir«, sagte er, in sich hineinlachend, »und keine so feinen Wörter; die arme Alice is' rechtschaffen, wie Sie selbst eben g'rade sagten.«

»Allerdings«, antwortete der Reisende, während er mit großem Eifer eine Reihe starker, blendend weißer Zähne an den harten Krusten zum Einsatz brachte, »allerdings ist sie das. Ich wollte Sie nicht beleidigen. Aber Tatsache ist: ich bin ein halber Ausländer; und in der Fremde, wissen Sie, darf man einem hübschen Mädchen etwas Nettes sagen, ohne ihre Gefühle zu verletzen oder die ihres Vaters.«

»Ein halber Ausländer? Wieso? Sie sprechen Englisch so gut wie ich«, sagte der Wirt, dessen Tonfall und Wortwahl im Ganzen ein wenig über seinem Rang lagen.

Der Fremde lächelte. »Ich danke Ihnen für das Kompliment«, sagte er. »Was ich meinte, war, dass ich ziemlich viel im Ausland war; tatsächlich bin ich soeben von Deutschland zurückgekehrt. Aber ich bin geborener Engländer.«

»Und Sie sind auf dem Heimweg?«

»Ja.«

»Weit von hier?«

»Etwa dreißig Meilen, glaube ich.«

»Sie sind zu jung, Sir, um allein zu sein.«

Der Reisende gab keine Antwort, sondern beendete sein wenig verlockendes Mahl und zog seinen Stuhl wieder zum Feuer. Er dachte nun, er habe seines Gastgebers Neugier hinreichend bedient und damit den Anspruch auf Befriedigung seiner selbst erworben.

»Sie arbeiten in der Fabrik, nehme ich an?« sagte er.

»So ist es, Sir. Schlechte Zeiten.«

»Und Ihre hübsche Tochter?

»Besorgt das Haus.«

»Haben Sie keine anderen Kinder?«

»Nein. Ein Mund außer meinem eigenen ist alles, was ich füttern kann, und das mit Mühe. Aber Sie wollen wohl jetzt ruhen; Sie können mein Bett haben, Sir; ich kann hier schlafen.«

»Auf keinen Fall«, sagte der Fremde rasch, »werfen Sie nur noch ein paar Kohlen aufs Feuer; ich mach's mir dann schon selbst gemütlich.«

Der Mann erhob sich und bestand nicht auf seinem Angebot, verließ jedoch den Raum, um den Brennstoff heranzuschaffen. Alice verharrte in ihrer Ecke.

»Schätzchen«, sagte der Reisende umherschauend und zufrieden, dass sie allein waren: »Ich würde gut schlafen, wenn ich einen Kuss von diesen korallenroten Lippen bekommen könnte.«

Alice verbarg ihr Gesicht in den Händen.

»Quäle ich dich?«

»Oh nein, Sir.«

Auf diese Versicherung hin erhob sich der Reisende und näherte sich Alice sacht. Er zog ihr die Hände vom Gesicht, während sie leise sagte: »Haben Sie viel Geld dabei?«

»Oh, diese geldgierige Baggage!« sprach der Reisende zu sich, und laut antwortete er: »Warum, du Hübsche? Verkaufst du deine Küsse so teuer?«

Alice blickte finster und schleuderte ihr Haar von der Stirn. »Wenn Sie Geld haben«, sagte sie flüsternd, »sagen Sie es Vater nicht. Schlafen Sie nicht, wenn Sie können. Ich fürchte – Still! – er kommt!«

Der junge Mann kehrte verändert zu seinem Sitz zurück. Und als sein Wirt eintrat, begutachtete er ihn zum ersten Mal näher. Der mangelhafte Schimmer der halb verlöschenden einzigen Kerze warf starke Lichter und Schatten auf die gezeichneten, zerklüfteten und grimmigen Züge des Häuslers; und des Reisenden Auge glitt vom Gesicht zu den Gliedern und der Gestalt und sah, dass, was auch sein Geist an Gewalttätigkeit planen mochte, der Körper gänzlich auszuführen im Stande war.

Der Reisende versank in düsteres Sinnen. Der Wind heulte – der Regen klopfte – durch den Fensterflügel schien kein einziger Stern – alles war dunkel und trüb. Sollte er alleine weitergehen – würde er sich nicht einer größeren Gefahr aussetzen auf diesem weiten und wüsten Moor – könnte nicht der Wirt ihm folgen – ihn im Dunkeln ermorden? Er hatte keine Waffe bis auf einen Stock. Aber drinnen hatte er wenigstens ein primitives Hilfsmittel in dem großen Küchenschürhaken, der neben ihm lag. Jedenfalls wäre es fürs Erste besser zu warten. Er könnte zu jeder Zeit, wenn er allein war, den Riegel von der Tür entfernen und unbeobachtet hinausschlüpfen.

Solcher Art war die Frucht seiner Betrachtungen, während sein Gastgeber das Feuer schürte.

»Sie werden heute nacht fest schlafen«, sagte sein Wirt lächelnd.

»Hm! Oh, ich bin übermüdet; wahrscheinlich werde ich ein oder zwei Stunden zum Einschlafen brauchen; aber wenn ich einmal eingeschlafen bin, schlafe ich wie ein Stein!«

»Komm, Alice«, sagte ihr Vater, »lassen wir den Gentleman allein. Gute Nacht, Sir.«

»Gute Nacht – Gute Nacht«, gab der Reisende gähnend zurück.

Vater und Tochter verschwanden durch eine Tür in der Ecke des Raumes. Der Gast hörte sie die knarrenden Stiegen hinaufsteigen – alles war ruhig.

»Tor, der ich bin«, sagte der Reisende zu sich, »warum begreife ich nicht, dass ich nicht mehr Student in Göttingen bin? kann mich nichts von solchen Abenteuern auf Wanderschaft kurieren? – Ohne die blauen Augen dieses Mädchens wäre ich jetzt schon sicher in ****, falls allerdings der grimmige Vater mich nicht auf der Straße ermordet hätte. Jedenfalls werden wir ihn daran hindern: noch eine halbe Stunde, und ich bin auf dem Moor: wir müssen ihm Zeit geben. Und bis dahin gibt es hier diesen Schürhaken. Schlimmstenfalls geht es Mann gegen Mann; aber der Grobian ist kräftig gebaut.«

Obwohl der Reisende bemüht war, sich auf diese Weise Mut zuzusprechen, schlug sein Herz lauter, als es sollte. Er hielt seine Augen auf die Tür gerichtet, durch die der Häusler entschwunden war, und seine Hand lag auf dem wuchtigen Schürhaken.

Während der Fremde so unten beschäftigt war, ging Alice, anstatt sich zu ihrer eigenen nahen Kammer zu wenden, in ihres Vaters Zimmer.

Der Häusler saß in leisem Selbstgespräch zu Füßen seines Bettes mit fest auf den Boden geheftetem Blick.

Das Mädchen stand vor ihm und starrte ihm mit leicht vor der Brust verschränkten Armen ins Gesicht.

»Sie muss zwanzig Guineen wert sein«, sagte der Wirt unvermittelt zu sich.

»Was geht's dich an, Vater, was die Uhr des Gentleman wert ist?«

Der Mann zuckte zusammen.

»Du möchtest«, fuhr Alice ruhig fort, »du möchtest diesem jungen Mann etwas tun; aber das wirst du nicht.«

Des Häuslers Gesicht wurde schwarz wie die Nacht. »Wie«, begann er mit lauter Stimme, dämpfte aber plötzlich den Ton zu tiefem Knurren, »wie kannst du's wagen, so mit mir zu sprechen? – geh zu Bett – geh zu Bett!«

»Nein, Vater.«

»Nein?«

»Ich werde mich nicht aus diesem Raum rühren bis zum Tagesanbruch.«

»Das werden wir gleich sehen«, sagte der Mann, einen Fluch ausstoßend.

»Fass mich an, und ich werde den Gentleman alarmieren und ihm sagen, dass -«

»Was?«

Das Mädchen näherte sich seinem Vater, hielt ihre Lippen an sein Ohr und flüsterte: »Dass du ihn ermorden willst.«

Des Häuslers Gestalt begann von Kopf bis Fuß zu zittern; er schloss seine Augen und rang schmerzlich nach Atem. »Alice« sagte er leise nach einer Weile –»Alice, wir sind oft dem Hungertod nahe.«

» Ich schon, du niemals!«

»Du Ärmste! Ja, wenn ich an einem Tag zu viel trinke, dann fehlt's am nächsten. Aber geh zu Bett, sag ich – ich will dem jungen Mann nichts tun. Glaubst du, ich will mir selbst das Henkersseil knüpfen? – nein, nein; geh nur, geh nur.«

Alice' Gesicht, das vorher ernst und fast intelligent ausgesehen hatte, fiel nun zurück in seine gewohnte ausdruckslose Starre.

»Natürlich würden sie dich hängen, Vater, wenn du ihm den Hals durchschneidest. Vergiss das nicht; – gute Nacht«, sagte sie und ging zu ihrer gegenüberliegenden Kammer.

Wieder allein, presste der Wirt seine Hand fest auf die Stirn und verharrte bewegungslos fast eine halbe Stunde.

»Wenn das verwünschte Mädel nur schlafen würde«, murmelte er schließlich, sich umwendend. »Es wäre mit einem Mal getan. Und dahinten is' dieser Tümpel, tief wie ein Brunnen; ich könnt' bei Tagesanbruch sagen, dass der Junge abgehauen wär'. Er scheint hier ziemlich fremd zu sein – niemand wird ihn vermissen. Er muss ganz schön dumm sein, 'ne halbe Guinee zu geben, um über die Allmende geführt zu werden! Ich brauch' Geld, und ich mag nicht arbeiten, wenn's irgendwie geht.«

Während er so mit sich selbst redete, schien er keine Luft mehr zu bekommen; er öffnete das Fenster und lehnte sich hinaus – der Regen prasselte auf ihn nieder. Er schloss das Fenster mit einem Fluch, zog seine Schuhe aus, stahl sich zur Schwelle und musterte bei Kerzenlicht, das er mit der Hand abdunkelte, die Tür gegenüber. Sie war geschlossen. Dann beugte er sich ängstlich vor und lauschte.

»Alles ruhig«, dachte er, »vielleicht schläft er schon. Ich werd' mich hinunterschleichen. Wenn nur Jack Walters heut' nacht käm', dann würd' die Sache bestens klappen.«

Damit kroch er leise die Stiegen hinunter. In einer Ecke am Fuße des Treppenhauses lag allerlei Zeug, einige Reisigbündel und ein Hackbeil. Er nahm das letztere auf. »Aha«, murmelte er, »und da ist irgendwo der Vorschlaghammer für Walters.« Sich zur Tür vorbeugend schaute er durch eine Ritze, die einen gedämpften Einblick in den vom Feuer unruhig beleuchteten Raum erlaubte.


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