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Kapitel III

»Setzt Amri nun auf unsre nächste Adelsliste!«

DRYDEN, Absalom und Achitophel.

   

» Sine me vacivum ne quod dem mihi laboris. Terenz, Heautontimorumenos (Der Selbstquäler) I,1: Von Arbeit frei darf keinen Augenblick ich mir vergönnen. – Anm.d.Übers.

TERENT.

»Ich habe keine Ahnung«, sagte jemand aus einer Gruppe junger Männer, die an der Treppe eines Clubhauses in der St. Jame's Street herumstanden, »was mit Maltravers passiert ist. Seht ihr (wie er da auf der anderen Straßenseite geht), wie sehr er sich verändert hat? Er geht gebückt wie ein alter Mann und hebt kaum mal seine Augen vom Boden. Er wirkt richtig krank und traurig.«

»Vom Bücherschreiben, nehm' ich an.«

»Oder er hat heimlich geheiratet.«

»Oder er wird zu reich – reiche Leute sind immer unglücklich.«

»Ha, Ferrers, wie geht's?«

»So la la. Was gibt's Neues?« antworte Lumley.

»Wer lärmt, zahlt Bußgeld.«

»Oh! und in der Politik?«

»Zum Henker mit der Politik – sind Sie etwa Politiker geworden?«

»Was bleibt einem in meinem Alter sonst noch übrig?«

»Das dacht' ich mir, wegen Ihres Hutes; alle Politiker haben merkwürdige Hüte auf; das ist sehr komisch, aber es ist das klare Symptom ihrer Krankheit.«

»Mein Hut! ist er merkwürdig?« rief Ferrers, nahm das fragliche Handelsgut ab und betrachtete es ernsthaft.

»Oh, wer hat je so eine Krempe gesehen?«

»Schön, dass Sie das so sehen.«

»Warum, Ferrers?«

»Weil es in diesem Land von einer klugen Politik zeugt, etwas Unbedeutendes der Lächerlichkeit preiszugeben. Wenn die Leute Ihren Hut oder Ihren Wagen, die Form Ihrer Nase oder eine Warze auf Ihrem Kinn schmähen können, entgehen ihnen tausend viel wichtigere Sachen. Das ist die Weisheit des Kameltreibers, der sein wild gewordenes Tier auf seinem Gewand herumtrampeln lässt, um selbst zu entkommen.«

»Sie sind vielleicht drollig, Ferrers! Na, ich geh' jetzt 'rein und les' die Zeitungen, und Sie …«

»Werde meine Besuche abstatten und mich meines Hutes erfreuen.«

»Wiedersehn! Übrigens, Ihr Freund Maltravers kam g'rad' vorbei – sah ziemlich nachdenklich aus, sprach mit sich selbst. Was ist los mit ihm?«

»Leidet womöglich darunter, dass er nicht auch einen merkwürdigen Hut trägt, so dass Gentlemen wie Sie darüber lachen und den Rest von ihm in Frieden lassen. Wiedersehn.«

Ferrers ging weiter und kam bald zur Parkpromenade. Hier traf er Mr. Templeton.

»Nun, Lumley«, sagte dieser (und es sollte hier wohl bemerkt werden, dass Mr. Templeton seinem Neffen in Ton und Gebärde jetzt eine größere Achtung bezeigte, als er ihm früher zu erweisen für nötig gehalten hatte) – »nun, Lumley, haben Sie Lord Saxingham gesprochen?«

»Das habe ich, Sir; und ich bedauere sagen zu müssen …«

»Das nahm ich an – das dachte ich mir«, unterbrach Templeton: »keine Dankbarkeit bei Staatsmännern – kein Verlangen an hoher Stätte, Tugend zu ehren!«

»Verzeihen Sie, Lord Saxingham erklärt, dass er erfreut wäre, Ihr Anliegen zu fördern – dass niemand mehr eines Adelstitels würdig sei, dass aber …«

»Oh, ja; immer ›aber‹!«

»Aber dass es gegenwärtig so viele Antragsteller gebe, dass es unmöglich sei, sie zu befriedigen; und – und … aber ich habe das Gefühl, dass ich nicht weiter sprechen sollte.«

»Fahren Sie fort, Sir, ich bitte darum!«

»Oh, nun gut. Lord Saxingham – ich muss offen reden – ist ein Mann, der große Rücksicht auf seine Familie nimmt. Ihre Heirat – ein Quell größter Freude für mich selbst, mein werter Onkel – macht es unwahrscheinlich, dass Ihr Vermögen und Ihr Titel, falls Sie letzteren erlangen, übergeht an …«

»Sie selbst!« warf Templeton trocken ein. »Ihr Verwandter scheint zum ersten Mal entdeckt zu haben, wie wichtig ihm Ihre Interessen sind.«

»Um mich persönlich, Sir, kümmert sich mein Verwandter keinen Deut – aber er kümmert sich sehr darum, ob ein Mitglied seines Hauses reich ist und eine hohe Position einnimmt. Dies vermehrt die Bedeutung und das Ansehen seiner Verbindungen; und Lord Saxingham ist ein Mann, den Verbindungen bei der Erhaltung seiner Macht unterstützen. Um Ihnen klaren Wein einzuschenken: er wird sich in dieser Angelegenheit nicht regen, weil er nicht erkennt, wie dies seinem Verwandten nützt oder sein Haus stärkt.«

»Staatsmännische Tugend!« rief Templeton.

»Tugend, mein lieber Onkel, ist weiblich; solange sie Privateigentum bleibt, ist sie hervorragend; aber öffentliche Tugend ist, wie jede andere ›öffentliche Dame‹, bloß eine gewöhnliche Prostituierte.«

»Pah!« knurrte Templeton, der zu übler Laune war, um seinem Neffen die Leviten zu lesen, was er sonst wohl wegen der Unanständigkeit des Vergleichs getan hätte; Mr. Templeton hielt es nämlich für lasterhaft, auch nur von der Existenz des Lasters in der Welt zu sprechen; es schockierte ihn außerordentlich, Dinge bei ihren eigentlichen Namen genannt zu hören.

»Verfügt nicht Mrs. Templeton über irgendwelche Ihnen nützliche Verbindungen?«

»Nein, Sir!« donnerte ihn der Onkel an.

»Tut mir leid, dies zu hören – aber man kann nicht alles erwarten: Sie haben aus Liebe geheiratet – Sie besitzen ein glückliches Haus, eine bezaubernde Gattin – das ist besser als ein Titel und eine feine Dame.«

»Mr. Lumley Ferres, verschonen Sie mich mit Ihren Tröstungen! Meine Gattin …«

»... liebt Sie von Herzen, darf ich wohl sagen«, fiel unbeirrbar der Neffe ein. »Sie ist so gefühlvoll und liebt die Poesie so sehr. Oh, ja, sie muss den lieben, der so viel für sie getan hat.«

»So viel getan hat? Was meinen Sie?«

»Oh, mit Ihrem Vermögen, Ihrer Position und dem Ihnen angemessenen Ehrgeiz hätten Sie jede heiraten können; ja, wären Sie unverheiratet geblieben, so hätten Sie all meine eigennützigen, selbstsüchtigen Verwandten – zum Henker mit ihnen – für sich günstig zu stimmen vermocht. – Statt dessen haben Sie eine Dame ohne Verbindungen geheiratet – was konnten Sie mehr für sie tun?«

»Pah! Sie wissen nicht alles.«

Hier hielt Templeton kurz ein, als ob er zu viel gesagt hätte, und runzelte die Stirn; dann sprach er nach einer Weile weiter: »Lumley, ich habe geheiratet, das stimmt. Sie werden vielleicht nicht mein Erbe sein, aber ich mache das wieder gut – das heißt: falls Sie meine Gunst verdienen.«

»Mein lieber On–«

»Unterbrechen Sie mich nicht. Ich habe Pläne mit Ihnen. Wir wollen unsere Interessen vereinigen. Der Titel könnte doch auf Sie übergehen. Vielleicht habe ich keinen männlichen Nachkommen – inzwischen mögen Sie Schecks in jeder vernünftigen Höhe auf mich ziehen – junge Männer haben Ausgaben – aber seien Sie klug, und wenn Sie in der Welt weiter kommen wollen, lassen Sie die Welt nie entdecken, dass Sie sich in einer Verlegenheit befinden. So, lassen Sie mich jetzt allein.«

»Meinen besten, meinen herzlichsten Dank!«

»Eilen Sie – sprechen Sie Lord Saxingham noch einmal an; ich muss und werde dieses Spielzeug bekommen – ich habe mein Herz daran gehängt.«

Damit wandte sich Templeton von seinem Neffen ab und verfolgte grübelnd seinen Weg zur Hyde Park Corner, wo ihn sein Wagen erwartete. Sobald er sein Landgut erreichte, sah er die Tochter seiner Gattin über den Rasen laufen, um ihn zu begrüßen. Sein Herz wurde weich; er ließ den Wagen halten und stieg aus; er streichelte sie, spielte mit ihr, lachte, wie sie ihn anlachte. Kein Vater konnte liebvoller sein.

»Lumley Ferrers hat die Gabe, mir Ehre zu machen«, sprach er besorgt bei sich, »aber seine Grundsätze scheinen unbeständig. Immerhin ist freimütiges Verhalten bestimmt Zeichen eines guten Herzens.«

   

Inzwischen schlug Ferrers hochgemut den Weg zu Ernests Haus ein. Sein Freund war nicht daheim, doch Ferrers benötigte nie die Anwesenheit seines Gastgebers, um sich wie zu Hause zu fühlen. Bücher umringten ihn im Überfluss, Ferrers war aber nicht der Mann, der zum bloßen Vergnügen las. Er warf sich in einen Lehnstuhl und begann, neue Maschen ins Netz der ehrgeizigen Ziele und Intrigen zu weben. Endlich öffnete sich die Tür, und Maltravers trat ein.

»Oh, Ernest, wie krank Sie aussehen!«

»Es ging mir nicht gut, aber es wird jetzt wieder besser. So wie Ärzte gewöhnlichen Patienten Luftwechsel verordnen, versuche ich meine Gepflogenheiten zu ändern. Rege muss ich sein – Tätigkeit ist die Bedingung meines Daseins; mit Büchern muss ich gegenwärtig Schluss machen. Sie sehen mich in einer neuen Stellung.«

»In welcher?«

»In der eines Politikers – ich bin ins Parlament eingetreten.«

»Sie erstaunen mich! – Ich habe heute morgen die Zeitung gelesen, ich weiß von keiner Vakanz im Parlament, geschweige denn von Wahlen.«

»Es ist alles vom Anwalt und vom Bankier bewerkstelligt worden. Mit anderen Worten, mein Parlamentssitz liegt in einem ›Close Borough‹.« Ein Wahlbezirk, der das Recht hatte, ein Parlamentsmitglied zu entsenden, dessen Nominierung in der Hand einer einzelnen Person, eines Großgrundbesitzers, lag. – Anm.d.Übers.

»Also kein Ärger mit den Wählern. Ich gratuliere Ihnen und beneide Sie. Ich wünschte selbst gern im Parlament zu sein.«

»Sie? Ich hätte mir nie geträumt, dass Sie vom politischen Fieber befallen seien!«

»Vom politischen? – nein. Aber es ist ein hoch geachteter Weg, mit etwas Glück auf Staatskosten zu leben. Besser als Betrug.«

»Eine offenherzige Art, die Frage zu betrachten. Aber ich glaubte einst, Sie seien ein halber Benthamist Anhänger des utilitaristischen, sozialreformerischen Philosophen Jeremy Bentham (1748-1832). – Anm.d.Übers. mit dem Motto: ›Das größte Glück für die größte Zahl.‹«

»Für mich ist die größte Zahl die Eins. Ich stimme mit den Pythagoräern überein: Einheit ist das vollkommene Prinzip der Schöpfung! Im Ernst, wie können Sie Grundsätze von Meinungen mit Grundsätzen des Handelns verwechseln? Ich bin ein Benthamist, ein Gutmensch Im Original Bulwers Neologismus »benevolist«. – Anm.d.Übers. – als Philosoph! – Aber im Augenblick bleibe ich dem Studierzimmer um der Welt willen fern, überlasse anderen das Spekulieren und handle für mich selbst.«

»Wenigstens sind Sie mit diesen Bekenntnissen eher freimütig als vorsichtig.«

»Das sehen Sie falsch. Wer sich schlechter macht, als er ist, wird beliebt – und erwirbt den Ruf, ein ebenso ehrlicher wie praktischer Kerl zu sein. Der Fehler meines Onkels besteht darin, dass er ein Heuchler mit Worten ist: das führt selten zum Ziel. Seid freimütig im Wort, und niemand wird Heuchelei in eueren Plänen befürchten.«

Maltravers war einen scharfen Blick auf Ferrers – die leichtfertige Philosophie seines alten Freundes ließ seinen hochgespannten Platonismus missvergnügt aufbegehren. Er spürte jedoch beinahe zum ersten Mal, dass Ferrers ein Mann war, der es in der Welt zu etwas bringen würde – und seufzte; ich hoffe, um der Welt willen.

Nach einem kurzen Gespräch über gleichgültige Dinge wurde Cleveland angekündigt; und Ferrers, der mit Cleveland nichts anzufangen wusste, zog sich bald zurück. Ferrers begann mit seiner Zeit wirtschaftlich umzugehen.

»Mein lieber Maltravers«, sagte Cleveland, als sie allein waren, »ich freue mich so, dich zu sehen; denn zunächst macht es mich glücklich, dass du dich in deiner Laufbahn jetzt auch mit Nützlichem befasst.«

»Nützlich! – Ach, ich will es glauben! Das Leben ist so ungewiss und so kurz, dass wir nicht schnell genug seinen geringen Ertrag in die große Gemeinschaft des Schönen und Wahren einbringen können; und beide zusammen stellen das Nützliche dar. Doch welche Zweifel bedrängen uns in der Politik eines hoch komplizierten Staatsgebildes! Welch eine Dunkelheit umgibt uns! Wenn man Missständen Vorschub leistet, treibt man ein Gaukelspiel mit der eigenen Vernunft und Rechtschaffenheit – nimmt man sie in Angriff: wie sehr und mit welch fatalen Folgen könnte jene ehrwürdige, althergebrachte Ordnung, welche die Triebfeder der gewaltigen Maschine bildet, durcheinander gebracht werden! Wie wenig vermag auch ein einzelner Mensch zu bewirken, dessen Gaben für diesen steinigen Weg, diese mephitischen Dünste nicht bestimmt sind!«

»Er kann sehr viel bewirken, sogar ohne Beredsamkeit und Anstrengung: er kann ungeheuer viel bewirken, wenn er im Stande ist, inmitten egoistischer Karrieristen und überhitzter Fanatiker das Beispiel eines aufrechten, unvoreingenommenen Mannes zu geben. Er kann noch mehr bewirken, wenn er unter den Repräsentanten der Nation einer bis dahin nicht repräsentierten Sache dient: der Literatur; wenn er, mit einem Ehrgeiz jenseits von Position und Vergütung, die Servilität, zu der Hofdichter die Literatur erniedrigt haben, zunichte macht; wenn er beweisen kann, dass theoretisches Wissen mit der praktischen Welt nicht unvereinbar ist, und wenn er den Wert der Uneigennützigkeit verficht, der zur Gelehrsamkeit gehört. Aber das Ziel wissenschaftlicher Moral ist nicht allein, anderen zu dienen, sondern auch uns selbst zu vervollkommnen: unsere Seele ist uns feierlich zu Treu und Glauben anvertraut. Du beginnst deine Kenntnis menschlicher Beweggründe und Tätigkeit zu erweitern; welche neue Weisheit du dabei auch erwirbst: sie wird gleichermaßen einleuchtend und nützlich sein, ob sie nun durch Handeln oder durch Bücher vermittelt wird. Doch genug davon, mein lieber Ernest. Ich kam, um mit dir zu speisen und damit du mich heute abend zu einem Haus begleitest, in dem du willkommen bist und das dich interessieren wird. Nein, keine Ausreden. Ich habe Lord Latimer versprochen, deine Bekanntschaft zu machen, und er ist einer der bedeutendsten Männer, mit denen das politische Leben dich in Kontakt bringen wird.«

Diesen Wandel von Maltravers' Lebensstil, vom Studierzimmer zum Parlament, hatte ein Gesundheitszustand veranlasst, der bei den meisten als Ausrede für Müßiggang gedient hätte. Untätig sein konnte er nicht; er hatte zu recht Ferrers gegenüber geäußert, dass »Tätigkeit die Bedingung seines Daseins« sei. Wenn das Denken mit seinen fieberhaften, schmerzlichen Spannungen ein zu strenger Zuchtmeister für Nerven und Hirn gewesen war, so würde die derbe, schlichte Beschäftigung mit praktischer Politik der Vorstellungskraft und dem Verstand Ruhe gönnen, während sie die härteren Charaktereigenschaften stimulieren würden, welche belebend wirken, ohne Erschöpfung hervorzurufen. Das wenigstens hoffte Maltravers. Er erinnerte sich eines tiefgründigen Satzes eines seiner deutschen Lieblingsschriftsteller: »um Leib und Seele in vollkommener Gesundheit zu erhalten, ist es nötig, sich regelmäßig und frühzeitig in die gewöhnlichen menschlichen Angelegenheiten einzuschalten.«

Und die anonyme Korrespondentin – hatten ihre Mahnungen irgend einen Einfluss auf seine Entscheidung? Ich weiß es nicht. Als Cleveland ihn jedoch verließ, öffnete Maltravers seinen Schreibtisch und las noch einmal den letzten Brief, den er von der Unbekannten erhalten hatte. Den letzten Brief! – ja, diese Sendschreiben waren nun häufig geworden.


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