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Kapitel II

»Idem velle, et idem nolle, ea demum firma amicitia est.« Dasselbe wollen und nicht wollen, ist am Ende feste Freundschaft. – Anm.d.Übers.

SALLUST.

   

» Carlos. Der Brief.
Prinzessin Eboli. Ich bin des Todes! Geben Sie ihn her!« Bulwer zieht in seinem Zitat eine Reihe von Zeilen zusammen; die einschlägige Stelle lautet vollständig:
PRINZESSIN.
Meinen Brief
Und meinen Schlüssel geben Sie mir wieder.
Wo haben Sie den andern Brief?
CARLOS.
Den andern?
Was denn für einen andern?
PRINZESSIN.
Den vom König.
CARLOS zusammenschreckend.
Von wem?
PRINZESSIN.
Den Sie vorhin von mir bekamen.
CARLOS.
Vom König? und an wen? an Sie?
PRINZESSIN.
O Himmel!
Wie schrecklich hab ich mich verstrickt! Den Brief!
Heraus damit! ich muß ihn wiederhaben.
CARLOS.
Vom König Briefe, und an Sie?
PRINZESSIN.
Den Brief!
Im Namen aller Heiligen!
CARLOS.
Der ein
Gewissen mir entlarven sollte – diesen?
PRINZESSIN.
Ich bin des Todes! – Geben Sie!
Anm.d.Übers.

SCHILLER, Don Carlos, II, 8.

Der von Maltravers und Florence geschlossene Vertrag schien entfernt zu haben, was je an Befangenheit und Vorbehalt zwischen ihnen existiert hatte. Sie unterhielten sich nun mit einer Ungezwungenheit und Freiheit, was zwischen Menschen verschiedenen Geschlechts keineswegs üblich ist, bevor sie ihre Wechseljahre durchlaufen haben. Ernest war im gewöhnlichen Leben, wie die meisten Männer, von warmen Gefühlen und starker Einbildungskraft, wenn nicht schweigsam, so doch wenigstens reserviert. Es kam ihm vor, als sei ein Gewicht von seiner Brust gewichen, als er diese eine Person gefunden hatte, die ihn am besten verstand, wenn er am aufrichtigsten sprach. Seine Beredsamkeit – seine Dichtung – sein intensiver und konzentrierter Enthusiasmus fand eine Stimme. Er vermochte zu einem Individuum zu sprechen, wie er gern für die Öffentlichkeit geschrieben hätte – ein seltenes Glück für Männer der Feder.

Florence körperliche und seelische Gesundheit besserte sich wie durch ein Wunder; aber sie war sanftmütiger, verhaltener als früher – sie gab sich weniger Mühe zu glänzen war nicht mehr so gleichgültig, ob sie jemanden verletzte. Leute, die sie vorher nicht gekannt hatten, wunderten sich, weshalb sie in der Gesellschaft gefürchtet war. Zeitweise jedoch war eine große naturgegebene Reizbarkeit in ihrem Temperament – ein rascher Verdacht gegenüber den Beweggründen der sie umgebenden Menschen – eine gebieterische, eigensinnige Heftigkeit in ihren Willensäußerungen für Maltravers erkennbar, und dies diente vielleicht dazu, sein Herz unversehrt zu erhalten. Er beurteilte sie aus intellektueller Perspektive, nicht aus der einer Leidenschaft – er dachte an sie nicht als an eine Frau – ihre besonderen Talente, die Erhabenheit ihrer Gesinnung und ihr kühnes Streben lenkten seine Vorstellungskraft von ihrer Schönheit ab, während sie ihn im Gespräch erfreuten. Er nahm sie sozusagen jenseits ihres Geschlechts wahr, als ein prächtiges Geschöpf, freilich verdorben durch ihre Weiblichkeit. Er erzählte ihr das einmal lachend, und Florence nahm es für ein Kompliment. Arme Florence, ihre Verachtung ihres eigenen Geschlechts rächte sich an diesem und beraubte sie ihrer eigentlichen Bestimmung.

Cleveland beobachtete schweigend ihre Vertrautheit und hörte mit ruhigem Lächeln das Getratsch an, das sich im Aufzählen von tê tes-à -tê tes auf der Terrasse und Spaziergängen auf dem Rasen erging und in Prognosen, was bei alledem herauskommen werde.

Lord Saxingham war blind. Seine Tochter war jedoch volljährig, im Besitz eines fürstlichen Vermögens und hatte ihn längst ihr unabhängiges Temperament spüren lassen. Seine Lordschaft missverstand freilich vollkommen das Wesen ihres Stolzes und glaubte sich restlos überzeugt, dass sie sich nicht unterhalb eines Herzogs verheiraten würde; was ihre Flirts anging, so hielt er sie für natürliche und unschuldige Vergnügungen. Außerdem war er nur selten in Temple Grove. Er fuhr jeden Morgen nach dem Frühstück auf seinem Zimmer nach London – kam zum Abendessen zurück, spielte Whist und erzählte Florence in seinem Ankleideraum gutgelaunten Unfug, und zwar genau die drei Minuten lang, die zwischen seinem Wein-Schorle-Schlürfen und dem Auftreten seines Dieners lagen.

Was die anderen Gäste betraf, so hatten diese nichts anderes zu tun, als miteinander zu plaudern; und so gingen Florence und Maltravers unbelästigt, wenn auch nicht unbeobachtet, ihren Weg. Maltravers, der selbst nicht verliebt war, dachte nicht im Traum daran, dass Florence ihn liebe oder irgend in Gefahr geraten könne, dergleichen zu tun – ein von Männern oft begangener Fehler, der Frauen nie unterläuft. Frauen wissen immer, wenn sie geliebt werden; allerdings bilden sie sich auch oft fälschlich ein, dass dem so sei. Florence war nicht glücklich, denn Glück ist ein ruhiges Gefühl. Sie aber war erregt von einem unbestimmten, stürmischen, berauschenden Gefühl.

Sie hatte von Maltravers erfahren, dass Ferrers sie falsch informiert hatte und keine andere einen Anspruch auf sein Herz erheben konnte; und ob er sie nun liebte oder nicht, gegenwärtig schienen sie einander alles zu bedeuten; sie lebte nur für den heutigen Tag und wollte nicht an morgen denken.

Seit jener ernsthaften Erkrankung, die so viel zur Veränderung von Ernests Lebensstil beigetragen hatte, war er vor dem Publikum nicht mehr als Autor aufgetreten. Kürzlich aber war die alte Gepflogenheit wieder zu Tage getreten. Bei der verhältnismäßigen Untätigkeit auf diesem Gebiet in den letzten Jahren hatten sich Ideen und Gefühle, die so rasch auf ein poetisches Gemüt einstürmen, wenn man einmal nachgibt, bei ihm zu einem Ausmaß angehäuft, das nach Ableitung verlangte. Denn für manche ist das Schreiben keine vages Bedürfnis, sondern eine gebieterische Bestimmung. Das Feuer ist entzündet und muss sich ausbreiten; die Flügel sind bereit zum Fliegen, und die Vögel müssen das Nest verlassen. Die Mitteilung von Gedanken an andere Menschen ist wie ein Instinct in die Brust derer eingepflanzt, denen der Himmel das ehrwürdige Wirken des Genius anvertraut hat.

Zu dem Werk, an dem Maltravers gerade arbeitete, zog er Florence hinzu: sein Vertrauen erfreute sie – es war ein Kompliment, das sie zu würdigen wusste. Stürmisch und voll feuriger Leidenschaft war dieses Werk – eine kurze Ferienschöpfung – das jüngste und geliebteste seiner Geisteskinder. Und als Tag um Tag der glänzende Entwurf mehr Gestalt gewann und Gedanken und Vorstellungen darin »ortsansässig« wurden, fühlte Florence sich, als hätte sie Zugang zum Palast der Genien erhalten, und machte Bekanntschaft mit dem Mechanismus jener Zauberkräfte, durch welche die übernatürlichen geistigen Gewalten die Welt in ihren Bann schlagen. Ach, um wieviel tiefer und majestätischer war dieser Gedankenaustausch zwischen Ernest Maltravers und einer Frau, deren Fähigkeiten und Kenntnisse den seinen kaum nachstanden, im Vergleich mit jener Brücke eines schattenhaften, matten Verständnisses, die der schwärmerische Jüngling einst zwischen seiner eigenen Poesie des Wissens und Alice' Poesie der Liebe errichtet hatte!

An einem Spätnachmittag im September, als die Sonne langsam im Westen unterging, – Lady Florence war den ganzen Morgen in ihrem Zimmer gewesen, um, wie sie sagte, den langweiligen Berg von Briefen abzuarbeiten, und zwar mehr auf Lord Saxinghams Drängen als aus eigenem Antrieb (denn er bestand mit peinlicher Strenge auf ihrer gewissenhaftesten Aufmerksamkeit gegenüber Cousins auch noch fünfzigsten Grades, sofern sie reich, clever, gut situiert oder sonst irgendwie von Bedeutung waren) – an einem solchen Nachmittag also schlenderte Lady Florence, nunmehr entlastet von dieser Beschäftigung, mit Cleveland durch das Gelände. Die Herren jagten noch auf den Stoppelfeldern, die Damen waren draußen in Landauern Viersitzige, vierrädrige und an beiden Achsen gefederte Kutsche mit zwei vis-à-vis und parallel angeordneten Sitzbänken. Das Verdeck ist meist in der Mitte geteilt und klappbar, gelegentlich auch einteilig. Es handelt sich um eine sog. »konvertible« Kutsche, d. h. sie lässt sich von einem offenen in einen vollständig geschlossenen Wagen umwandeln. – Anm.d.Übers. und Ponykutschen unterwegs, und Cleveland und Lady Florence waren allein.

Mit Bezug auf Florence' briefliche Beschäftigung kam das Gespräch auf diese reizvolle Literaturgattung, die das Interesse des Romans mit geschichtlicher Wahrheit verknüpft – nämlich auf die französischen Memoiren- und Briefschreiber. In dieser literarischen Abteilung war Cleveland ganz zu Hause.

»Dieses nette, auf Glanz polierte Geplauder«, sagte er, »wie gut verstanden sie es, Natur in Kunst zu überführen! Alles Künstliche schien ihnen so natürlich. Sogar ihr Gefühl funktionierte in einer Art Uhrwerk, das anscheinend besser arbeitete als das Herz selbst. Diese hübschen Empfindungen, diese zierlichen Galanterien der Madame de Sévigné Marie de Rabutin-Chantal, Marquise de Sévigné (1626-1696), wurde durch ihre »Briefe« bekannt und wird zum Kreis der Klassiker der französischen Literatur gerechnet. – Anm.d.Übers. in ihren Briefen an ihre Tochter – wie liebenswürdig sie doch sind; aber irgendwie mütterlich kommen sie mir überhaupt nicht vor. Welch ein Schluss des Briefes einer Mutter ist zum Beispiel dieses elegante Kompliment: › Songez que de tons le cœ, ur où vous regnez, il n' ya en a aucun où votre empire soit si bien é tabli que dans le mien.Glaube mir, dass von allen Herzen, über die du regierst, es keines gibt, in dem deine Herrschaft so gut eingerichtet ist wie in meinem. – Anm.d.Übers. Ich kann mir kaum vorstellen, dass Lord Saxingham so an Sie schreiben würde, Lady Florence.«

»Nein, in der Tat«, erwiderte Lady Florence lächelnd. »Weder Papas noch Mamas sind in England sehr zu Komplimenten geneigt; ich muss aber gestehen, dass ich Komplimente sogar in unseren vertrautesten Familienverhältnissen irgendwie gerne erhalten sehen möchte – warum sollte nicht die Einbildungskraft Eingang in alle Gefühlsäußerungen finden?«

»Ich kann dies schwerlich beantworten«, antwortete Cleveland; »aber ich denke, es würde die Wirklichkeit zerstören. Ich bin ja ziemlich von ›alter Schule‹. Hätte ich eine Tochter und bäte sie, mir meine Pantoffel zu bringen – ich fürchte, es würde mich doch etwas langweilen, wenn ich mich bei ihrem Empfang mit des belles phrases Schöne Redensarten. – Anm.d.Übers. bedanken müsste.«

Während sie sich in dieser Weise unterhielten und Lady Florence fortfuhr, ihre Sicht zu dieser Frage darzulegen, kamen sie durch einen kleinen Hain; er führte zu einem Arm des Baches, der das Gelände schmückte; seine geruhsame Schattenlage stach merklich von den belebteren Teilen des Gutes ab. Hier trafen sie plötzlich auf Maltravers. Er ging den Bach entlang und war offensichtlich in Gedanken versunken.

Das Zittern von Lady Florence' Hand auf seinem Arm veranlasste Cleveland, inmitten eines angeregten Kommentars zu Rochefoucaulds François de La Rochefoucauld (1613-1680), französischer Schriftsteller, der älteste der französischen Moralisten. – Anm.d.Übers. Charakterisierung des Kardinal von Retz, Jean-François Paul de Gondi, besser bekannt als Kardinal de Retz (1613-1679), war ein französischer Adeliger, Geistlicher, Politiker und Kirchenfürst des 17. Jh. Seinen Nachruhm verdankt er vor allem seinen Memoiren. kurz anzuhalten und sich umzuschauen.

»Ha, Ihr äußerst nachdenklicher Jacques!« sagte er; »und welchen neuen sittlichen Grundsatz habt Ihr in unserem Ardenner Wald ausgetüftelt?« Anspielung auf Shakespeare, »Wie es euch gefällt«; Jacques ist eine der wichtigen Personen, der Ardenner Wald der Spielort. – Anm.d.Übers.

»Oh, ich bin froh, Sie zu sehen; ich brauchen Ihren Rat, Cleveland. Aber um zuerst Sie, Lady Florence, und unseren Gastgeber zu überzeugen, dass mein Umherschweifen nicht ganz fruchtlos geblieben ist und dass ich nicht von Dan nach Berseba Im Alten Testament mehrfach wiederholte Formulierung, z. B.: »Und David sprach zu Joab und zu den Obersten des Volks: Geht hin, zählt Israel von Beerscheba bis Dan und bringt mir Kunde, damit ich weiß, wie viel ihrer sind.« (1. Chronik 21, 2). – Anm.d.Übers. gehen und alles öde finden musste: nehmen Sie meine Gabe an – eine wilde Rose, die ich im undurchdringlichsten Teil des Wald entdeckte. Es ist keine kultivierte Rose. Nun, auf ein Wort, Cleveland.«

»Und da, Mr. Maltravers, bin ich de trop«, entbehrlich. – Anm.d.Übers. sagte Lady Florence.

»Verzeihen Sie, ich habe vor Ihnen keine Geheimnisse in dieser Angelegenheit – oder vielmehr in diesen Angelegenheiten; denn es gibt zwei zu besprechen. An erster Stelle, Lady Florence, diesen armen Cæsarini, – Sie kennen und mögen ihn –, nein, sie brauchen nicht rot zu werden.«

»Tat ich das? – dann war es in Erinnerung an einen alten Tadel von Ihnen.«

»Und dessen Berechtigung? – gut, macht nichts. Ich habe immer ein lebhaftes Interesse für ihn gehabt. Die Krankhaftigkeit seiner Launen vermehrt nur meine Besorgnis für sein zukünftiges Geschick. Ich habe von De Montaigne, seinem Schwager, der sehr beunruhigt über Castruccio ist, einen Brief erhalten. Er wünscht, dass er England sofort verlasse; er hält dies für die einzige Möglichkeit, seine ruinierte Vermögenslage zu bereinigen. De Montaigne vermag ihm eine diplomatische Anstellung zu verschaffen, eine vielleicht nicht wieder sich bietende Gelegenheit – und – aber Sie kennen den Mann – was sollen wir tun? Ich bin sicher, dass er mich nicht anhören wird; er betrachtet mich als eigennützigen Konkurrenten um den Ruhm.«

»Glaubst du, dass ich über eine subtilere Beredsamkeit verfüge?« fragte Cleveland. »Nein, ich bin auch Schriftsteller. Komm, ich denke, Ihre Ladyschaft muss die Verhandlungsführung übernehmen.«

»Er besitzt Genie, er hat Verdienst«, sagte Maltravers bittend; »er braucht nur Zeit und Erfahrung, um sich seiner Schwächen zu entwöhnen. Wollen Sie versuchen, ihn zu retten, Lady Florence?«

»Oh? nun, ich darf mich nicht verhärten. Ich werde ihn sprechen, wenn ich nach London komme. Es sieht Ihnen ähnlich, Mr. Maltravers, sich verantwortlich zu fühlen für jemanden …«

»... der mich nicht leiden kann, wollten Sie sagen; aber das wird er – früher oder später. Nebenbei: ich schulde ihm tiefe Dankbarkeit. In seinen schwächeren Eigenschaften habe ich viele erkannt, die alle Schriftsteller sich zuziehen können, wenn sie nicht streng auf sich aufpassen; und lassen Sie mich hinzufügen, dass ich seiner Familie gegenüber stark in der Pflicht stehe.«

»Du glaubst an die Gesundheit seines Herzens und die Unbeflecktheit seiner Ehre?« fragte Cleveland forschend.

»Das tue ich in der Tat; das sind – und müssen es sein – die heilbringenden Eigenschaften der Dichter.«

Maltravers sprach mit Wärme; und sein Einfluss auf Florence war zu dieser Zeit derart, dass seine Worte – und oh! zu schicksalhaft! – ihrem Urteil über Castruccios Charakter Form gaben, welches zuerst sehr positiv gewesen, aber dann durch seine eigene Dreistigkeit schließlich erschüttert worden war. Sie war ihm drei oder vier Mal in der Zeit zwischen dem Empfang seines Entschuldigungsschreibens und ihrem Besuch bei Cleveland begegnet, und er war ihr eher missmutig als gedemütigt erschienen. Doch hegte sie Mitgefühl mit seiner durch sie verletzten Eitelkeit.

»Und nun«, fuhr Maltravers fort, »komme ich zum zweiten Punkt der Beratung. Aber da geht es um Politik; wird dies Lady Florence nicht langweilen?«

»Oh, nein; Politik ist mir nie gleichgültig: sie erfüllt mich immer mit Verachtung oder Bewunderung, je nach den Beweggründen derer, welche ihre Pläne in die Tat umsetzen wollen. Bitte sprechen Sie weiter.«

»Gut«, sagte Cleveland, » einen Vertrauten zur Zeit; Ihr werdet mich entschuldigen, aber ich sehe, dass meine Gäste über den Rasen kommen, und ich kann obendrein ein Ablenkungsmanöver zu Euren Gunsten machen. Ernest kann mich zu jeder Zeit um Rat bitten.«

Cleveland ging fort; aber die Vertrautheit zwischen Maltravers und Florence war so offener Natur, dass keine Verlegenheit aufkam beim Gedanken an ein tê te-à -tê te.

»Lady Florence«, sagte Ernest, »mit niemandem auf dieser Welt kann ich mich so entspannt beraten wie mit Ihnen. Ich freue mich fast über Clevelands Abwesenheit, denn – trotz all seiner feinen, liebenswerten Eigenschaften – ›gilt ihm die Welt zu viel‹, »The World is too much with us« lautet der Titel eines industriekritischen Sonetts von William Wordsworth (1802 entstanden, 1807 zuerst veröffentlicht). – Anm.d.Übers. und wir argumentieren nicht aufgrund derselben Fakten. Verzeihen Sie diese Einleitung – nun aber zur Sache. Ich erhielt einen Brief von Mr. ***. Dieser Staatsmann, den nur zu würdigen versteht, wer mit der ritterlichen Schönheit seines Wesen bekannt ist, sieht sich vor der glänzendsten Karriere, die sich in diesem Land jemals einem Politiker nichtaristokratischer Herkunft eröffnet hat. Er fragte mich, ob ich am Aufbau einer neuen Verwaltung, die er schaffen will, mitarbeiten möchte: das mir angetragene Amt liegt über meinem Verdienst und steht in keinem Verhältnis zu dem, was ich geleistet habe, würde aber vielleicht trotzdem zu dem passen, was ich tun könnte. Ich erwähne diese Einschränkung, weil Sie wissen«, fügte Ernest mit stolzem Lächeln hinzu, »dass ich zuversichtlich und voller Selbstvertrauen bin.«

»Sie nehmen also das Angebot an?«

»Nein, – sollte ich es nicht ablehnen? Unsere Politik bleibt nur einen Augenblick lang dieselbe, unsere letzten Ziele liegen weit auseinander. Um unter Mr. *** in den Dienst zu treten, muss ich einen ungleichen Kompromiss eingehen – neun Anschauungen über Bord werfen, um eine durchzubringen. Ist das nicht die Kapitulation der großen Festung, nämlich des eigenen Gewissens? Niemand wird mich inkonsequent nennen, denn in der Politik geht es nur um die Übereinstimmung in Parteifragen; die tausend noch nicht ausgereiften, im Dunkel der Zukunft verborgenen Fragen bleiben unerahnt und unerörtert; doch ich gestehe: ich würde mich schlechter als nur inkonsequent fühlen. Denn das ist mein Dilemma: wenn ich diesen edlen Geist lediglich benutze, um ein bestimmtes Ziel zu fördern, und dann fahnenflüchtig werde, wenn er stehen bleibt, verhalte ich mich ihm gegenüber wie ein Verräter; wenn ich mit ihm stehen bleibe, obwohl nur eines meiner Ziele erreicht wurde, verrate ich mich selbst. So sehe ich das, und ich bin unter Schmerzen zu dieser Ansicht gekommen, denn zuerst schlug mein Herz in selbstsüchtigem Ehrgeiz.«

»Sie haben recht, Sie haben recht«, rief Florence mit glühenden Wangen; »wie konnte ich an Ihnen zweifeln? Ich begreife, welches Opfer sie das kostet; denn es erfüllt mit Stolz, sich über die gegnerischen Voraussagen hinweg auf jener greifbaren Bahn aufzuschwingen zu Ehren, welche die strengen Augen der Welt wahrnehmen und ihr kaltes Herz ermessen können; aber noch stolzer darf man sich fühlen, wenn man auf dem Weg zum Ziel keinen Schritt getan hat, den man später bereuen müsste. Nein, mein Freund, warten Sie auf Ihre Zeit – vertrauen Sie darauf, dass sie kommen wird –, in der Ihr Bewusstsein und Ihr Ehrgeiz Hand in Hand gehen können – wenn die weit gefassten Ziele einer erleuchteten, erweiterten Politik wie eine Schautafel vor Ihnen liegen und Sie jeden Schritt auf Ihrem Weg berechnen können, ohne sich zu verirren. Ach, mögen sie ruhig die Erhabenheit von Zielen und das Zeugnis der Seele als Träume eines Theoretikers hinstellen, – selbst wenn es so wäre: in diesem Fall ist das Ideal besser als die Praxis. Indes ist ihre Stellung auch keine, die man einfach aufgeben sollte. Vor Ihnen ragt der Thron der Literatur, der nicht mit fragwürdigen Schritten zu gewinnen ist, sofern Sie, wie ich glaube, die geistige Kraft dazu besitzen – ein Ehrgeiz, den man freilich fahren lassen kann, wenn eine unruhigere Laufbahn besser solche Ziele erreichen läßt, auf die sich sowohl Literatur als auch Politik richten sollten, der aber nicht der Belohnung durch ein Amt oder dem Aufstieg zum Höfling preisgegeben werden darf.«

Während sie diese edlen, beflügelnden Gedanken äußerte, gewann Florence Lascelles plötzlich in Ernests Augen eine Anmut, die sie ihr nie zuvor zugestanden hatten.

»Oh«, sagte er und hob in einem jähen Impuls ihre Hand an seine Lippen, »gesegnet sei die Stunde, in der Sie mir Ihre Freundschaft widmeten! Dies sind die Gedanken, die ich mich von lebendigen Lippen zu hören sehnte, als ich versucht war, Vaterlandsliebe für eine Illusion und Tugend bloß für ein Wort zu halten.«

Als Lady Florence das hörte, schien ihr ganzes Wesen verwandelt – sie war nicht mehr die majestätische Sibylle, sondern die anhängliche, furchtsame, doch entzückte Frau.

In dieser Verwirrung ließ sie die ihr von Maltravers überreichte Blume fallen, und unwillkürlich froh über einen Vorwand, ihr Gesicht zu verbergen, bückte sie sich, diese aufzuheben. Dabei fiel ihr ein Brief aus dem Dekolleté – und Maltravers sah, als er sich vorbeugte, um ihrer Bewegung zuvor zu kommen, dass er an ihn selbst gerichtet war, und zwar in der Handschrift seiner unbekannten Korrespondentin. Er ergriff den Brief und starrte mit geschmeicheltem, bezaubertem Staunen zuerst auf die Schrift, und dann auf die entdeckte Schreiberin. Florence wurde todbleich, verbarg ihr Gesicht mit ihren Händen und brach in Tränen aus.

»Narr, der ich war«, rief Ernest in augenblicklicher Leidenschaft, »nicht zu wissen – nicht zu fühlen, dass es nicht zwei Florences in der Welt gebe! Aber wenn mir der Gedanke gekommen wäre, ich hätte nicht gewagt, ihm Einlass zu gewähren!«

»Gehen Sie, gehen Sie«, schluchzte Florence; »lassen Sie mich allein, um Gottes Willen, lassen Sie mich allein!«

»Nicht bis Sie mir gebieten, mich zu erheben«, sagte Ernest und sank, kaum weniger tief bewegt als sie, zu ihren Füßen auf die Knie.

Muss ich fortfahren? – Als sie diesen Ort verließen, war ein zartes Geständnis geflüstert – inbrünstige Schwüre waren ausgetauscht worden, und Ernest Maltravers war der akzeptierte Bewerber um Florence Lascelles.


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