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Kapitel VI

»Um neues Wissen solche Schmerzen leiden,
Bringt Feindschaft derer, die dies Wissen neiden.«

CHURCHILL, The Author.

Ohne dass ihm in dem Gespräch mit De Montaigne tatsächlich geschmeichelt worden wäre, brachte es Maltravers mit sich selbst und seinem Lebensweg wieder in Einklang. Es hatte vielleicht weniger erregende als ernüchternde, stützende Wirkung auf sein Gemüt. De Montaigne hätte gewiss keinem Mann Kühnheit einflößen können, aber er vermochte vielen zu Energie und Ausdauer verhelfen. Die beiden Freunde hatten einiges gemeinsam; Maltravers aber besaß die Fülle der Natur und der Leidenschaft – er hatte mehr Fleisch und Blut, mit all ihren Mängeln und Vorzügen. De Montaigne dagegen hielt sich dermaßen an seine Lieblingsdoktrin moralischen Gleichgewichts, dass er sich selbst in vielem auf einen Mechanismus reduziert hatte. Indem Antriebe von Gewohnheiten gesteuert werden, gestaltete die Vorschriftsmäßigkeit von De Montaignes Gewohnheiten seine Antriebe tugendhaft und gerecht, und er gab ihnen so oft nach, wie es einem raschen Gemüt lag; diese Antriebe drängten freilich nie zu etwas Spekulativem oder Wagemutigem. De Montaigne kam nicht über eine klar definierte Handlungslinie hinaus. Er empfand keine Sympathie für Überlegungen, die rein auf Hypothesen der Einbildungskraft beruhten: er konnte Plato nicht leiden und war taub für die beredten Einflüsterungen aus überfeinerter Poesie oder mystischer Weisheit.

Maltravers dagegen verschmähte keineswegs die Vernunft, suchte sie aber zu ergänzen durch die Vorstellungskraft und hielt jede Philosophie für unvollständig und unbefriedigend, die ihre Forschungen lediglich auf die Felder des Bekannten und Sicheren erstreckte. Er schätzte die induktive Methode; Induktion bedeutet seit Aristoteles den abstrahierenden Schluss aus beobachteten Phänomenen auf eine allgemeinere Erkenntnis, etwa einen allgemeinen Begriff oder ein Naturgesetz. – Anm.d.Übers. aber er gebrauchte sie für Spekulationen ebenso wie für Tatsachen. Er behauptete, dass sämtliche Triumphe in Wissenschaft und Kunst aufgrund ähnlicher Kühnheit vollbracht worden waren – dass Newton, dass Kopernikus nichts erreicht hätten, wenn sie nicht ebensoviel Fantasie wie Verstand gehabt, nicht gleichermaßen vermutet wie bewiesen hätten. Ja, es war sogar einer seiner Lieblingsgedanken, dass Mutmaßung die Seele der Philosophie sei. Er vertraute bedingungslos auf das Funktionieren von Geist und Gemüt, sofern diese wohlgebildet waren, und meinte, dass sogar emotionale und gedankliche Ausschweifungen bei Menschen, die durch Erfahrung und Studium gut geschult sind, zu nützlichen und bedeutenden Zwecken führen.

Die fortgeschrittenen Jahre indes und das ganz und gar auf die Praxis zielende Wesen von De Montaignes Standpunkten gab ihm in der Auseinandersetzung mit Maltravers eine Überlegenheit, der letzterer sich nur unwillig fügte, während auf der anderen Seite De Montaigne insgeheim spürte, dass sein junger Freund auf breiterer Basis argumentierte und in größeren Zusammenhängen dachte, und dass er für Fehler und Irrtümer zwar anfälliger, aber gleichzeitig auch befähigter war für neue Entdeckungen und geistige Leistungen. Da aber ihre Lebenswege unterschiedlich aussahen, prallten sie nicht aufeinander; De Montaigne, aufrichtig an Ernests Schicksal interessiert, war es zufrieden, seines Freundes Geist abzuhärten gegen die Hindernisse auf seinem Weg und das Übrige dem Versuch und der Vorsehung zu überlassen. Sie gingen zusammen nach London, und De Montaigne kehrte nach Paris zurück.

Maltravers trat nun wieder auf in den Zirkeln der Heiteren und Bedeutenden. Ihm war bewusst, dass seine neue Rolle seine Position entscheidend verändert hatte. Er wurde nicht länger hofiert und umschmeichelt wegen gewöhnlicher, zufälliger Gegebenheiten wie Geburt, Vermögen und Verbindungen, wie früher, – sondern wegen Umständen, die ihm freilich ebensowenig schmeichelhaft erschienen. Man suchte ihn nicht wegen seiner Verdienste, seines Geistes, seiner Begabungen, sondern seines gegenwärtigen Ruhmes halber. Er war als Schriftsteller in Mode, so lief man ihm hinterher, wie es bei jeder Mode geschieht. Er wurde eingeladen, weniger um sich mit ihm zu unterhalten als um ihn anzustarren.

Sein Temperament war viel zu stolz, sein Streben zu rein, um eine Eitelkeit zu fühlen, die sich daran erbaut, die Begeisterung dieser Kreise mit einem deutschen Prinzen oder einem Flohzirkus zu teilen. Entsprechend früh wies er Annäherungsversuche ab, verhielt sich reserviert und stolz gegenüber der feinen Damenwelt, lehnte es ab, in Mode zu sein, und wurde sehr unpopulär bei der literarischen Prominenz. Man begann schon die Werke herunter zu machen, weil man mit dem Verfasser unzufrieden war.

Maltravers hatte aber seine Versuche im Hinblick auf die gewaltigen Massen des allgemeinen Publikums unternommen. Er hatte das Volk seines eigenen Landes und das anderer Länder zu seiner Zuhörerschaft und seinen Richtern aufgerufen; und keine Clique auf der ganzen Welt hätte ihm schaden können. Es erging ihm wie dem Parlamentsmitglied eines riesengroßen Wahlbezirks, der Einzelne so lange beleidigen darf, wie er Rückhalt in der Menge besitzt.

Doch während er sich von den Abgeschmackten und Unproduktiven zurückzog, trug er Sorge, nicht von der Welt getrennt zu werden. Er formte sich seine eigene Gesellschaft nach seinem Geschmack, erfreute sich an den für Männer interessanten, aufregenden Themen der Zeit, beobachtete schärfer und weitete seinen Gesichtskreis als Schriftsteller aus, indem er sich frisch und frei als Bürger unter alle Gesellschaftsklassen mischte.

Literatur wurde für ihn das, was die Kunst dem Künstler, die Geliebte dem Liebhaber ist: eine fesselnde und leidenschaftliche Beglückung. Er machte sie zu seinem herrlichen, himmlischen Beruf – er liebte sie als seinen Beruf – ihrem Streben, ihren Ehren opferte er seine Jugend, all seine Sorge, seine Träume – seinen Geist, sein Gemüt, ja, seine Seele. Er wurde zu einem stillen, aber vollauf begeisterten Mitglied jener Priesterschaft, der er beigetreten war. Von der Literatur war seiner Vorstellung nach alles gekommen, was Nationen erleuchtet und das Menschengeschlecht menschlich gemacht hatte.

Er liebte die Literatur um so mehr, weil ihre Auszeichnungen nicht die der Welt sind – weil sie weder Ordensbänder noch Sterne noch hohe Ämter zu vergeben hat. Ein Name, beständig in tiefer Dankbarkeit und von Mensch zu Mensch vererbtem Entzücken – das ist der Titel, den sie verleiht. Sie ist die große urtümliche Weltkirche, ohne Päpste oder Muftis – Sinekuren, Sinekure, lateinisch sine cura animarum »ohne Sorge für die Seelen«, das heißt ohne Verpflichtung zur Seelsorge; ein Amt, mit dem Einkünfte, aber keine Amtspflichten verbunden sind. – Anm.d.Übers. Ämterhäufungen und Hierarchien. Ihre Diener sprechen zu den Menschen wie die Propheten in alter Zeit, ängstlich bedacht nur darauf, dass man sie höre und ihnen glaube. Von dieser Begeisterung erfüllt verfolgte Maltravers seinen Weg in dem großen Festzug der Myrthenträger Die Myrte, eines der Zeichen der drei Grazien, ist in der Antike das Symbol für Liebe und Unsterblichkeit. Noch im viktorianischen England findet die Pflanze Verwendung als Zeichen ehelicher Treue. – Anm.d.Übers. zum heiligen Schrein. Er trug den Thyrsos, Thyrsos: in der griechischen Mythologie ein Stab, der als Attribut von Dionysos getragen wird, dem Gott des Weines, der Freude und Fruchtbarkeit – in Bezug auf die Kunst verkörpert er im Gegensatz zu Apoll, der hier für deren kontemplative Seite steht, die vitale, ekstatische Komponente. – Anm.d.Übers. und er glaubte an den Gott.

Nach und nach bewirkte seine Begeisterung in ihm jene Philosophie, die De Montaigne aus nüchterner Berechnung abgeleitet hätte; sie machte ihn gleichgültig gegen den dornigen Pfad und die Himmelsstürme. Die durch ihn ausgelöste Feindseligkeit, die ihn überfallenden Beleidigungen lernte er zu verachten. Manchmal verhielt er sich still, manchmal aber schlug er zurück. Wie ein Soldat, der einer Sache dient, glaubte er, dass, wenn die Sache in seiner Person eine Beleidigung erfuhr, die seinen Händen anvertrauten Waffen ohne Furcht und Tadel gehandhabt werden dürften. Allmählich wurde er ebenso gefürchtet wie bekannt. Obwohl viele ihn beschimpften, konnte ihn doch niemand verachten.

Es würde der Anlage dieses Werkes nicht anstehen, Maltravers in seiner Laufbahn Schritt für Schritt zu folgen. Ich beschreibe daher nur die wesentlichen Ereignisse, nicht die geringfügigen Details in seiner intellektuellen Entwicklung. Zum Wesen seiner Werke, welche Fehler sie auch gehabt haben mögen, sei nur gesagt, dass sie echt, ganz seine eigenen waren. Er schrieb nicht, um zu kopieren oder verbreitete Literatur zu kompilieren. Er war ein Künstler, das stimmt, – denn was ist Genie anders als Kunst? Gesetze, Harmonie und Ordnung entnahm er dem großen Codex von Wahrheit und Natur: einem Codex, der intensives, unablässiges Studium verlangt – obgleich seine ersten Prinzipien gering an Zahl und schlicht sind: vor dieser Mühsal schreckte Maltravers nicht zurück.

Tiefe Wahrheitsliebe machte ihn zum feinsinnigen, eindringlichen Analytiker, selbst in dem, was der Stumpfsinn Bagatellen nennt; er wusste nämlich, dass es in der Literatur an sich nichts Geringfügiges gibt – dass Binsenwahrheit und Entdeckung oft nur eine Haaresbreite trennt. Er war umso ursprünglicher, als er mehr nach dem Wahren als nach dem Neuen suchte. Keine zwei Geister sind je identisch; deshalb wird jeder, der uns frank und frei, unbeeinflusst von knechtischer Nachahmung, die Ergebnisse eigener Eindrücke übergibt, ursprünglich sein.

Nicht aber aus seiner Originalität, die tatsächlich sein Hauptverdienst ausmachte, leitete sich Maltravers' Renommee ab, weil seine Originalität nicht zu der Gattung gehörte, die im Allgemeinen den Pöbel blendet – sie war weder extravagant noch bizarr – er täuschte weder ein System vor noch eine Schule. Viele Schriftsteller seiner Zeit erschienen den Oberflächlichen neuartiger und einmaliger. Gründliche und dauerhafte Erfindung schreitet aber in subtilen Abstufungen voran – sie hat nichts zu tun mit jenen Zuckungen, Konvulsionen und Verzerrungen, die nicht die gesunde Lebenskraft, sondern die kränkliche Fallsucht der Literatur anzeigen.


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