Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Kapitel XII

»Er betrat in der Tat mein Zimmer.«

Gil Blas.

   

»›Ich bin erstaunt‹, sagte er, ›über die Laune des Schicksals, das es bisweilen liebt, einen abscheulichen Skribenten mit seiner Gunst zu überhäufen, während es gute Schriftsteller in Not verkommen lässt.‹«

Gil Blas.

Es war genau zwölf Monate nach seinem letzten Gespräch mit Valerie – Madame de St. Ventadour hatte seitdem England längst verlassen –, als eines Morgens, während Maltravers alleine in seinem Arbeitszimmer saß, Castruccio Cæsarini gemeldet wurde.

»Ah, mein lieber Castruccio, wie geht es Ihnen?« rief Maltravers eifrig, als die sich öffnende Tür die Gestalt des Italieners freigab.

»Sir«, sagte Castruccio mit großartiger Steifheit und bediente sich der französischen Sprache, was er stets tat, wenn er distanziert erscheinen wollte, »Sir, ich komme nicht, um unsere frühere Bekanntschaft zu erneuern – Sie sind ein bedeutender Mann (hier zeigte er ein verbittertes Hohnlächeln), und ich ein unbedeutender (hier warf er sich in die Brust) – ich komme nur, um bei ihnen eine Schuld zu begleichen, die ich glaube, auf mich geladen zu haben.«

»Was ist das für ein Ton, Castruccio; und von welcher Schuld sprechen Sie?«

»Nach meiner Ankunft gestern in der Stadt«, sagte der Dichter feierlich, »begab ich mich zu dem Mann, den Sie vor einigen Jahren mit der Publikation meines kleinen Buches beauftragten, um eine Abrechnung über dessen Erfolg zu verlangen; und ich erfuhr, dass die Kosten bei hundertzwanzig Pfund liegen, abzüglich des Verkaufs von neunundvierzig Exemplaren. Ihre Bücher werden zu Tausenden verkauft, wie ich vernahm. Das ist gut ausgedacht – meines erlitt eine Totgeburt, weil man sich seiner nicht annahm – keine Ursache! – (ein Winken mit der Hand). Sie übernahmen diesen Betrag, ich zahle ihn an Sie zurück: Hier ist ein Wechsel für das Geld. Das war's, Sir! Ich wünsche Ihnen einen guten Tag, und Gesundheit, um sich Ihres Rufes zu erfreuen.«

»Aber, Cæsarini! das ist Unsinn!«

»Sir …«

»Ja, es ist Unsinn; denn nichts ist unsinniger, als Freundschaft fort zu werfen in einer Welt, wo Freundschaft so selten ist. Sie unterstellen, dass ich die Verantwortung für irgendeine Nachlässigkeit Ihr Werk betreffend trage. Ihr Verleger kann Ihnen sagen, dass ich für Ihr Buch mehr Mühe aufwandte, als das jemals bei meinen eigenen der Fall war.«

»Und der Beweis dafür liegt im Verkauf von neunundvierzig Exemplaren!«

»Setzen Sie sich, Castruccio; setzen Sie sich und nehmen Sie Vernunft an«; und Maltravers fuhr fort zu erklären, zu beschwichtigen, zu trösten. Er erinnerte den armen Dichter daran, dass seine Verse in einer fremden Sprache geschrieben seien – dass sogar englische Poeten von bedeutendem Ruf sich nur begrenzter Absatzzahlen ihrer Werke erfreuten – dass es unmöglich sei, das geizige Publikum dazu zu bewegen, etwas zu erwerben, wofür dasselbe Publikum in seiner Beschränktheit keine Interesse habe – kurz: er gebrauchte all jene Argumente, die sich ihrer Natur nach als am ehesten geeignete anboten, Castruccio zu überzeugen und zu besänftigen; und er tat dies mit solch augenscheinlicher Sympathie und Freundlichkeit, dass der Italiener seinen eigenen Groll nicht länger rechtfertigen konnte. Es kam zur Versöhnung, aufrichtig auf seiten Maltravers', auf seiten Cæsarinis jedoch nur als leere Phrase, weil der enttäuschte Schriftsteller dem erfolgreichen nicht vergeben konnte.

»Und wie lange gedenken Sie in London zu bleiben?«

»Einige Monate.«

»Lassen Sie Ihr Gepäck kommen und seien Sie mein Gast.«

»Nein, ich habe eine mir zusagende Unterkunft bezogen. Ich bin für die Einsamkeit geschaffen.«

»Während Ihres Aufenthalts werden Sie jedenfalls die große Welt aufsuchen?«

»Ja, ich besitze einige Empfehlungsschreiben, und ich höre, dass man in England Verdienst zu schätzen weiß, auch an einem Italiener.«

»Das entspricht der Wahrheit, und es wird Ihnen wenigstens Vergnügen bereiten, unsere berühmten Männer kennen zu lernen. Sie werden Sie sehr gastfreundlich empfangen. Lassen Sie mich Ihnen als Cicerone In Italien übliche Bezeichnung für Fremdenführer. – Anm.d.Übers. Beistand leisten.«

»Oh, und Ihre wertvolle Zeit?«

»Steht zu Ihrer Verfügung: aber wohin wollen Sie?«

»Es ist Sonntag, und meine Neugier wurde erregt, einen berühmten Prediger zu hören – Mr. ***, von dem man, wie mir gesagt wurde, mehr spricht, als von irgend einem Schriftsteller in London.«

»Man hat Ihnen recht berichtet – ich werden mit Ihnen kommen – ich selbst habe ihn noch nicht gehört, hatte mir das aber genau für diesen Tag vorgenommen.«

»Sind Sie nicht eifersüchtig auf einen Mann, von dem so viel gesprochen wird?«

»Eifersüchtig? – ach, ein populärer Prediger wollte ich nie sein! – ce n' est pas mon mé tierDas ist nicht meine Gewerbe. – Anm.d.Übers.

»Wäre ich ein erfolgreicher Schriftsteller, dann wäre ich eifersüchtig, wenn man von den tanzenden Hunden spräche.«

»Nein, mein lieber Cæsarini, sicher wären Sie das nicht. Sie sind gegenwärtig von einer verständlichen Enttäuschung irritiert; aber derjenige, der so viel Erfolg hat, wie er verdient, ist niemals krankhaft eifersüchtig, nicht einmal auf einen Rivalen aus der eigenen Reihe. Verlangen nach Erfolg vergällt uns das Leben; doch ein kleiner Sonnenschein lächelt die üblen Dämpfe hinweg. Kommen Sie, wir haben keine Zeit zu verlieren.«

Maltravers nahm seinen Hut, und die beiden jungen Männer schlugen den Weg zur ***-Kirche ein. Cæsarini hatte noch immer seinen exzentrischen Kleidungsstil beibehalten, wenngleich er nun ansehnlichere Stoffe verwendete und sie mit anspruchsvollerem Schick trug. Seine Persönlichkeit hatte deutlich gewonnen – in Paris hatte man ihn sehr bewundert und ihm gesagt, er gleiche einem Mann mit Genie – und mit seinen schwarzen, über die Schultern wallenden Locken, seinem langen Schnurrbart, seinem breiten Hut in spanischem Stil und seiner ausgefallenen Gewandung sah er gewiss nicht wie andere Leute aus. Er lächelte geringschätzig über die schlichte Kleidung seines Begleiters.

»Ich bemerke«, sagte er, »dass Sie der Mode folgen und aussehen, als hätten Sie Ihr Leben mit é lé gantes statt mit Studenten verbracht. Ich frage mich, warum Sie sich zu solchen Banalitäten wie modischen Hüten und Mänteln herablassen.«

»Es wäre weitaus banaler, seine Originalität mit Hüten und Mänteln herausstellen zu wollen, zumindest im nüchternen England. Ich bin als Gentleman geboren, darum erscheine ich in meiner äußeren Kleidung wie andere meine Standes. Warum sollte ich mir einbilden, bloß weil ich Schriftsteller bin, dass ich anders als andere Menschen sei?«

»Ich erkenne, dass Sie sich über die Schwäche Ihres Landsmann Congreve William Congreve (1670-1729), englischer Dramatiker und Dichter. – Anm.d.Übers. nicht erheben«, erwiderte Cæsarini, »den es feiner dünkte, ein Gentleman zu sein als ein Schriftsteller.«

»Ich hielt diese Anekdote stets für missverstanden. Congreve besaß nach meinem Urteil echten, männlichen Stolz, wenn er sein Missvergnügen darüber ausdrückte, lediglich wie ein Raritätenkasten betrachtet zu werden.«

»Aber ist es sinnvoll, den Leuten zu zeigen, dass ein Schriftsteller ein Mensch wie jeder andere ist? Würde er nicht ein tieferes persönliches Interesse wecken, wenn er zeigte, dass er schon als Persönlichkeit anders ist als die Menge? Er sollte sich selten zeigen – damit sich seine Präsenz nicht abnutzt – und sich zu den Künsten halten, die dem Königtum des Geistes genauso angehören wie dem der Geburt.«

»Ich würde sagen, über einen Autor, der ein wenig in dieser Art quacksalbert, würde vielleicht mehr geredet – er würde wohl in den Mädchenpensionaten mehr Bewunderung erhalten und in einer Ausstellung ein besseres Bild abgeben. Aber ich glaube, wenn er einen männlichen Geist besäße, müsste er bei jeder dieser Charlatanerien die Selbstachtung verlieren. Und meine Überzeugung ist, dass Selbstachtung allen Ruhm der Welt aufwiegt.«

Cæsarini zuckte hohnlächelnd die Achseln; es war offensichtlich, dass die beiden Schriftsteller einander nicht sympathisch waren.

Sie erreichten schließlich die Kirche und konnten mit einiger Schwierigkeit Sitzplätze sichern.

Der Gottesdienst begann gerade. Der Prediger hatte fraglos Talent und gebot über feurige Beredsamkeit; doch seine Theatralik, seine affektierte Gewandung, seine Künstelei in Ton und Gestik, vor allen Dingen aber der närrische Mummenschanz, den er in das Gotteshaus trug, widerte Maltravers an, während Cæsarini davon in geradezu ehrfurchtsvollem Bann angetan war. Der eine sah einen marktschreierischen Blender – der andere erkannte einen tiefgründigen Künstler und beseelten Propheten.

Aber während sich der Vortrag dem Ende näherte, während der Prediger gerade einen seiner wortgewandtesten Ausbrüche vorführte – ihre Ohs! und Ahs! bildeten das großartige Präludium zum pathetischen Schlusswort – fesselte der matte Umriss einer weiblichen Gestalt in einiger Entfernung Maltravers' Augen und beanspruchte seine Gedanken. Trotz hellem Tageslicht war es dunkel in der Kirche; und das Gesicht der Person, die Ernests Aufmerksamkeit auf sich zog, war von Hut und Schleier verborgen. Aber diese Biegung des Nackens war so schlechthin anmutig, so demutsvoll bescheiden, dass sie seinem Herzen nur ein einziges Bild zurückrief. Jeder hat vielleicht schon beobachtet, dass es eine Physiognomie (falls man diesen Begriff hier entschuldigen möchte) »if the bull may be pardoned« (falls der Stier begnadigt wird) – dieses Bild aus dem Stierkampf hat im Deutschen keine Entsprechung. – Anm.d.Übers. bei der Gestalt ebenso wie beim Gesicht gibt, die nur selten zwei Personen gemeinsam haben. Und das fällt meistens besonders markant in der Wendung des Kopfes auf, in der Kontur der Schultern und in dem gewissen Etwas, das die Haltung eines jeden im Ruhezustand charakterisiert.

Je angespannter er hin schaute, um so sicherer war Ernest überzeugt, dass er die verloren geglaubte, niemals vergessene Geliebte seiner Jugendzeit, seine erste Liebe vor sich hatte. Auf der einen Seite der fraglichen Dame saß ein ältlicher Herr, auf der anderen ein schönes kleines Mädchen mit langen blonden Locken und jenem Ensemble äußerer Merkmale, das wegen seiner Feinheit und ausdrucksvollen Sanftheit von Malern und Dichtern »engelgleich« genannt wird. Diese Personen schienen zusammen zu gehören.

Maltravers zitterte buchstäblich, so groß waren seine Ungeduld und seine innere Bewegung. Und doch verrieten die Kleidung dieses vermeintlichen Ebenbildes von Alice, die Erscheinung ihrer Begleiter einen so offensichtlich überdurchschnittlichen gesellschaftlichen Rang, dass Ernest kaum wagte, den Vorstellungen seines Herzens nachzugeben. War es denkbar, dass die Tochter Luke Darvils, hinaus geworfen in die weite Welt, sich so hoch über ihre Lebensumstände und ihren Stand erheben konnte?

Schließlich kam der Augenblick, der seine Zweifel auflösen könnte – der Vortrag war beendet – das freie Gebet gesprochen – die Versammlung brach auf, und Maltravers bahnte sich so gut er konnte seinen Weg durch die dicht gedrängte Menge. Aber in jedem Augenblick hielt irgendein quälendes Hindernis, in Form eines fetten Herrn oder dreier eng aneinander gedrängter Damen, seinen Fortschritt auf. Inmitten der Überfülle mächtiger Hauben und wehender Hutfedern verlor er die fragliche Gesellschaft aus den Augen.

Er gelangte endlich atemlos und totenbleich (so groß war sein innerer Kampf) zur Kirchentür. Er erreichte sie, um gerade noch einen schlichten Wagen mit Dienern in schmucklos-grauer Livree vom Eingang abfahren zu sehen – und erkannte flüchtig im Gefährt die goldenen Locken eines Kindes. Und er stürzte vorwärts, warf sich beinahe selbst vor die Pferde. Der Kutscher zog die Zügel an und peitschte mit einem ärgerlichen, mehr einem Fluch gleichenden Ausruf die Pferde auf die Seite und fuhr davon. Aber die kurze Pause genügte. – »Sie ist – sie ist es! Oh Himmel, es ist Alice!« flüsterte Maltravers. Der ganze Platz schwankte vor seinen Augen, und er klammerte sich überwältigt und besinnungslos an einen Laternenpfahl in der Nähe, um sich aufrecht zu erhalten. Er kam in quälender Anstrengung zu sich, als ihm der Gedanke aufs Herz schlug, dass er im Begriff sei, sie erneut für immer aus dem Gesichtsfeld zu verlieren. So raste er weiter wie ein Wahnsinniger dem Wagen hinterher. Aber dort neben Strömen von Fußgängern gab es eine riesige Menge anderer Wagen, – denn die vornehme, auf Unterhaltung bedachte Welt benutzte diesen Gottesdienst als schicke Abwechslung an einem trüben Tag.

Nach einer beschwerlichen, gefahrvollen Jagd, während der er dreimal fast überfahren worden wäre, hielt Maltravers am Ende erschöpft und verzweifelt an. Jeden folgenden Sonntag ging er monatelang zu derselben Kirche, jedoch vergeblich; umsonst begab er sich auch zu jedem Treffpunkt öffentlichen Vergnügens: Alice erblickte er nie wieder.


 << zurück weiter >>