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Kapitel III

»Wie ähnlich dem Verschwender kehrt sie heim,
Zerlumpt die Segel, Rippen abgewittert.«

SHAKESPEARE, Der Kaufmann von Venedig, II, 6

   

»Kaufmann: Wer sind die?
Onkel: Die Hausbesitzer.«

BEAUMONT & FLETCHER, Geist ohne Geld

Es waren etwa zwei Jahre seit der Nacht vergangen, in der Alice aus dem Landhaus fortgerissen worden war: und zu dieser Zeit wanderte Maltravers zwischen den Ruinen des alten Ägypten umher, als sich auf jenem Rasen, wo Alice und ihr Geliebter so oft Hand in Hand einher geschlendert waren, eine heitere Gesellschaft von Kindern und jungen Leuten versammelte.

Das Haus war von einem reichen Fabrikanten im Ruhestand gekauft worden. Er hatte dem Landhaus mit dem niedrigen Reetdach noch ein Stockwerk aufgesetzt – blaue Schindeln ersetzten das Reet – und die hübschen, von Schlingpflanzen überwucherten Veranden waren entfernt worden, weil Mr. Hobbs glaubte, sie machten die Räume düster; und die kleine schlichte Einfahrt war vier ionischen Stucksäulen gewichen; das neue Wohnzimmer, sieben mal fünf Meter groß, war über das neue Esszimmer gebaut. Das einfache Landhaus sah nun recht großartig, fast wie eine Villa aus. Der Springbrunnen war entfernt worden, weil er das Haus befeuchtet hatte; und welch eine breite Wageneinfahrt vom Tor zum Haus gab es nun! Das Tor war nicht mehr das bescheiden grün gestrichene Holztor, das mit seiner laxen Verriegelung immer nur angelehnt gewesen war, sondern ein großes gusseisernes, festschließendes Tor, das zwischen zwei Pfeilern den Eingang sicherte. Auf einem der Torflügel befand sich eine Messingplatte mit der Aufschrift »Hobbs' Lodge – Bitte klingeln.«

Die kleineren und die größeren Hobbse waren alle auf dem Rasen – manche von ihnen frisch von der Schule, denn es war Samstagnachmittag, ein halber Feiertag. Es herrschte laute Fröhlichkeit mit Geschrei und Anfeuern, und das respektable alte Ehepaar schaute gleichmütig zu; Vater Hobbs rauchte seine Pfeife (ach, es war nicht die liebe Meerschaumpfeife); Mutter Hobbs sprach mit ihrer ältesten Tochter (einer feinen jungen Frau, die vor drei Monaten einen unbemittelten Mann geheiratet hatte) über die angemessene Zahl von Tagen, die ein zehnpfündiges Hammelbein vorhalten sollte. »Nimm immer große Teile, meine Liebe, da ist am meisten dran. – Ich muss gerade mal schauen –: was für einen Lärm die Jungen veranstalten! – Nein, mein Schatz, der Ball ist nicht hier.«

»Mama, er ist unter deinem Unterrock.«

»Na, Kind, wie ungezogen du bist!«

»Hallo, mein Herr! jetzt bin ich dran mit Reinmachen. Biddy, warte, – Mädchen kriegen keine Durchgänge Es handelt sich offensichtlich um Cricket. – Anm. d. Übers. – Mädchen leisten nur Handlangerdienste.«

»Bob, du schummelst.«

»Pa, Ned sagt, ich schummle.«

»Höchst wahrscheinlich, mein Lieber, wirst du Anwalt werden.«

»Wo waren wir stehen geblieben, meine Liebe?« fuhr Mrs. Hobbs fort, sich wieder niederlassend und den Unterrock, in den man eingedrungen war, neu herrichtend. »Oh, beim Hammelbein! – Ja, große Stücke sind die besten – am zweiten Tag ein nettes Haschee mit Knödeln; am dritten Grillhaxe – dein Gatte mag bestimmt Grillhaxe! – und dann die Reststücke für die Samstagspastete aufheben; – du weißt, mein Liebling, dein Vater und ich waren schlimmer dran als du, als wir anfingen. Aber jetzt haben wir lauter hübsche Sachen um uns – nur eine Frage des Wirtschaftens. Samstagspasteten sind sehr nett, und dann beginnst du am Sonntag mit der Keule. Eine gute Hausfrau sollte nie die Samstagspastete vernachlässigen!«

»Ja«, sagte die frisch Vermählte traurig, »aber Mr. Tiddy mag keine Pasteten.«

»Mag keine Pasteten! das ist sehr sonderbar – Mr. Hobbes mag Pasteten – vielleicht hast du die Kruste nicht dick genug gemacht. Wie auch immer, du kannst mit einem Pudding wieder Frieden stiften. Eine Hausfrau sollte immer die Vorlieben ihres Gatten studieren – was ist das Heim eines Mannes ohne Liebe? Allerdings sollte ein Ehemann die Sache auch nicht verschlimmern, indem er am Samstag keine Pastete mag!«

»Hallo, Mama, siehst du da die Zigeunerin? Ich werd' hingehen und mir wahrsagen lassen.«

»Ich auch – ich auch!«

»Gott, wenn das mal keine Landstreicherin ist!« rief Mr. Hobbs und erhob sich ungehalten; »wofür zahle ich bloß Gemeindesteuern?«

Der Gegenstand letzterer Bemerkungen von Sohn und Vater war eine junge Frau in einem abgetragenen, fadenscheinigen Umhang; sie presste ihr Gesicht an das Lochmuster des Tores und schaute sehnsüchtig, oh, wie sehnsüchtig, hindurch. Die Kinder rannten erwartungsvoll auf sie zu, verlangsamten jedoch unwillkürlich ihre Schritte, als sie nahe kamen, denn sie war augenscheinlich nicht das, wofür sie sie gehalten hatten. Kein Braun färbte die blasse, dünne, zarte Wange – kein Zigeunerblick lauerte in diesen großen, blauen verweinten Augen – keine Zigeunerfrechheit überschattete die freimütige kindliche Stirn. Als sie so ihr Gesicht in krampfhafter Erwartung gegen die kalten Gitterstäbe presste, empfingen die Kinder den Eindruck einer unsäglichen, angsterfüllten Trauer – sie näherten sich fast respektvoll – »Was wollen Sie hier?« sagte der älteste und mutigste der Jungen.

»Ich – ich – ist das wohl Dale Cottage?«

»Es war Dale Cottage, jetzt ist es Hobbs' Lodge; Cottage und Lodge bedeuten beide »Landhaus«, Cottage bezeichnet die kleinere Variante. – Anm. d. Übers. können Sie nicht lesen?« sagte der Erbe von Hobbs' Geschlecht, indem er aus Geringschätzung für die Unwissenheit des Mädchens seinen ersten sympathischen Eindruck verwarf.

»Und – und – Mr. Butler, ist er auch weg?«

Armes Kind! sie sprach, als ob das Landhaus verschwunden sei anstatt vervollkommnet; die ionischen Säulen besaßen für sie keinen Reiz.

»Butler! – ein solche Person lebt hier nicht. Pa, weißt du, wo Mr. Butler lebt?«

Pa bewegte nun langsam seine Artillerie von redlich gerundetem Wanst und behäbigen Schenkeln auf den Konferenzort zu. »Butler, nein – ich kenne so einen Namen nicht – ein Mr. Butler lebt hier nicht. Fort mit Ihnen – schämen Sie sich nicht zu betteln?«

»Kein Mr. Butler!« sagte das Mädchen um Atem ringend und klammerte sich hilfesuchend ans Tor. »Sind Sie sicher, Sir?«

»Ja, das bin ich! – was wollen Sie von ihm?«

»Oh Papa, sie sieht ganz schwach aus!« sagte eines der Mädchen missbilligend -»lass ihr etwas zu essen geben; sie ist sicher hungrig.«

Mr. Hobbs sah ärgerlich aus, er war oft hereingelegt worden, und Reiche mögen keine Bettler. Aber dann wendete sich Mr. Hobbs zu dem leidvollen Gesicht der vermeintlichen Landstreicherin und danach zu seinem hübschen Kind – sein guter Engel flüsterte Mr. Hobbs' Herz etwas zu – nach einer Pause sagte er: »Gott verhüte, dass wir für ein armes Mitgeschöpf weniger fühlen als für uns selbst. Komm rein, Mädel, und nimm ein paar Happen zu essen.«

Das Mädchen schien ihn nicht zu hören, so wiederholte er die Einladung, während er sich näherte, um das Tor zu öffnen.

»Nein, Sir«, sagte sie da; »nein, ich danke Ihnen. Ich könnte jetzt nicht hinein kommen, ich könnte nichts essen. Aber sagen Sie mir, Sir, ich flehe Sie an, haben Sie denn gar keine Ahnung, wo ich Mr. Butler finden könnte?«

»Butler!« sagte Mrs. Hobbs, welche die Neugier hergelockt hatte. »Ich erinnere mich, dass das der Name des Gentleman gewesen war, der das Anwesen gemietet hatte und beraubt worden war.«

»Beraubt!« sagte Mr. Hobbs sich zurückziehend und schloss das Tor – »und die neue Teekanne ist eben erst ins Haus gekommen«, murmelte er in sich hinein … »Komm, verzieh dich, Kind – verzieh dich; wir wissen nichts von deinem Mr. Butlers.«

Die junge Frau starrte wild in sein Gesicht, warf einen raschen Blick über den veränderten Ort und zog dann mit einem Schauer, als ob Wind ihre zarte Figur zu rauh gestreift hätte, ihren Umhang enger um die Schultern und ging ohne ein weiteres Wort davon. Die Gesellschaft schaute ihr hinterher, als sie mit zitterndem Schritt die Straße unten weiterging, und alle fühlten jenen Stich der Scham, der das menschliche Herz trifft angesichts eines Elends, das es nicht zu lindern suchte. Aber dieses Gefühl wich plötzlich aus der Brust von Mrs. und Mr. Hobbs, als sie das Mädchen stehen bleiben sahen an einer Straßenkurve, die ihr das Tor vor die Augen brachte; und zum ersten Mal erkannten sie, was der abgetragene Umhang bisher verborgen hatte, dass das arme junge Mädchen einen Säugling in ihren Armen trug. Sie hielt ein und schaute liebevoll zurück. Sogar auf diese Entfernung war die Verzweiflung in ihren Augen erkennbar; und als sie dann ihre Lippen auf die Stirn des Säuglings drückte, hörten sie ein krampfhaftes Schluchzen – sie sahen sie sich abwenden, und fort war sie!

»Also, ich muss schon sagen!« meinte Mrs. Hobbs.

»Frohe Botschaft für die Gemeinde«, sagte Mr. Hobbs; »und sie ist noch so jung! – welch eine Schande!«

»Die Mädchen in dieser Gegend sind ziemlich schlecht heutzutage, Jenny«, sagte die Mutter zu der frisch Vermählten.

»Jetzt weiß ich, warum sie nach Mr. Butler verlangte«, sprach Hobbs mit wissendem Zwinkern – »die Schlampe ist zum Schwören Durch Schwur den Vater des Kindes zu dessen Anerkennung zu bringen. – Anm.d.Übers. gekommen!«

   

Und dafür hatte Alice sich stark und mutig gehalten – während der stechenden Schmerzen der Kindesgeburt, während einer ernsten, niederdrückenden Krankheit, welche sie für Monate nach ihrer Niederkunft niedergestreckt hatte auf einem Bauernbett (einem Gegenstand rauher, aber freundlicher Wohltätigkeit in einer irischen Hütte) – dafür hatte sie sich Tag um Tag zugeflüstert: »Ich werde gesund, und ich werde um meinen Weg zum Landhaus beten und ihn immer noch dort finden und ihm mein Kleines in seine Arme legen, und alles wird wieder gut«, – dafür hatte sie sich, sobald sie ohne Schmerzen laufen konnte, aus weiter Entfernung auf den Weg gemacht; dafür hatte sie, fast mit hündischem Instinkt (denn sie wusste nicht, welchen Weg sie einschlagen sollte, in welcher Grafschaft das Landhaus lag; sie kannte nur den Namen der benachbarten Stadt; und bevölkerungsreich, wie diese war, klang es seltsam für die Ohren derer, die sie fragte; oft genug war ihr ein falscher Weg gewiesen worden), – dafür, sage ich, hatte sie fast mit hündischem Instinkt durch Kälte und Hitze, hungrig und durstig, ihren traurigen, einsamen Weg zu ihres früheren Lehrmeisters Haus verfolgt! Dreimal war sie völlig übermüdet gewesen, und wiederum dreimal hatte sie erniedrigendes Mitleid auf sich genommen nur für ein Bett, um ihren fiebernden, zerrütteten Leib zu lagern. Und einmal war auch ihr Baby, ihr Liebling, den sie mehr als ihr Leben liebte, erkrankt – fast zu Tode; sie vermochte nichts zu tun, bevor der Säugling (es war ein Mädchen) wieder gesund war und ihr ins Gesicht lachen und krähen konnte.

Und so waren etliche Monate verstrichen, seit sie sich auf Wanderschaft zu ihrem Ziel begeben hatte. Doch niemals, außer wenn das Kind krank wurde, verzagte ihr Herz und verließ sie die Hoffnung. Sie konnte ihn wiedersehen, und er würde ihr Kind küssen. Und nun – nein –! ich vermag die Kraft dieses überwältigenden Schlages nicht zu beschreiben! Sie konnte sich nicht vorstellen, welch gütige Vorkehrungen Maltravers getroffen hatte; nur hatte er ihre gänzliche Weltunkenntnis nicht hinreichend einberechnet. Wie hätte sie daran denken sollen, dass der Magistrat, keine Meile von ihr entfernt, ihr alles hätte mitteilen können, wonach sie suchte. Hätte sie den Gärtner getroffen oder die alte Dienstmagd – alles wäre gut geworden! Nach diesen letzteren hatte sie sich tatsächlich vorgenommen zu fragen. Aber die Frau war tot, und der Gärtner war in fremde Dienste in einer entfernten Grafschaft getreten. Und so starb ihr letzter Hoffnungsfunke. Wenn nur eine Person, die sich an Maltravers' Suche erinnerte, ihr begegnet wäre und sie erkannt hätte! Aber nur so wenige hatten sie gesehen – und das hübsche, frische Mädchen hatte sich so traurig verändert! Ihr Rennen war noch nicht gelaufen, und manch scharfen Wind hatte der Kahn auf trübem Gewässer zu bestehen, bis schließlich der Hafen gefunden war.


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