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Kapitel III

»O Welt, du warst der Wald für diesen Hirsch,
………………………………………
Geschossen, liegst du hier!«

SHAKESPEARE , Julius Caesar, III,1

Als Lumley an seines Onkels Tür vom Pferd sprang, überraschten ihn die Unordnung und der Betrieb auf diesem Gut, wo das strenge Auge des Herrn gewöhnlich für eine so vollständig schweigsame Ruhe sorgte, als ob die Geschäfte des Lebens nach einem Uhrwerk abliefen. Auf dem kurz gehaltenen Rasen standen die alten Frauen, die sonst auf den Wegen das Unkraut jäteten, alle in einem Haufen versammelt, schüttelten ihre Köpfe ominös im Takt und machten in verworrenem Flüstern ihre Bemerkungen. In der Vorhalle stützte sich die Hausmagd (und es war die erste Hausmagd, die Lumley in diesem Haus je gesehen hatte, so unsichtbar arbeiteten die Räder des häuslichen Getriebes) auf ihren Besen und »verschlang offenen Mundes eines Dieners Bericht«. Es war, als ob beim ersten Lockern des straffen Zügels die menschliche Natur sich losriss aus der klösterlichen Stille, in der sie in diesem förmlichen Hause ihren friedvollen Pfad gewandelt war.

»Wie geht es ihm?«

»Mylord geht es besser, Sir. Er hat, glaube ich, gesprochen.«

In diesem Augenblick schaute ein junges Gesicht, rot geschwollen vom Weinen, von der Treppe herab; und sogleich stürzte Evelyn atemlos in die Vorhalle.

»Oh, kommen Sie herauf, kommen Sie herauf, Cousin Lumley; er kann und darf in Ihrer Gegenwart nicht sterben: Sie sind immer so voller Leben! Er darf nicht sterben! Sie glauben doch nicht, dass er stirbt? Oh, nehmen Sie mich mit, sie wollen mich nicht zu ihm lassen!«

»Still, mein liebes kleines Mädchen, still! Folge mir leise – so ist recht.«

Lumley gelangte zur Tür, klopfte leise an – trat ein; und das Kind stahl sich ebenfalls unbemerkt oder wenigstens unbehindert herein. Lumley zog die Vorhänge zur Seite. Der neue Lord lag auf seinem Bett, der Kopf mit Kissen gestützt, die Augen weit geöffnet in einem gläsern-starren, aber nicht bewusstlosen Blick, sein Gesicht furchtbar verändert.

Lady Vargrave kniete auf der anderen Seite des Bettes, eine Hand umklammerte die ihres Gatten, die andere wusch seine Schläfen, während ihr die Tränen ohne Schall und Schluchzen rasch und reichlich ihre bleichen Wangen herabrannen.

Zwei Doktoren berieten sich in der Fenstervertiefung, ein Apotheker mischte Medizin an einem Tisch, und zwei der ältesten Dienerinnen des Hauses standen in der Nähe der Ärzte, um deren Gespräch zu belauschen.

»Mein lieber, lieber Onkel, wie geht es Ihnen?« fragte Lumley.

»Ach, dann sind Sie gekommen«, sagte der Sterbende mit kraftloser, aber klarer Stimme. »Das ist gut. Ich muss Ihnen vieles sagen.«

»Aber nicht jetzt – nicht jetzt – Sie sind nicht stark genug«, sagte die Gattin flehend.

Die Doktoren traten ans Bett. Lord Vargrave winkte und hob das Haupt.

»Meine Herrn«, sagte er, »ich fühle den Tod sich mir nähern. Es ist mir ein großes Bedürfnis, solange ich noch meine Sinne beieinander habe, mich mit meinem Neffen zu unterhalten. Ist dies dafür die passende Zeit? Wenn ich es aufschiebe: sind Sie sicher, dass es noch eine andere geben wird?«

Die Doktoren schauten einander an.

»Mylord«, sagte der eine, »es könnte vielleicht Ihr Gemüt entlasten und beruhigen, wenn Sie sich mit Ihrem Neffen unterhalten. Danach könnten Sie leichter Schlaf finden.«

»Dann nehmen Sie jetzt dieses Stärkungsmittel«, sagte der andere Doktor.

Der Kranke gehorchte. Einer der Ärzte näherte sich Lumley und nahm ihn beiseite.

»Sollen wir seiner Lordschaft Rechtsanwalt holen«, flüsterte der Arzt.

»Ich bin sein gesetzlicher Erbe«, dachte Lumley. »Ach nein, werter Herr, – nein, ich glaube nicht, es sei denn er wünscht ausdrücklich ihn zu sehen. Zweifellos hat mein Onkel bereits seine weltlichen Angelegenheiten geregelt. Wie ist sein Zustand?«

Der Doktor schüttelte den Kopf. »Ich werde mit Ihnen sprechen, Sir, nachdem Sie seine Lordschaft verlassen haben.«

»Was ist da los?« rief der Patient scharf und zänkisch. »Verlasst den Raum – ich will mit meinem Neffen allein sein.«

Die Doktoren verschwanden, die alten Frauen folgten widerstrebend; da sprang plötzlich die kleine Evelyn hervor und warf sich schluchzend, als ob ihr Herze breche, auf die Brust des Sterbenden.

»Mein armes Kind! Mein süßes Kind! Du mein teurer Liebling!« keuchte Lord Vargrave heraus und nahm sie in seine entkräfteten Arme. »Gott segne dich – segne dich! – Und er wird dich segnen. Meine Gattin«, setzte er hinzu mit einer viel zärtlicheren Stimme, als ihn Lumley je hatte zu Lady Vargrave sprechen hören, »wenn dies meine letzten Worte zu Ihnen sind, so sollen sie alle Dankbarkeit ausdrücken, die ich für Sie fühle, denn niemand hat je seine Pflichten frommer erfüllt: Sie haben mich nicht geliebt, das ist wahr, und dieses Wissen hat mich, solange ich stolz und gesund war, oft ungerecht gegen Sie sein lassen. Ich war streng – Sie mussten viel ertragen – vergeben Sie mir!«

»Oh, sprechen Sie nicht so. Sie waren edler, gütiger, als ich verdiente. Wieviel schulde ich Ihnen – wie wenig habe ich es vergolten!«

»Ich ertrage das nicht. Verlassen Sie mich, meine Liebe, verlassen Sie mich. Ich werde vielleicht noch leben – ich hoffe es – ich will noch nicht sterben. Der Kelch geht vielleicht an mir vorüber. Gehen Sie, gehen Sie – und auch du, mein Kind.«

»Ach, lassen Sie mich bleiben.«

Lord Vargrave küsste das kleine Geschöpf, und sie schmiegte sich leidenschaftlich an seinen Hals. Dann gab er sie zurück in die Arme ihrer Mutter und fiel erschöpft auf sein Kissen zurück. Lumley öffnete mit dem Taschentuch an seinen Augen der bitterlich schluchzenden Lady Vargrave die Tür, schloss sie sorgfältig und begab sich wieder zu seinem Platz beim Onkel.

Als Lumley Ferrers den Raum verließ, war sein Gesicht weniger traurig als düster und erregt. Er eilte zu dem Zimmer, das er gewöhnlich bewohnte, und blieb dort für einige Stunden, während sein Onkel schlief – ein langer und fester Schlaf. Aber die Mutter und das Stiefkind, nun wieder im Krankenzimmer, verließen ihren Posten nicht.

Etwa eine Stunde vor Mitternacht suchte der ältere Arzt den Neffen auf.

»Ihr Onkel verlangt nach Ihnen, Mr. Ferrers; und ich halte es für meine Pflicht, Ihnen zu sagen, dass seine letzten Augenblicke nahen. Wir taten alles, was getan werden kann.«

»Ist er sich voll seiner Lage bewusst?«

»Ja, und er hat die letzten beiden Stunden im Gebet verbracht, er stirbt wie ein Christ, Sir.«

»Hm!« meinte Ferrers, als er dem Arzt folgte.

Der Raum war abgedunkelt, eine einzige, sorgfältig beschattete Lampe brannte auf dem Tisch, auf dem das Buch des Lebens im Tode lag, und mit ehrfürchtig-schmerzlichen Gesichtern knieten Mutter und Kind neben dem Bett.

»Kommen Sie her, Lumley«, sprach stockend der rasch sterbende Mann. »Seid jetzt nur noch ihr drei hier – die mir nächsten und liebsten? – Das ist gut. Dann also, Lumley, Sie wissen alles – meine Gattin, er weiß alles. Mein Kind, gib deinem Cousin deine Hand – so seid ihr nun verlobt. Wenn du erwachsen bist, Evelyn, wirst du erfahren, dass es mein letzter Wunsch und mein letztes Gebet gewesen ist, dass du die Gattin von Lumley Ferrers wirst. Indem ich dir diesen Engel gebe, Lumley, gleiche ich alles dir scheinbar zugefügte Unrecht aus. Und zu dir, mein Kind, ich sichere den Rang und die Würde, die ich mühevoll erklommen habe und die zu genießen mir nicht gestattet ist. Seien Sie freundlich zu ihr, Lumley – Sie haben ein gutes, freimütiges Herz – möge es ihre Zuflucht sein – sie hat nie ein böses Wort gehört. Gott segne euch alle, und Gott vergebe mir – betet für mich. Lumley, morgen werden Sie Lord Vargrave sein, und irgendwann« (hier huschte ein geisterhaftes, aber frohlockendes Lächeln über die seine Züge), »wirst du Mylady – Lady Vargrave. Lady – so – so – Lady Var…«

Die Worte erstarben auf seinen zitternden Lippen. Er drehte sich um, und obwohl er noch über eine Stunde zu atmen fortfuhr, äußerte Lord Vargrave keine Silbe mehr.


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