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Kapitel XV

»Scharfsinnig, kühn, ein Wirbelwind an Witz,
Rastlos – gelöst von Regelwerk und Raum.«

DRYDEN

   

»Wer sich sehr viele Gedanken aneignet, für die sich die Gesellschaft, in der er lebt, interessiert, wird von dieser Gesellschaft als begabt betrachtet.«

HELVETIUS

Gerade als es Ernest Maltravers so schlecht ging, dass es nicht schlimmer werden konnte, besuchte ein junger Mann Temple Grove. Sein Name war Lumley Ferrers, er war etwa fünfundzwanzig, sein Vermögen betrug achthundert im Jahr – er verfolgte keine berufliche Tätigkeit. Lumley Ferrers besaß nicht, was gewöhnlich Genie genannt wird; das heißt, er war ein Mensch ohne Enthusiasmus; und sofern man den Begriff Talent zutreffend deutet als die Fähigkeit, etwas besser als andere zu tun, konnte er nicht viel in dieser Beziehung vorweisen. Er hatte weder Talent zum Schreiben noch zur Musik oder zur Malerei oder zu irgendeiner anderen Fertigkeit; ebensowenig hatte er bisher viel von einem festen und nützlichen Talent für Handel und Geschäft unter Beweis gestellt. Aber Ferrers besaß, was oft besser ist als Genie oder Talent; er hatte einen kraftvollen und sehr scharfen Verstand.

Darüber hinaus war sein Verhalten lebhaft, er strotzte vor Lebensfreude, war witzig, ungewöhnlich und schwungvoll in der Konversation und zeigte entschlossene Sicherheit und tiefes Vertrauen in seine eigenen Kräfte. Er liebte Pläne, Taktiken und Intrigen – sie vergnügten und erregten ihn – groß war auch sein Vorrat an Sarkasmen und Argumenten, und gewöhnlich hatte er einen erstaunlichen Einfluss auf diejenigen, die mit ihm in Kontakt kamen. Seine Lebensfreude und sein heiterer Freimut verbargen die bestimmenden Kräfte seines Charakters: ein dickes Fell in allen Gefühlsdingen und Unempfindlichkeit in der Moral. Obwohl weniger gebildet als Maltravers, war er im Ganzen ein gut unterrichteter Mann. Er beherrschte viele Wissenschaften oberflächlich, war zufrieden mit ihren allgemeinen Grundlagen und warf das Studierte beiseite, ohne es je zu vergessen (denn sein Gedächtnis arbeitete wie ein Schraubstock), aber auch ohne es je weiter zu verfolgen. Hierzu kamen allgemeine Kenntnisse dessen, was gemeinhin als Kanon maßgeblicher antiker und moderner Literaturwerke geläufig ist. Was nur von wenigen bewundert wird: Lumley machte sich niemals die Mühe zu lesen.

Die Kleinigkeiten, unter denen er lebte, machte er interessant und neuartig durch seine Art der Betrachtung und Behandlung. Und hier bestand in der Tat ein Talent – es war das Talent gesellschaftlichen Lebens – das Talent, sich bis zum Äußersten zu vergnügen, möglichst ohne Mühe auf seiner Seite. Gleichwohl war Lumley Ferrers genau einer jener Menschen, die jeder als ausgesprochen klug bezeichnet, und dennoch würde es Kopfzerbrechen bereiten zu benennen, worin er denn so klug sei. Es war tatsächlich jene namenlose Kraft, die zur Begabung gehört und die einen Menschen im Ganzen anderen überlegen macht, wenn auch im Einzelnen keineswegs bemerkenswert.

Ich glaube, Goethe sagt irgendwo, indem wir das Leben der größten Genies studieren, finden wir immer, dass sie bekannt waren mit einigen Menschen, die ihnen selbst überlegen waren, die es dennoch niemals zu einer umfassenden Anerkennung brachten. Zur Klasse dieser geheimnisvoll überlegenen Menschen könnte Lumley Ferrers gehört haben; denn obwohl ein gewöhnlicher Journalist ihn geschlagen hätte in der Kunst des Aufsatzes, hätten sich nur wenige Menschen von Genie, wie herausragend auch immer, Ferrers überlegen gefühlt im fertigen Zugriff und schmiegsamen Elan seines angeborenen Scharfsinns.

Es bleibt von diesem eigentümlichen jungen Mann, dessen Charakter doch nicht einmal halb entwickelt war, nur noch zu sagen, dass er bereits einen Großteil der Welt gesehen hatte und leicht mit allen Gemütern oder sozialen Rängen zurecht kam; Fuchsjäger oder Gelehrte, Rechtsanwälte oder Dichter, Patrizier oder parvenus, für Lumley Ferrers war dies alles eins.

Ernest befand sich wie gewöhnlich in seinem eigenen Zimmer, als er im Flur draußen all die undefinierbaren geschäftigen Geräusche hörte, die eine Ankunft ankündigen. Als nächstes kam ein schallendes Lachen und dann eine scharfe, klare, lebhafte Stimme, die in seine Ohren wie ein Dolch drang. Ernest war sofort aufgerüttelt zu der ganzen Erhabenheit empörten Missmuts. Er ging hinaus auf die Terrasse des Portikus, um der Wiederholung dieser Störung aus dem Wege zu gehen, und zog sich wieder zurück in seine hypochondrischen Träumereien. Indem er auf dem Teil des Peristyls, der den zurückgezogeneren Flügel des Hauses einnahm, hin und her schritt, – mit verschränkten Armen, die Augen zu Boden gerichtet, die Brauen zusammengezogen und ganz wie ein finsterer Engel in seiner Miene, die früher ausgesehen hatte, als ob sie wie die Wahrheit den Teufel beschämen und der Welt trotzen könne – folgte Ernest dem schlimmen Gedanken, der ihn beherrschte, durch das Tal der Schatten. Plötzlich gewahrte er etwas – ein Hindernis, das er früher nicht bemerkt hatte. Er erstarrte und sah vor sich einen jungen Mann in schlichter Kleidung, dem Anschein nach ein Gentleman und von bemerkenswerter Gelassenheit.

»Mr. Maltravers, glaube ich«, sagte der Fremde, und Ernest erkannte die Stimme, die ihn so gestört hatte, »das ist schön; dann können wir uns bekannt machen, denn Mr. Cleveland möchte wohl, dass wir Freunde werden. Mr. Lumley Ferrers, Mr. Ernest Maltravers. Nun gut, ich bin der Ältere, also biete ich zuerst meine Hand und grinse anständig. Man grinst immer, wenn man eine neue Bekanntschaft macht! Gut, das haben wir. Wo gehen Sie lang?«

Maltravers konnte, wenn er wollte, so würdevoll sein, als ob er niemals aus England herausgekommen wäre. Er straffte sich in freudlosem Erstaunen, entzog seine Hand Ferrers' Griff, sagte sehr kühl: »Entschuldigen Sie mich, Sir, ich bin beschäftigt«, und stapfte zurück zu seinem Zimmer. Er warf sich in seinen Sessel und vergaß sogleich seine kürzliche Belästigung, als er, zu seinem unaussprechlichen, zornigen Erstaunen, wieder die scharfe, klare Stimme neben sich hörte.

Ferrers war ihm durch die Fenstertür in den Raum gefolgt. »Sie sind beschäftigt, sagen Sie, mein lieber Freund. Ich muss einige Briefe schreiben; wir werden einander nicht unterbrechen – lassen Sie sich nicht stören.« Und Ferrers setzte sich an den Schreibtisch, tauchte eine Feder in die Tinte, richtete Löschpapier und Schreibbogen und war bald damit beschäftigt, Seite um Seite mit dem schnellsten, hieroglyphischsten Gekrakel zu bedecken, das je eine Lehrerin in Beschlag nahm oder eine Fliege verwirrte.

»Der eingebildete Schnösel!« knurrte Maltravers halblaut, nun ganz wach, und als er mit einiger Neugier diesen dreisten Eindringling begutachtete, musste er sich eingestehen, dass die Miene Ferrers nicht die eines Schnösels war.

Eine Stirn, kompakt und solide wie ein Granitblock, überwölbte kleine, helle, intelligente Augen von lichtem Nussbraun; die Züge waren hübsch, jedoch eher zu scharf und fuchsähnlich; die Haut, wiewohl nicht sehr gefärbt, besaß jene robuste, gesunde Tönung, die im Allgemeinen eine widerstandsfähige Konstitution anzeigt und hohe Vitalität; der Kiefer war wuchtig und verriet einem Physiognomen Festigkeit und Stärke des Charakters; aber die Lippen, voll und groß, waren die eines sinnlichen Menschen, und ihr rastloses Spiel, ein gewohnheitsmäßiges halbes Lächeln, sprach von Heiterkeit und Humor, obgleich sie in Ruhe etwas Hinterhältiges und Unheimliches hatten.

Maltravers schaute in ernstem Schweigen auf ihn; als Ferrers indes seinen vierten Brief beendet hatte – bevor ein anderer seine erste Seite fertig gehabt hätte –, die Feder niederwarf und mit einem gutgelaunten, aber durchdringenden Blick voll auf Maltravers schaute, war etwas so Skurriles im Gesichtsausdruck des Eindringlings und sogar in der ganzen Szene, dass Maltravers sich auf die Lippen beißen musste, um ein Lächeln zu unterdrücken, das erste seit Wochen.

»Ich sehe, Sie lesen, Mr. Maltravers«, sagte Ferrers, sich sorglos über die Bände auf dem Tisch beugend. »Ganz recht: wir sollten das Leben mit Büchern beginnen; sie vervielfachen die Quellen der Beschäftigung; so ist es auch mit dem Kapital; – aber Kapital ist nutzlos, es sei denn man lebt von seinen Zinsen, – Bücher sind verschwendetes Papier, wenn man nicht die Klugheit ihrer Gedanken in Handlung umsetzt. Handlung, Maltravers, Handlung; das ist das Leben für uns. In unserem Alter hat man Leidenschaft, Fantasie, Gefühl; wir können sie nicht weglesen oder wegschreiben; – wir müssen von ihnen großzügig, aber ökonomisch leben.«

Maltravers war geschlagen; der Eindringling war nicht der leere Langweiler, als den er beliebt hatte ihn sich vorzustellen. Er ermunterte sich, lustlos zu antworten: »Leben, Mr. Ferrers …«

»Halt, mon cher, halt, nennen Sie mich nicht Mister; wir sollen Freunde sein; ich hasse es, etwas zu verzögern, was sein muss, sogar durch einen unnötigen Zweisilbler; Sie sind Maltravers, ich bin Ferrers. Aber Sie wollten über das Leben sprechen. Schlage vor, wir leben eine kleine Weile, anstatt darüber zu reden? Bis zum Dinner ist's noch eine Stunde; streifen wir durch die Anlagen; ich möchte Appetit bekommen; – nebenbei, ich mag Natur, sofern es keine Schweizer Berge zu erklimmen gibt, bevor man einen Ausblick erreichen kann. Allons

»Verzeihen Sie …« begann Maltravers wieder, halb interessiert, halb gelangweilt.

»Ich lasse mich erschießen, wenn ich das tue. Kommen Sie.«

Ferrers gab Maltravers seinen Hut, schob seinen Arm unter den seiner neuen Bekanntschaft, und schon waren sie auf der breiten Terrasse am See, bevor Ernest es bewusst wurde.

Wie lebhaft, wie exzentrisch, wie leicht war Ferrers' Rede (denn Rede war es, mehr als Konversation, da er allein Herr der Lage war); Bücher, Menschen, Dinge – er schleuderte sie hin und her und spielte mit ihnen wie mit Federbällen; und dann seine selbstgefällige Erzählung von einem halben Hundert Abenteuern, in denen er der Held gewesen war, doch so erzählt, dass man über ihn lachte und mit ihm lachte.


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